27

Farentinos Worte trafen Max bis ins Mark. Er hatte sich zu lange aufhalten lassen. Die Plattform kam herunter und mit ihr vier Männer, jeder mit einer Maschinenpistole im Anschlag. Fluchtmöglichkeiten gab es hier keine. Farentino hatte ihn mit seiner Bemerkung gelähmt und ihm jegliche Entschlusskraft genommen. Seine Mutter. Max wusste, sie war bei einer Forschungsreise im Regenwald in Mittelamerika umgekommen, als er elf Jahre alt war. Vielleicht spielte Farentino Spielchen und redete ins Blaue hinein, nur damit Max ihm half.

Tischenkos Wachmänner hielten ihn fest, während der Lastenaufzug nach oben fuhr. Max blieb auf der Hut, suchte nach irgendetwas, das ihm helfen konnte, wenn er floh. Denn fliehen würde er, das stand fest. Er musste sicher sein, dass Angelo Farentino nicht gelogen hatte.

Dieser Lastenaufzug funktionierte wie ein einfacher Lift und wurde, so nahm Max an, nur für die unteren Ebenen der Anlage benutzt. Auf allen Stockwerken, die sie passierten, waren Tunnel in den Fels gehauen, die in verschiedene Richtungen führten. Generatoren, Kraftwerke und Depots für alles Mögliche befanden sich hier unten.

Der Aufzug hielt an und die Männer schoben ihn von der Plattform, erst über eine gepflegter aussehende Ebene und dann weiter in einen schicken, modernen Lift. Wenig später ging die Tür des Expresslifts auf, und Fedir Tischenko trat ihnen entgegen. Max drehte sich der Magen um. Ein gedrungener, kleiner Mann mit einer Haut wie eine Eidechse sah ihn an. Sein Gesicht war zur Hälfte mit Haar bedeckt, dicht wie ein Fell. Es war auch Fell, wurde Max klar, allerdings kurz geschoren bis auf die gerunzelte Haut. Max beherrschte sich und ließ sich nichts anmerken.

Ein Bewaffneter stand breitbeinig über dem Hai. Max hatte seit Stunden nicht mehr den Himmel gesehen, doch hier, in gut dreitausend Metern Höhe, konnte er durch ein großes, in den Fels gehauenes Fenster den samtblauen Himmel betrachten, bestreut mit glitzernden Sternen. Man hätte fast die Hand hinausstrecken und sich ein paar pflücken können. Aber was Max jetzt weit mehr interessierte, war die Wolkendecke ungefähr tausend Meter weiter unterhalb. Von unten gesehen würde sie schwarz den Nachthimmel überziehen, aber von hier oben sah man ihre wirbelnden Bewegungen in den wechselnden Luftströmungen und die Blitze, die in alle Richtungen durch sie hindurchzuckten.

Tischenko bemerkte mit Genugtuung die Faszination des Jungen.

»Das ist bloß ein kleines Feuerwerk verglichen mit dem apokalyptischen Ereignis, das in wenigen Stunden stattfinden wird. Mein Name ist Fedir Tischenko. Wo ist Zabalas Stein?« Er warf Max den nutzlosen Anhänger zu.

Der Hai, erkannte Max, hatte sich seine Schwierigkeiten selbst eingebrockt.

»Wo ist mein Freund?«, fragte Max zurück und hoffte, überzeugend zu bluffen.

»Der ist tot.«

Ausgeschlossen. Das glaubte Max erst, wenn er Sayids Leiche mit eigenen Augen sah. Dieses Monster wollte ihm bloß Angst einjagen. Max ließ sich seine Gefühle nicht anmerken. »Das ist aber schade, denn er hatte den Stein.«

»Oh, mutiger Versuch, kleiner Mister Gordon. Du hast mich jetzt lange genug in meinen Plänen gestört. Wir haben den Jungen durchsucht, er hatte nichts bei sich. Du hingegen bist eine Gefahr, die ich nicht mit einkalkulieren konnte. Du hast ihn. Du musst ihn haben. Du bist doch nur hier, um mich aufzuhalten, stimmt’s? Aber das wird dir nicht gelingen.«

»Ich bin wegen meines Freundes hier.«

»Aber bis vor wenigen Stunden wusstest du noch gar nicht, dass er hier ist. Wer hat dir das gesagt?«

»Niemand«, log Max. Er sah den Hai an. »Ich habe gesehen, wie Ihr Gangster hier Peaches umgebracht hat.«

»Warum überrascht mich das jetzt gar nicht? Skrupellosigkeit und Ehrgeiz können Menschen ganz schön verändern. Und weiter?«

»Ich bin ihm hierher gefolgt.«

»Lügner! Mir ist niemand gefolgt, das kann ich beschwören!«, schrie der Hai verzweifelt.

Max lächelte. »Du armer Irrer. Dir hätte ich mit geschlossenen Augen in dunkler Nacht folgen können. Du hast mich direkt hierher geführt. Ich habe Bobby Morrells Bus gefunden, und darin hat mein Freund einen Hinweis für mich hinterlassen.«

Max sah sich um, prägte sich so viel ein, wie er konnte. Ringsum waren im ganzen Raum große Bildschirme angebracht. Satellitenbilder aus dem Weltall. Stürme, die sich über dem Atlantik zusammenbrauten. Kaltwetterfronten mit niedrigem Luftdruck, die sich über Europa ausbreiteten, und ein kreisender Wolkenwirbel, der sich auf die Alpen zubewegte. Das war der erwartete Monstersturm. Nur noch Stunden entfernt.

Max spannte seine Bauchmuskeln an und sah dem entstellten Mann voll ins Gesicht.

»Ihre Leute sind sehr nachlässig, richtig schlampig. Falls Sie vorhaben, die Welt zu regieren, oder irgendeinen anderen Wahnsinn planen, sollten Sie meines Erachtens Ihr Personal sorgfältiger aussuchen.«

Ein verblüfftes Schweigen entstand nach diesen Worten. Und dann tat Fedir Tischenko etwas, das er, soweit er sich erinnerte, noch nie im Leben getan hatte – er lachte.

»Na schön, mutig bist du. Und du bist nicht zusammengezuckt, als du mein Gesicht gesehen hast. Komm, ich zeig dir was.« Er hob den Zeigefinger und winkte Max zu sich.

Max ging weiter in den Raum hinein. Eine große geologische Europakarte füllte die Wand aus. Er hatte keine Mühe, seinen Standort zu identifizieren. Rote Äderchen liefen kreuz und quer über die Karte.

»Weißt du, was das ist? Diese Linien hier, meine ich«, sagte Tischenko.

Max wusste es nicht, aber es war ja nicht schwer zu erraten. »Erdströme«, sagte er.

»Sehr gut«, sagte Tischenko. »Schau mal.«

Er drückte einen Knopf, und in der Ecke erschien eine elektronische Uhr, an der die Stunden und Minuten im schnellen Vorlauf angezeigt wurden. Der vorausberechnete Sturm hatte sein Zentrum über dem Genfer See, und an der Zitadelle erschien das Bild eines gewaltigen Blitzes – ein Stab aus goldenem Licht bohrte sich in den dreidimensional dargestellten Berg hinein, eine Schockwelle pflanzte sich längs der Äderchen nach unten und nach außen fort. Die umliegenden Berge stürzten ein, der See barst wie ein mit Wasser gefüllter Ballon, und alle roten Linien auf der Karte glühten. Es war, als ob tief unter der Erde die Sonne explodiert wäre. Eine schwarze Wolke der Zerstörung schlug eine Schneise durch Europa.

Max begriff sofort: Hier ging es um die vollständige Vernichtung eines riesigen Gebiets. Sein Erschrecken darüber konnte er nicht länger verhehlen.

»Ich sehe, du hast verstanden. Zabala waren die geophysikalischen Gefahren in dieser Region bekannt. Die Schweiz ist ein zerbrechliches Gebilde, und seine ursprüngliche Vorhersage hätte sich vor gut zwanzig Jahren beinahe schon erfüllt. Aber dann hat man die Tunnel am Kernforschungszentrum verstärkt und sich eingebildet, man wäre auf der sicheren Seite. Und Zabala stand wie ein Trottel da. Ich hatte damals angeboten, die Umbaumaßnahmen mit einigen Milliarden Dollar zu unterstützen, aber die beteiligten Regierungen hatten nicht den Mumm, die Herausforderung anzunehmen.«

»Es geht also um Rache und Tod in großem Maßstab?«, sagte Max.

»Nein. Es geht um Rache und Leben in gigantischem Ausmaß. Weißt du, was Metamorphose ist? Die Verwandlung von Menschen in Tiere.«

Max konnte nur nicken, auch wenn ihm seine eigene dunkle Welt, in der er seine Gestalt wechseln konnte, immer noch ein Rätsel war.

Tischenko richtete eine Fernbedienung auf die Wand an der gegenüberliegenden Seite. Der größte Teil davon war ein Bildschirm. Stahltafeln glitten zur Seite. Tischenko winkte stolz und trat auf einen schmalen Steg. Max hatte noch nie zuvor etwas gesehen, das auch nur entfernt dem gewaltigen schimmernden Licht gleichgekommen wäre, das hundert Meter oder mehr unter ihnen leuchtete. Es kam aus einem Kristall, mindestens zwanzig Meter im Durchmesser und dreißig Meter hoch. Der Kristall war mit scharfen Spitzen besetzt, die wie kleine Raketen in alle Richtungen zeigten.

»Das geothermische Wasser im Innern des Berges hat das erschaffen. Ich habe es entdeckt, als ich mit dem Tunnelbau anfing. In dem Kristall ist Leben.«

Max sah nach unten. Kupferfarbene Röhren, jede zehn Meter dick, hielten den Kristall in Stahlträgern, doppelt so groß wie er, und verbanden ihn mit dem Felsgestein. Hunderte von Metern dahinter, am Ende des kathedralengroßen Tunnels, war etwas, das wie ein gigantischer Ventilator aussah. Er nahm die gesamte Höhe des Raumes ein. Max nahm an, es handelte sich um einen Generator, der den Kristall mit Strom versorgte und so zum Leuchten brachte.

»Vor vielen Jahren haben die Japaner eine Technik zur Speicherung von DNA in einem Kristall vervollkommnet, bei der man flüssigen Stickstoff verwendet. Sie haben die Zellen tiefgekühlt und in eine Art Winterschlaf versetzt. Aber dann haben sie das Experiment abgebrochen. Sie bekamen Angst, weil sie nicht wussten, was für Lebensformen sie damit womöglich erzeugten. Aber ich habe keine Angst.«

Tischenko kam näher. Max krümmte in seinen Turnschuhen die Zehen und stellte sich vor, wie er sich im Boden festkrallte, um nicht instinktiv wegzurennen.

»Regeneration. Ich habe Menschen gefunden, die wie ich geächtet und von unserer sogenannten zivilisierten Gesellschaft ausgestoßen waren. Menschen, deren Gefühle verletzt waren, Menschen, die darum kämpften, die Dämonen in ihrem Kopf in Schach zu halten, und Menschen, deren Körper so missgebildet waren, dass sie anderen Angst machten, die aber geistig voll auf der Höhe waren. Ich habe diesen Menschen alles geboten. Ich habe ihre Intelligenz gekauft, mir ihre Loyalität gesichert und ihnen ein neues Leben versprochen. Ich habe beschlossen, auch dir ein neues Leben anzubieten«, sagte Tischenko leise, ganz ergriffen von seiner großen Macht.

Bevor Max irgendetwas erwidern konnte, hatten ihn zwei von Tischenkos Männern gepackt und auf einen Stuhl gesetzt. Ein Mann in einem weißen Kittel, der Max vorher noch gar nicht aufgefallen war, trat jetzt vor. Er hielt eine kleine, nierenförmige Schale und eine Spritze in der Hand. Max schlug und trat um sich, aber dann hielt ein Mann seinen Kopf wie in einem Schraubstock fest, und der andere drückte ihm Arme und Beine nach unten. Die Nadel glitt in die Vene von Max’ Armbeuge und der Weißkittel entnahm ihm ein Röhrchen Blut. Danach klebte er ihm sorgfältig ein kleines Pflaster über die Einstichstelle.

Tischenko nickte, und die Männer ließen Max los und traten zurück. Max gab dem Stuhl einen so kräftigen Tritt, dass er durch den Raum segelte, wich an die Wand zurück und ging in Abwehrstellung.

»Der Tod ist nur die Brücke zwischen zwei Welten. Schau, was ich dir zu bieten habe«, sagte Tischenko.

Er zog eine Milchglastür auf. Dahinter befand sich ein Schrank, in dem einige Dutzend Röhrchen mit einer bernsteingelben Flüssigkeit gelagert waren.

»Dein Blut wird mit der Erbsubstanz eines der Tiere vermischt, deren DNA wir hier vorrätig haben, und dann tief ins Innere des Kristalls gebracht. Die Wissenschaftler bei CERN glauben, sie können mit ihrem Teilchenbeschleuniger rekonstruieren, was den Bruchteil einer Sekunde nach der Entstehung dieser Welt geschehen ist. Morgen Früh im Morgengrauen wird mein Blitz in meinen eigenen Teilchenbeschleuniger fahren, und der ist besser gebaut als ihrer. Ich werde die Schöpfung neu erschaffen. Aber nicht eine Mikrosekunde hinterher, sondern exakt im Moment ihrer Entstehung. Und Jahre später wird dieser Kristall neues Leben schaffen. Seine Energie wird Mensch und Tier auf eine höhere Stufe heben. Intelligenz und Stärke werden die neue Spezies prägen. Symbiogenese: die Entstehung einer neuen Lebensform durch die Vermischung verschiedener Arten.« Tischenko lächelte. »Ich habe eine neue Arche Noah gebaut.«

»Sie sind verrückt«, sagte Max nur, dem angesichts dieses Wahnsinns die Worte fehlten.

Tischenkos Wahnsinn war umso erschreckender wegen der Macht, die er in der Hand hielt, und der Ressourcen, über die er verfügte. Es würde nichts ändern, wenn das CERN eine Warnung erhalten hätte. Das Forschungszentrum lag auf dem Weg, den die Druckwelle nehmen würde. Sobald Tischenko seine Kraft entfesselt hatte, würde das Kernforschungszentrum und alles, was dahinterlag, in die Luft fliegen.

Tischenko bedachte den Jungen, der in Boxerstellung in seiner Ecke stand, bereit, um sein Leben zu kämpfen, mit einem mitleidigen Blick.

»Du wirst schon tot sein, wenn ich den Sturm entfache, Max. Wenn der losgeht, bist du tot, versprochen.«

Max musste Sayid finden. Und Angelo Farentino hatte ihm einen weiteren Grund geliefert, am Leben zu bleiben – es galt die Wahrheit über den Tod seiner Mutter herauszufinden.

Max war klar, dass er nur dann eine Chance hatte, wenn er Zeit gewann. Niemals aufgeben!

»Sie haben sich die falsche Zeit für Ihre Urknall-Theorie ausgesucht«, sagte er.

»Und warum glaubst du das?«, fragte Tischenko vorsichtig. »Weil ich Zabalas Stein und seine Berechnung der Planetenkonstellation gesehen habe – und danach suchen Sie doch, oder? Also, das alles soll morgen Vormittag um sechsundzwanzig Minuten vor zwölf eintreten.«

»Und du meinst, das glaube ich dir?«

»Sie müssen. Ich habe den Stein gesehen.«

Max war klar, dass er den letzten entscheidenden Bestandteil von Zabalas Vorhersage herausrücken musste, denn ohne die so gewonnenen zusätzlichen Stunden hatte er keine Zeit, sich einen Plan auszudenken.

Tischenko erschauderte unwillkürlich. Endlich: der genaue Zeitpunkt, an dem er seine Ziele verwirklichen konnte.

Er streckte seine faltige Hand aus.

 

Von da, wo Corentin und Thierry saßen, sahen die fernen Berge gewaltiger aus denn je. Es blitzte jetzt ziemlich regelmäßig und der Donner hallte durch die Täler. Die Gipfel verschwanden hinter Wolken, als das nahende Gewitter in den Bergen festsaß. Sophie hatte sie beide im Krankenhaus noch angefleht, Max zu helfen. Wenn sie es nicht täten, gäbe es eine Katastrophe von verheerendem Ausmaß. Und Max wollte doch seinen Freund retten. Corentin und Thierry würden das einer für den anderen doch auch tun, bettelte sie.

Corentin hatte einen alten Freund angerufen, einen Ex-Legionär, der jetzt beim französischen DGSE arbeitete, dem Auslandsgeheimdienst. Er hatte gesagt, es sei sehr dringend, und dadurch die üblichen bürokratischen Hindernisse überwunden. Die Regierungen waren alarmiert. Jetzt fügten sich die Teile des Puzzles allmählich zusammen. Geheimdienst und die französische Polizei hielten Verbindung, Wissenschaftler erhielten die Anweisung, sich auf ein eventuelles Katastrophenszenario einzustellen, aber solange sich die verschiedenen Stellen nicht einigen und daher keinen Plan aufstellen konnten, mussten Corentin und Thierry sich selber einen ausdenken.

Dicker Schnee wirbelte um das Auto herum. Corentin öffnete den Kofferraum und hievte zwei wuchtige Reisetaschen heraus. Jeder der beiden zog die Ausrüstung hervor, die er brauchte: Seile, Klettergerät, zwei Heckler-&-Koch-Maschinenpistolen mit Laservisier, Munition, Granaten, Leuchtkugeln, Walkie-Talkies, kugelsichere Westen und Nachtsichtgeräte. Als sie sich die ganze Ausrüstung um den Leib geschnallt hatten, sahen sie aus wie Packesel. Thierry ging voran. Da sie die Hindernisse auf ihrem Weg nicht einfach zerstören konnten – das hätte Tischenkos Leute gewarnt –, mussten sie wie Max einen anderen Weg hineinfinden. Corentins Kontaktperson hatte ihnen von den Vucari erzählt. Privatarmeen waren das eine, aber Typen, die sich für etwas so Besonderes hielten, dass sie sich selbst als Wölfe bezeichneten, musste mal eine Lektion in Sachen Realität erteilt werden. Der Ruf, den man hatte, war das eine – seine Sache durchzuziehen, war das andere. Es würde dauern, aber Corentin und Thierry würden einen Weg in den Berg hineinfinden und den Feind angreifen. Das klang doch recht vielversprechend.

Das fühlte sich gut an.

 

Max hatte den Stein aus dem Fersenprofil seiner Turnschuhe herausgeschnitten, und nach wenigen Minuten stand fest, dass er tatsächlich der entscheidende letzte Teil zur Entschlüsselung von Zabalas Geheimnis war.

»Und die in den Kristall eingeschliffenen Zahlen?«, hatte Tischenko gefragt.

Max konnte nur den Kopf schütteln. »Ich habe keine Ahnung. Die gehören zu einem Code. Aber den kenne ich nicht.«

Die Offenheit, mit der Max das zugab, überzeugte Tischenko. Zahlen waren jetzt unwichtig – es kam auf die exakte Uhrzeit an.

Tischenko gab seinen Männern ein Zeichen und der Hai wurde vom Boden hochgezerrt. »Einem von euch gebe ich die Gelegenheit, schnell zu sterben – der andere wird von Wölfen zerfleischt.«

 

Ein klaffendes Loch führte auf ein Schneefeld hinaus. Die kalte Luft biss Max ins Gesicht, aber es war nicht die Kälte, die ihn zittern ließ.

Max und der Hai standen auf einem Eisenrost. Fünf Meter unter ihren Füßen jaulte ein Rudel von ungefähr zwanzig Wölfen. Die Tiere waren absichtlich lange nicht gefüttert worden.

»Es scheint euer Schicksal zu sein, dass ihr gegeneinander kämpfen müsst«, sagte Tischenko.

Auf sein Zeichen wurden Max und der Hai von den Männern gepackt. Sie befestigten eine Klemme aus rostfreiem Stahl an Max’ linkem Handgelenk und eine zweite am rechten Handgelenk des Hais. Eine zwei Meter lange Kette verband sie. Max war bereits an den Tiger Aladfar angekettet gewesen, doch dieser Junge, der sich Hai nannte, war verglichen damit das viel gefährlichere Tier.

»Ihr bekommt zehn Minuten Vorsprung, bevor meine Wölfe und ich die Verfolgung aufnehmen. Zwei Kilometer weiter, am Rand des Steilhangs, findet ihr zwei Eispickel. Wenn ihr bis dahin noch lebt, erwarte ich, dass einer von euch den anderen tötet, und danach werden ich oder meine Wölfe den töten, der von euch beiden noch übrig ist.« Tischenko sah auf die Uhr. »Ich schlage vor, ihr rennt jetzt los.«

Max rannte los, der Hai folgte eine halbe Sekunde später.

 

Sie liefen durch den verharschten Schnee, der mit ein paar Zentimetern pulvrigem Neuschnee bedeckt war. Die beiden Jungen waren zumindest so lange aufeinander angewiesen, bis sie die Eispickel gefunden hatten – an das, was danach kam, wollte Max gar nicht denken.

Am aufgewühlten Himmel rumpelte und polterte es, doch die Blitze blieben in den Wolken hängen. Trotz der Dunkelheit konnten sie das unter ihnen liegende Tal und die nackten Felswände sehen, die sich mit ihren schartigen Klauen in das gespenstische Weiß reckten. Max nahm ein Stück der baumelnden Eisenkette in die Hand und erleichterte sich dadurch das Laufen. Kurz darauf folgte der Hai seinem Beispiel. Max warf ihm einen Blick zu. Spucke flog dem Hai aus dem Mund. War er fit und kräftig genug, um dieses Tempo zwei Kilometer lang durchzuhalten?

Es war fast so, als hätte der Hai Max’ Gedanken erraten. »Ich werde dich umbringen, Max. Ich werde nicht als Futter für diese Wölfe enden. Sieh zu, dass du nicht schlappmachst.« »Kümmer du dich um dich selber!«, erwiderte Max. Er keuchte schon und spürte den Schweiß unter seinen Sachen. »Der kommt von oben, aus dem Himmel. So jagt er immer«, knurrte der Hai.

Max warf einen Blick nach hinten. Die Wolken hatten bis auf die unteren tausend Meter der Zitadelle alles verdeckt. Ein schwach flackerndes Licht drang aus dem höhlenartigen Loch, aus dem sie gekommen waren. Ein paar Hundert Meter darüber ragte eine breite, dunkel glänzende Felsnase hervor, und auch von dort drang ein Lichtschein aus dem Berg. Max sah eine riesige Fledermaus flattern, dann herabfallen, dann wieder aufsteigen und geradeaus fliegen. Es war ein Gleitschirm mit schwarzem Segel.

Max stolperte und fiel hin. Der Hai ging mit ihm zu Boden, war aber im Nu wieder auf den Beinen, packte Max vorn an der Jacke und schüttelte ihn in wilder Panik, als er ihn hochzerrte.

»Hoch mit dir, Idiot! Jede Sekunde zählt!«

Max schlug den Arm seines Gegners jäh weg. »Behalt deine Hände bei dir! «

Sie starrten einander mit einer Mischung aus Wut und Panik an, zogen die Kette straff und rannten weiter – die Verzweiflung trieb sie vorwärts.

Ein einzelner Wolfsschrei eröffnete die Jagd – sogleich nahmen die anderen den Ruf auf und trugen ihn weiter. Tischenkos Wölfe waren los.

Die entsetzliche Vorstellung, dass die Tiere schon bald über sie herfallen könnten, verlieh ihren Beinen neue Kraft, und inzwischen hatte Max mitbekommen, dass der Hai ganz gut in Form war. Er hatte ihn aus dem Schnee hochgehoben, ohne sich groß anzustrengen. Wie konnte er einen so starken Gegner schlagen?

Ihr keuchender Atem ging gleichmäßig, unter ihren Schritten knirschte der Schnee fast im selben Takt, trotz ihres schnellen Tempos blieb keiner hinter dem anderen zurück. Unter den Tränen, die ihnen die kalte Luft in die Augen trieb, sahen sie die weitere Umgebung nur verschwommen, aber Max’ Instinkte arbeiteten auf vollen Touren. Das Blut hämmerte ihm in den Ohren, doch er registrierte jede Richtungsänderung des Sturms, jeden aus den Wolken hervorbrechenden Blitz, der das felsige Gestein am unebenen Boden beleuchtete.

Und er hörte Stoff im Wind knattern. Als er noch einmal einen Blick nach hinten warf, konnte er kaum glauben, was er sah. Der geflügelte Jäger schwebte keine fünfzig Meter hinter ihnen. Tischenko trug eine Maske aus Wolfsfell. Ein Blitz tauchte ihn in grelles Licht und ließ den Pfeil aufblinken, den er in seinem Bogen bis zum Anschlag gespannt hatte.

Max grub die Fersen in den Boden, zerrte mit beiden Händen an der Kette und riss den Hai in den Schnee. Der Junge ächzte vor Überraschung und Schreck und sah Max vernichtend an.

In diesem Augenblick aber schlug der Pfeil genau an der Stelle in den Boden, die der Hai zwei Schritte später erreicht hätte. Max wusste, bei einem beweglichen Ziel peilte jeder Jäger eine Stelle vor diesem an, und seine Reaktion hatte dem Hai das Leben gerettet.

Der Hai wusste das auch. Er nickte. Im Nu waren beide Jungen wieder auf den Beinen, rannten mit voller Geschwindigkeit weiter und schlugen Haken, damit sie als Ziel nicht so leicht auszumachen waren. Tischenko musste den Gleitschirm stabilisieren, sich selbst wieder in Position bringen, bevor er noch einen Pfeil abschoss. Je länger die Jungen aber im Zickzack rannten, desto größer wurde die Strecke, die sie überwinden mussten. Und desto näher kam das ihnen nachsetzende Wolfsrudel.

Max konzentrierte sich auf den Weg, hörte aber an den Windgeräuschen im Segel des Gleitschirms, wenn Tischenko seinen Kurs änderte. Das Flattern des Schirms im Wind verriet Tischenkos Position. Sie befanden sich über einem ebenen Schneefeld. Die Blitze zerrissen die niedrig hängenden Wolken und ließen jetzt die etwa einen halben Kilometer entfernte, stärker zerklüftete Landschaft erkennen. Schmutzige Schnee- und Eisklumpen, Risse und scharfkantige Formen – der Rand des Gletschers. Gefährliches, instabiles Terrain. Zweihundert Meter rechts davon flatterte ein Fähnchen. Dort mussten die Eispickel liegen.

Mit seinem Überhang verdeckte der Berg das weiter links gelegene Tal, in das viele Blitze niedergingen. Sie tanzten und zuckten durch das eng umgrenzte Gebiet, und Max erblickte zwei Türme, deren Spitzen die Blitze besonders anzogen. Aber er hatte keine Zeit zu überlegen, was das für Türme sein mochten, denn Tischenko hatte wieder seinen Kurs geändert und war schon im Anflug, um den nächsten Pfeil abzuschießen.

Diesmal leuchtete ihm kein Blitz und Max konnte nur die Ohren spitzen. Aber er hörte den Pfeil nicht kommen. Ohne Vorwarnung sauste er aus dem Dunkel heran und zischte mit tödlichem Wispern an seinem Gesicht vorbei. Ein paar Zentimeter näher und er hätte sich ihm von oben durch den Hals in die Brust gebohrt.

Dem Hai war die panische Angst genauso anzumerken wie Max. Der Pfeil war zwischen ihnen niedergegangen. Nicht schlecht, dass Max beinahe getötet worden wäre, aber wäre er zu Boden gesunken, wäre der Hai auf Gedeih und Verderb den sich schnell nähernden Wölfen ausgeliefert gewesen. Ob Fedir Tischenko Max Gordon erwischte, war ihm egal, aber er wollte auf keinen Fall, an einen Toten gekettet, von Wölfen zerrissen werden.

Bis zu den Eispickeln waren es noch fünfzig Meter. Aller guten Dinge sind drei, mit seinem dritten Pfeil würde Tischenko vielleicht mehr Glück haben als mit den beiden ersten.

Max und der Hai sahen die tödlichen Waffen im selben Augenblick. Sie waren mit den gebogenen und vorne gezackten Spitzen in den festen Schnee gerammt; das abgeflachte hintere Teil glänzte im Widerschein der Blitze. Die Eispickel waren gleich lang und hatten einen mit Gummi gepolsterten Griff. Max und der Hai rissen sie fast gleichzeitig aus dem Boden.

Die Wölfe waren achtzig Meter weit weg und teilten sich jetzt in kleinere Gruppen. Diese hochintelligenten und mutigen Jäger ließen sich von zwei Jungen mit diesen Waffen nicht abschrecken.

»Nach links!«, rief Max und zerrte an der Kette, sodass sie bis knapp an den Rand des tiefen Abgrunds gerieten.

Tischenko benötigte Gegenwind, um nicht an Fahrt zu verlieren. Eine Thermik, die er ausnutzen konnte, gab es aber nicht, es war eine kalte Nacht mit vielen Turbulenzen. Wer bei Verstand war, befand sich bei diesen Witterungsverhältnissen sowieso nicht am Himmel, aber Tischenko besaß anscheinend eine besonders gute Ausrüstung, vielleicht sogar eine spezielle, für militärische Zwecke hergestellt. Aber egal, dachte Max, denn er hatte schon eine vage Idee, wie er den Mann womöglich aufhalten konnte.

Gewitter und Sturm fielen über die fernen Berge her, aber in diesem Tal war der Wind relativ konstant – deswegen konnte Tischenko auch so zielgenau fliegen. Über dem zerklüfteten Abgrund aber musste es Turbulenzen geben, Scherwinde, die von allen Piloten gefürchtet wurden. Luftstrudel können enorme Strömungsgeschwindigkeiten entwickeln. Nicht einmal Tischenko könnte unter solchen Bedingungen seinen Gleitschirm manövrieren.

Auf dem unebenen Gelände wurden die Wölfe langsamer, und als Max und der Hai zusammen über eine der schmaleren Spalten sprangen, spürte Max den umspringenden Wind. Pulverschnee stäubte hoch und wurde umhergewirbelt.

»Weiter! Über die Spalten springen!«, schrie Max, als er sah, dass ein Rudel Wölfe einen Weg über den Berghang gefunden hatte und jetzt aus einer anderen Richtung auf sie zukam.

Wo war der geflügelte Jäger?

»Sieh nach, wo Tischenko ist!«, schrie er, während er sich, so gut es ging, zu orientieren versuchte.

Der Hai sah nach hinten. Max zog die Kette enger, so straff, wie es ging, und kontrollierte ihren Anlauf. Der Hai sprang mit, ohne hinzusehen.

 

Tischenko beobachtete die beiden Jungen und fletschte die spitzen Zähne, als der eine zu ihm hochsah. Dieser Max Gordon war cleverer, als er gedacht hatte. Offenbar hatte er erkannt, wo es für den Gleitschirm riskant wurde. Mit den rumpelnden Wolken einige Hundert Meter über ihm und dem scharfen Wind, der aus den Felsspalten hochstieg, konnte Tischenko den großen Schirm nicht präzise steuern. In solchen Luftwirbeln würde der Gleitschirm über ihm zusammenfallen. Dann wäre er derjenige, der verletzt auf dem Gletscher lag, wenn die Wölfe kamen. Schluss mit dem Vergnügen, sagte er sich. Er hatte sich ernsthafteren Dingen zu widmen. Er würde zum Berg zurückkehren und sich darauf vorbereiten, das bevorstehende Gewitter einzufangen und die mächtigsten Energien des Himmels auf die Erde zu holen.

Max Gordon hatte bis jetzt überlebt. Gegen seinen Willen bewunderte er diesen Jungen. Aber die Wölfe würden die Sache erledigen und er bezweifelte, dass Max den stärkeren Hai besiegen konnte.

Tischenko war es egal, welcher der beiden zuerst starb. In ein paar Stunden war sowieso alles vorüber. Er drehte seinen Gleitschirm in den Wind und ließ die todgeweihten Jungen hinter sich zurück.

 

»Er ist weg!«, rief der Hai.

Die beiden rannten immer noch, aber jetzt schnitten ihnen zwei kleinere Wolfsrudel den Weg ab. In dem Wetterleuchten wechselten Licht und Schatten einander ab. Max war sich nicht sicher, ob das, was er auf dem Eisfeld sah, Wölfe waren oder nicht.

»Halt mal!«, keuchte er.

Wenn sie sich nicht überlegten, wie sie den von allen Seiten sich nähernden Wölfen entkommen konnten, konnte jeder unüberlegte Schritt tödlich sein. Die Tiere jaulten, als kommunizierten sie miteinander. Max mochte Wölfe und hatte sie immer bewundert. Eigentlich griffen sie Menschen nur selten an, aber hier hatten sie es mit einem ausgehungerten Rudel zu tun, das von einem Verrückten abgerichtet worden war.

Max versuchte das Alpha-Männchen und das Alpha-Weibchen zu identifizieren. Diese Leittiere führen das Rudel nicht immer an, sondern überlassen diese Arbeit oft rangniederen ausgewachsenen Tieren. Das Alpha-Pärchen bestimmte allerdings, wie sich das ganze Rudel verhielt. Der Angriff würde kommen – aber von welchem Wolf würde er ausgehen?

Bis jetzt hatte keiner der beiden Jungen gemerkt, dass sie sich auf einem Felsvorsprung befanden. Sie waren auf drei Seiten von Wölfen umzingelt. Vor ihnen lag die nächste Spalte. Max zerrte an der Kette und näherte sich dem Abgrund.

Die Spalte war etwa drei Meter breit, nicht breiter als das zerschlissene alte Sofa im Gemeinschaftsraum der Dartmoor High. Ein Klacks. Andererseits schien die Spalte über dem unergründlich schwarzen Abgrund so tief wie der Grand Canyon. Und der Boden war vereist. Sie würden zusammen drüberspringen müssen. Wenn nur einer von ihnen ausrutschte …

»Wir müssen hier drüberspringen.«

»Das ist zu weit!«, sagte der Hai und spähte in die Tiefe.

»Siehst du eine andere Möglichkeit?«, keuchte Max und sah sich nach den Wölfen um, die schon wieder ein Stück näher gerückt waren.

Max und der Hai brauchten Platz, um genügend Anlauf zu nehmen, aber die Wölfe waren nur noch zwanzig Meter entfernt. Wie viele konnten sie töten, wenn die plötzlich losrannten? Nicht einmal einen oder zwei, dachte Max. Wölfe reißen ihre Beute zu Boden, werfen sich gleich auf den Hals ihres Opfers und schlagen die Zähne hinein, kaum dass es am Boden liegt. Und diese Wölfe hatten Hunger.

Plötzlich begannen die Tiere aufgeregt zu knurren. Eins der rangniederen Männchen war auf die beiden Jungen losgerannt, woraufhin sofort ein großes Männchen lossprang und das unverschämte Jungtier mit einem Biss in die Schranken wies. Das Jaulen des voreiligen Angreifers und seine Körpersprache demonstrierten sofortige Unterordnung. Da hatte Max also sein Alpha-Männchen. Es hatte die Ohren und den Schwanz aufgestellt und seine Augen blickten die beiden Jungen unverwandt an.

Das Rudel bildete einen Halbkreis. Die Wölfe wussten, ihre Beute war erschöpft. Jetzt war nur noch offen, welches Tier als Erstes zum Angriff überging. Max erwiderte den Blick des großen Wolfs, hob seinen Eispickel wie eine Trophäe hoch und heulte, so laut er konnte. Er hatte dem Alpha-Männchen seine Anwesenheit und Stärke unmissverständlich kundgetan. Die Wölfe wichen zurück. Sogar dem Hai gefror bei Max’ Geheul das Blut in den Adern.

»Jetzt!«, rief Max.

Sie drehten sich um und sprinteten auf die Spalte zu. Die Wölfe stürzten vorwärts. Max’ Fuß traf als Erster den Rand der Spalte. Der Hai, der schwerer und etwas langsamer war, folgte direkt hinter ihm. Max ruderte mit den Beinen wie beim Weitsprung. Als er auf der anderen Seite landete, warf er sich nach vorn und schlug den Eispickel in den Schnee. Er hatte kaum festen Halt gefunden, da riss die Kette seinen Arm zurück. Er drehte sich, schrie auf vor Schmerzen, als seine Schulter fast ausgerenkt wurde. Der Hai schrie ebenfalls. Er hatte die Spalte nicht übersprungen, sondern nur seinen Eispickel auf der anderen Seite einschlagen können.

»Hilfe! Hilf mir! Schnell!«

Max stemmte die Fersen gegen einen Eisklumpen, drehte sich in der Längsachse, zog seinen linken Arm vor die Brust und hielt so fast das ganze Gewicht des Hais. Auf der anderen Seite schnüffelten und jaulten die Wölfe vergeblich ihrer entkommenen Beute nach, waren aber angesichts der tiefen Spalte machtlos.

Der Hai hing unmittelbar unter dem Rand der Spalte. Er klammerte sich mit der rechten, angeketteten Hand in den Schnee und hatte die linke durch die Tragschlaufe des Eispickels geschoben. Max verlagerte das Gewicht auf die Beine und spannte die Oberschenkelmuskeln an. Er hielt den Hai und sah die Wölfe jetzt genau vor sich. Er konnte ihren Atem riechen, und es kam ihm so vor, als könnten sie ihn mit ihren knurrenden Schnauzen immer noch erwischen.

Wäre da nicht diese mörderische Anstrengung gewesen, hätte er die Wölfe verhöhnt, hätte er ihnen ins Gesicht gelacht, aber wenn er den Hai nicht über den Rand hieven konnte, brach die Eiskante womöglich noch ab, und dann gab es nie wieder Gelächter.

Max fand mit den Füßen festeren Halt und zog seinen eigenen Eispickel wieder aus dem Boden heraus. Der Hai hatte es geschafft, sich ein Stück höherzuziehen. So was Verrücktes. Max versuchte hier das Leben eines Jungen zu retten, der, kaum dass er oben angelangt war, versuchen würde, ihn zu töten. Warum hieb er nicht einfach mit dem Eispickel auf die Kette und durchtrennte sie? Er hob den Arm und der Widerschein eines Blitzes fiel auf die Klinge.

Aber der Hai bekam keinen Freifahrtschein von ihm.

»Wo ist mein Freund? Was hat Tischenko mit ihm gemacht?«, keuchte er.

»Zur Hölle mit dir! «

»Nach dir!«, schrie Max und senkte den Arm, als wolle er zuschlagen.

»Nein! Warte! Ich sag’s dir! Der Tunnel oberhalb der Käfige, da ist er. Ich schwöre es.«

Plötzlich wurde Max klar, dass Sayid offenbar ganz in der Nähe gewesen war, als Angelo Farentino die rätselhaften Bemerkungen über seine Mutter gemacht hatte.

»In Ordnung. Hör zu. Ich weiß nicht, ob die Wölfe so viel Hunger haben, dass sie sich zu springen trauen, aber wenn wir nicht den Kopf verlieren und zusammenarbeiten, schaffen wir es, zu dem Berg zurückzukommen und Tischenko aufzuhalten. Verstehst du? Du bist ihm doch nichts schuldig.«

Der Hai nickte. Wie lange konnte dieser Max Gordon ihn noch halten?

Max schob dem Hai seinen Eispickel zu, und der fasste mit seiner angeketteten Hand danach. Jetzt hatten sie die Last gleichmäßig verteilt, und Max kroch rückwärts, zog den baumelnden Jungen unter Einsatz aller verfügbaren Muskelkräfte zu sich herauf.

Die Schinderei forderte ihren Tribut. Beide sackten auf dem Eis zusammen. Die Wölfe rannten hin und her, suchten einen Weg, doch noch zu ihnen zu kommen. Das große Männchen aber stand reglos inmitten des Gewimmels. Max, auf allen vieren, sah an dem Hai vorbei zu dem Wolf hinüber. Ein stilles Verstehen, Max hätte es selber nicht erklären können, schlug eine Brücke über den Abgrund. Plötzlich machte das Alpha- Männchen kehrt und lief mit großen Sprüngen davon. Für einen Augenblick verwirrt, wussten die Wölfe nicht, was sie tun sollten, folgten ihrem Anführer dann aber nach. Fünfzig Meter weiter drehte sich der Anführer des Rudels noch einmal um, sah zu Max herüber, hob den Kopf und heulte. Die anderen Wölfe stimmten ein. Das Heulen erinnerte Max an die Sirene in Les Larmes des Anges.

Eine Warnung.

Im selben Moment griff der Hai an.