Die vierte Analyse: Ihre Biss-Bremsen

Warum ist man manchmal zu höflich? Warum lässt man sich abspeisen und bloßstellen? Warum geht man nicht selbstbewusst dagegen an, sondern frisst den Ärger in sich hinein oder quält am Abend Partner, Kinder, Haustiere? Warum wehrt man sich nicht gegen unberechtigte Kritik?

Hinter dieser Zurückhaltung steckt häufig Angst – und diese wirkt wie eine Biss-Bremse. Man fürchtet sich vor den Konsequenzen, die folgen könnten, wenn man »das Maul aufreißen« würde. »Als Dame sollte man das nicht tun«, so die Ausrede einer Chemie-Managerin, die es mit diesem kultivierten Selbstverständnis ihren Gegenspielern leicht macht. Die Biss-Bremse impliziert, dass Kritik und Gegenwehr die Eigenschaft eines Bumerangs innehat, der weit hinausfliegt, nur um am Ende wieder den eigenen Kopf zu treffen! In der Fantasie malen sich diese Zeitgenossen Konsequenzen aus, die so verletzend sind, dass sie lieber den Mund halten, als derart schmerzhafte Reaktionen zu provozieren. Das heißt, die Biss-Bremse hat ihren Grund in etwas, vor dem man am liebsten die Augen verschließen möchte. Die Biss-Bremse fragt

  • nach der Schuld, die man absichtlich oder unabsichtlich im Leben auf sich geladen hat;

  • |121|nach den Fehlern, die man im Leben bewusst oder unbewusst begangen hat und die man bereut;

  • nach den Fehlentscheidungen, die man getroffen hat und mit deren bösen Folgen man nun leben muss;

  • nach den Verletzungen, die man erlitten oder anderen zugefügt hat und unter denen man bis heute leidet.

Der berühmte Psychodramatiker Jakob L. Moreno spricht von »unerledigten Geschäften«, die unsere Psyche beschäftigt halten und die man erst dann abschließen kann, wenn man seinen Frieden damit gemacht hat. Vielleicht durch eine Entschuldigung, vielleicht durch eine Wiedergutmachung, vielleicht durch ein persönliches Gespräch oder einen Brief, mit dem man versucht, wieder ins Reine zu kommen. »Unerledigte Geschäfte« sind etwas sehr Persönliches, und ihr Rumoren in der Psyche schüchtert ein und bremst aus. Aus Angst davor, dass diese wunden Punkte in einer beruflichen Auseinandersetzung berührt werden, lassen viele Menschen ihre notwendige Kritik lieber unter den Tisch fallen. Das ist menschlich verständlich, aber ärgerlich, denn diese Passivität und Zurückhaltung wird schnell als Durchsetzungsschwäche ausgelegt.

Leider zu Recht! Darum ist es gut zu wissen, dass es ein probates Mittel gegen die Biss-Bremse gibt, das Ihnen hilft, angstfrei in Konflikte zu gehen, bei denen eindeutig ist, dass es krachen wird. Dieses Gegenmittel entfaltet seinen Charme allerdings erst auf den zweiten Blick. Es verlangt die schonungslose Beantwortung folgender Frage: »Welches Feedback würde Sie aus tiefster Seele verletzen?«

Die Antworten auf diese Frage sind sehr persönlich und vielfältig. Äußerst schmerzhaft kann es sei, wenn jemand

  • die Schuld anspricht, die man sich gegenüber den eigenen Kindern aufgeladen hat (Rabenmutter-Syndrom);

  • |122|die Konflikte aufrührt, die man mit den eigenen Eltern nie ausgetragen hat – und die einen nach wie vor belasten;

  • äußere Merkmale und Makel verhöhnt, die einen schmerzen – weil man zu dick oder zu dünn ist, eine Missbildung hat oder unter dem Älterwerden leidet;

  • auf persönliche Defizite (wie Legasthenie) hinweist, die sich zum Komplex ausgewachsen haben.

Ein harmlos klingendes, aber in seiner Wirkung beeindruckendes Beispiel bietet uns ein renommierter Politikwissenschaftler:

 

Der war mit 17 unsterblich in ein Mädchen verliebt, das nach seinen Angaben »drei Nummern zu groß« für ihn war. Zu seiner Freude erwiderte das Mädchen die Liebe, machte aber nach drei Monaten mit ihm Schluss. Unvermittelt sagte sie – und diese Worte sollten unserem Mann lange zu schaffen machen: »Ich mache Schluss mit dir – wegen deiner Wurstfinger!« Sein Entsetzen über ihren abrupten Schlussstrich war groß und die Langzeitwirkung des Kommentars erstaunlich: Bei der mündlichen Abiturprüfung, bei Referaten im Studium und später bei Kongressvorträgen verschränkte er sein Finger, legte sie auf den Rücken oder unter die Tischplatte, sodass niemand einen Blick auf sie erhaschen konnte. Er berichtete sogar von der Präsentation seines ersten Buches, bei der er sich nicht vor Verrissen fürchtete. Angst habe er nur vor folgender Rückmeldung eines imaginären Kritikers gehabt: »Sie haben ein ausgezeichnetes Fachbuch geschrieben. Große Klasse. Aber erstaunlich ist, dass es mit dem Schreiben so geklappt hat – bei Ihren Wurstfingern!« Erst die Biss-Analyse befreite ihn mit Mitte Dreißig von diesem Komplex! Spät, aber nicht zu spät!

 

Die ehrliche Biss-Analyse – und das sollte Sie nicht irritieren – schwächt im ersten Moment. Sie sehen wie unter dem Vergrößerungsglas die eigene Verletzlichkeit. Das schmerzt, und Sie |123|fühlen sich klein und zerbrechlich. Aber dann gilt es, den Spieß kognitiv umzudrehen. Jetzt stellen Sie Ihr Denken sozusagen auf den Kopf: Beziehen Sie aus Ihrer größten Wunde Stärke! Wenn Sie sich vor Augen halten, das diese Anklage, diese Unterstellung, die Verletzung das Schlimmste ist, was Ihnen verbal angetan werden kann, dann werden Sie diese Erkenntnis als ungemein befreiend empfinden. Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Die Höchststrafe, das Gemeinste, das Ihnen zugemutet werden kann, ist damit bekannt – und verliert seinen Schrecken! Sie haben im Auge des Kritik-Hurrikans das furchtbarste Feedback gesehen, das es für Sie geben kann. Das war es. Mehr gibt es nicht. Das Faszinierende daran ist: Haben Sie diese Erkenntnis gewonnen, geht die Angst vor kritischen Zurechtweisungen verloren! Das hat sehr wohltuende Konsequenzen: Künftig werden Sie sich konfliktbeladenen Situationen im Beruf sehr viel entspannter stellen. Sie haben das Schlimmste bereits hinter sich. Alles was nun kommt, sind Kinkerlitzchen. Daher empfehle ich Ihnen: Wenn Sie schon am Morgen wissen, dass der Tag viel Ärger bereithält, dann stellen Sie sich vor einen Badezimmerspiegel und sagen Sie laut und deutlich: »Komm Tag, gib es mir! Mach mich fertig! Immer rein in meine Wunden, die ich kenne und die so richtig schmerzen!« Nach dieser – zugegebenermaßen – etwas masochistischen Prozedur gehen Sie gestählt ins Büro. Der Konflikt, die Gemeinheiten können kommen. Ihre Gegenspieler geben sich richtig Mühe, Sie zu konfrontieren – aber die entscheidenden Schwachpunkte treffen sie nicht. Die geäußerte Kritik prallt an Ihrer Gelassenheit ab. So richtig nehmen Sie den Konflikt auch gar nicht wahr, weil Sie auf die Höchststrafe warten – aber die erfolgt nicht! Darüber sind Sie fast ein bisschen enttäuscht: Von Ihrem Kontrahenten hätten Sie mehr erwartet! Ihre Gegenspieler irritiert solch stoische Gelassenheit – sie wissen ja nicht, dass sie mit |124|ihrer Kritik daneben treffen. »Die hat Einstecker-Qualitäten«, wird gemunkelt, und das stimmt!

Wer seine tiefsten Geheimnisse und Verletzlichkeiten kennt, der kann Kritik gelassen entgegensehen.

Ziehen Sie sich zurück und überlegen Sie in schonungsloser Offenheit gegenüber sich selbst: Was würde Sie am stärksten verletzen? Gibt es einen Konflikt in der Vergangenheit, der Sie immer noch belastet, weil Sie Schuld auf sich geladen haben? Gibt es eine Situation, die Ihnen immer noch Schweißperlen und Schamröte ins Gesicht treibt? Fixieren Sie diese Situation schriftlich. Was konkret trifft Sie? Die Aussage eines geliebten Menschen? Ihr Verhalten? Das Verhalten anderer? Je genauer Sie für sich selbst erfassen können, was Sie fürchten, umso besser sind Sie gewappnet. Am Ende verbrennen Sie Ihre Aufzeichnungen sorgfältig, damit niemand von Ihrer Schwachstelle erfährt.

Sollte zufälligerweise doch jemand Ihre wunde Stelle treffen, haben Sie zwei Reaktionsmuster zur Verfügung: Erstens sollten Sie diesem Menschen zukünftig aus dem Weg gehen, da er offensichtlich ein hoch sensibles Gespür für Sie hat. Auf diese Nähe sollten Sie im Job verzichten. Die gehört eindeutig in die Privatsphäre. Zweitens könnten Sie diese Person heiraten, denn es wird kaum einen zweiten Menschen geben, der mehr Fingerspitzengefühl für Sie entwickeln dürfte.

Vor einem Punkt muss dringend gewarnt werden: Teilen Sie absolut niemandem Ihre tiefsten Verletzlichkeiten mit! Egal wie nah und vertraut Ihnen Ihre Kollegen sind – das sind Geheimnisse, die Sie auf jeden Fall für sich behalten sollten. Fragt man Sie dennoch danach, etwa in einem Persönlichkeitsseminar, |125|sind Sie vermutlich bei einer Psycho-Sekte gelandet. Die nutzt diese intimen Kenntnisse, um ihre Anhänger in eine psychische Abhängigkeit zu treiben. Verlassen Sie sofort den Raum. Wer Ihre größten Schmerzstellen kennt, kann dies ausnutzen und Sie gefügig machen. Das ist unbedingt zu vermeiden!

Gleiches gilt für private Beziehungen. Die Ergebnisse der Biss-Analyse sollten Sie weder besten Freundinnen oder Freunden, noch (Ehe-)Partnern verraten. In Zeiten schwerer Beziehungskrisen – und die durchläuft so gut wie jede langjährige Partnerschaft – wird dieses Wissen gerne gegeneinander verwendet. Zwar entschuldigt man sich meist am nächsten Tag wieder, doch das Verzeihen fällt nach so einer Verletzung schwer. Hier lehrt die Realität: Welche verbalen Waffen im Streit auch immer zur Verfügung stehen – sie werden genutzt, egal wie schmerzhaft dies ist.

Auch die kriminologische Opferlehre, die Viktimologie, weiß das: Benutzt wird, was vorhanden ist. So wird dringend vor der Waffe im Nachtschrank gewarnt, mit der der potenzielle Einbrecher in die Flucht geschlagen werden soll. Fakt ist: Nur selten wird sie gegen einen Kriminellen eingesetzt, sondern meist gegen den eigenen Partner oder die eigene Person (beispielsweise durch den Gatten) verwendet. Ohne die Schusswaffe hätte der zum Nudelholz greifen müssen. Sicher die bessere Alternative!

Entsprechend gilt für die Biss-Bremse: schonungslos die eigenen Verletzlichkeiten sowie Angriffspunkte analysieren und über das Ergebnis schweigen wie ein Grab. Das ist letztlich ein geringer Preis für einen souveräneren Umgang mit Kritik! Fest steht: Wer seine Biss-Bremse löst, fährt zügiger und angstfreier. Er stärkt seine Einsteckerfähigkeiten und lässt sich nicht so schnell von harten Angriffen verunsichern. Sie werden durchsetzungsstärker und gelassener. Entspannt auftreten, trotz verbalen Bombardements: das hat Größe!