Die Abwertung des Opfers

»Der hat doch selbst Schuld!« Dieser Satz ist äußerst wirksam, um das eigene unfaire Verhalten zu rechtfertigen. Denn wenn der andere schuld ist, können wir nicht schuld sein. Ganz einfach. Wir haben uns nur verteidigt.

Das Unrecht, behaupten wir mit diesem Satz, sei in Wirklichkeit kein Unrecht, sondern vielmehr eine Form gerechter Rache oder Strafe. Durch diese subtile Alchemie verwandelt sich ein Täter in ein sich wehrendes Opfer – und der Leidtragende wird zum Übeltäter, der Strafe verdient!

Ein böser und sehr effektiver Mechanismus. Im Allgemeinen erfolgt die Umdeutung von Opfer und Täter über verleumderische Zuschreibungen. Diese können ganz unterschiedlich geprägt sein – vor allem sind sie aber eines: individuell. In erster Linie werden persönliche Eigenheiten, die nicht in den Mainstream einer Abteilung oder eines Unternehmens passen, aufgegriffen und wortgewaltig aufgebauscht. Aus dem zurückhaltenden Kollegen, der aus Schüchternheit etwas wortkarg ist, wird so zum Beispiel ein arroganter Snob, der sich für etwas Besseres hält und darum nicht mit jedem spricht. Diese Strategie kommt dem Mobbing beziehungsweise dem Bossing sehr nah.

|204|Sobald verleumderische oder irritierende Zuschreibungen im Unternehmen über Sie kursieren, gilt es, mithilfe des eigenen Netzwerkes sofort hart gegenzusteuern. Ohne die Unterstützung Dritter sehen Sie sonst womöglich dem Ende Ihrer Karriere entgegen. Überlassen Sie dem Angreifer nicht die Definitionsgewalt (so der Fachbegriff)!

Frau Sonnefeld steht kurz davor, Partnerin zu werden in dem international aufgestellten, äußerst renommierten Architekturbüro, für das sie schon seit Jahren arbeitet. Branchenweit gilt das als eine beneidenswerte Position – viel höher kann man kaum klettern.

Wer Frau Sonnefeld kennt, gönnt es ihr von Herzen: Sie ist eine kultivierte Frau, 43 Jahre alt, von hoher fachlicher Kompetenz, elegant und ein überzeugter, aber unaufdringlicher Workaholic. Bei aller Leistungsbereitschaft strömt sie eine Leichtigkeit aus, als erledigte sie ihr äußerst hohes Arbeitspensum ohne jede Mühe. Man ist gern in ihrer Nähe, denn durch ihr freundlich-bestimmtes, dabei höflich-zurückhaltendes Auftreten entschärft sie jede aggressiv aufgeheizte Stimmung, denn in ihrer Nähe möchte man sich einfach gut benehmen.

Doch kurz vor ihrem entscheidenden Karriereschritt kommen ihr Gerüchte zu Ohren, die über sie im Unternehmen kreisen: Es heißt, sie wolle Spätgebärende werden.

Frau Sonnefeld hat in der Tat keine Kinder – und sie hat auch nicht die Absicht, noch welche zu bekommen. Diese Gerücht, das jeder Grundlage entbehrt, könnte sie die Partnerschaft kosten – denn schließlich zählen dafür ihre Leistungsbereitschaft und ihr unbedingtes Engagement für ihre Projekte. Schenkte die Geschäftsleitung dem Gerücht Glauben, könnten Zweifel an den künftigen Prioritäten von Frau Sonnefeld entstehen.

Es gilt also, sich den Verleumdungen mit aller Macht entgegenzustellen. Obwohl es nicht ihr Niveau ist, kontert Frau Sonnefeld mit einer |205|Lüge: Sie lanciert im Gegenzug, dass sie tief, tief getroffen ist von dem Gerücht, sie wolle Mutter werden, denn – und an dieser Stelle senken sich die tuschelnden Stimmen verschwörerisch – seit ihrem 32. Lebensjahr könne sie keine Kinder mehr bekommen.

Die Strategie geht auf – dank beherzter Gegenwehr und genügend Verbündeten, die helfen, ihre Geschichte an den richtigen Stellen zu streuen, kann Frau Sonnefeld dem Gerücht den Boden entziehen. Ihrer Partnerschaft steht nichts mehr im Wege.

 

Auch wenn dieses Kapitel ein düsteres Bild entwirft: Keine Sorge, im Großen und Ganzen ist die Berufswelt nicht so schlecht, wie ich sie hier geschildert habe. In den meisten Fällen geht es gesittet, fair und gerecht zu. Das ist allerdings kein Grund, naiv darauf zu vertrauen, dass es auch so bleiben wird.

Ihre Kenntnis der Neutralisierungstechniken hilft Ihnen zu erkennen, wann es ernst wird. Wenden Ihre Vorgesetzten, Mitkonkurrenten oder Gegenspieler eine oder mehrere dieser Strategien an, ist das ein Zeichen, dass es moralisch bedenklich wird und Sie sich wappnen sollten – getreu dem Motto: erkennen, durchschauen, abwehren.