26

Tischenko hatte sich den Bericht des Hais über die Aktion im Parc la Grange angehört.

Der Tod des Mädchens, der ungarischen Killerin, hatte kein Bedauern bei ihm ausgelöst. Das eigene Überleben hing von den Fähigkeiten und von der Entschlossenheit ab, die man besaß. Glück war ein launischer Gefährte.

Der Hai schilderte ihm den Überfall ganz genau, erzählte, zusammen mit Max Gordon seien ein paar üble Burschen aufgetaucht und hätten Peaches überfahren. Es sei unmöglich gewesen, den jungen Engländer zu schnappen. Immerhin hatte er aber, was für Tischenko am kostbarsten war – den Anhänger. Der Hai hatte sich immer danach gesehnt, von Tischenko als Vucari akzeptiert zu werden – als Wolfsmensch, als einer der Auserwählten.

Tischenko trug dem Jüngeren auf, etwas zu essen zu besorgen; belohnen würde er ihn später. Er besah sich den Anhänger genauer. Auf den ersten Blick konnte er nichts erkennen. Das Ding kam ihm ganz gewöhnlich vor. Seine Leute würden ihn mit Mikroskopen untersuchen, die so stark waren, dass sie damit sogar Mikroben in die Augen schauen konnten.

Endlich. Das Geheimnis, das Zabala in dem Stein versteckt hatte – die Information, für die er sein Leben gelassen hatte. Jetzt hatte das Schicksal den Anhänger Tischenko zugespielt, und auch noch in so einem entscheidenden Augenblick. Über zwanzig Jahre lang hatte der Mönch die Sterne beobachtet und nach der Wahrheit gesucht – nach dem genauen Zeitpunkt, zu dem die himmlischen Mächte einen gewaltigen Feuerball herabschicken würden, aus dem eine neue Schöpfung hervorgehen sollte. Und Zabala hatte es herausgefunden! Und hatte versucht, die ahnungslose Welt zu warnen. Aber die anderen Wissenschaftler hatten nicht auf ihn gehört. Hatten sich über ihn lustig gemacht. Nur Tischenko nicht. Zabalas Freund hatte ihn verraten und Tischenko erzählt, der geheimnisvolle Mönch habe endlich den Beweis für die drohende Katastrophe gefunden, nach dem er so lange gesucht hatte. Ein Fitzelchen Wissen, das Tischenko unbedingt in seinen Besitz hatte bringen wollen. Ein letzter Wink der Götter, der alles, was er geplant hatte, durch den kontrollierten Blitz morgen Früh bestätigen würde. Tischenko verfügte über die Macht. Seine Mutter hatte das bestimmt gewusst, als sie ihm seinen Namen gab – Fedir, Geschenk Gottes.

Das Gewitter zog heran. Das wütende Poltern am Himmel wurde immer lauter. Morgen sollte es seine größte Wucht erreichen. Dass Tischenko sich den Anhänger des Mönchs gesichert hatte, nur Stunden bevor er die Zitadelle verlassen und sich in die Einsamkeit begeben wollte, bestärkte ihn in seinem Glauben, dass er vom großen Mysterium des Universums geleitet wurde.

Er wollte sich nicht nur dem Gewitter, sondern auch seinem Schicksal stellen. Und aus Verwüstung und Feuer würde er Leben erschaffen. Lux Ferre – der Lichtbringer.

 

Max kauerte sich zusammen wie ein sprungbereites Tier, seine Gedanken rasten, während er zu begreifen versuchte, was er da vor sich sah. Er war in einer Eishöhle. Frost glitzerte und schimmerte an Wänden und Decke, als habe jemand den Ort mit einem Zauberbann belegt. Doch die Augen der Tiere, die ihn anstarrten, bewegten sich nicht. Kein Licht, kein Funkeln, bloß der leere Blick des Todes.

Es war ein Museum tiefgefrorener Tiere, die mit gebleckten Zähnen in natürlichen Posen dastanden. Ein Berggorilla mit silbrigem Rücken, dick mit Muskeln bepackt; ein Rhinozeros, aufrecht auf seinen vier Beinen stehend, das gebogene Horn stolz emporgereckt. Ein Leopard, der zum Sprung auf eine seltene tibetische Antilope ansetzte, beide im Frost erstarrt. Zwei Löwen kämpften. Das mächtige Männchen in Siegerpose über dem Weibchen, das eine gekrümmte Abwehrhaltung eingenommen hatte. Max spürte förmlich, wie ihre Pfoten den Staub Afrikas aufwühlten. Ein Orang-Utan, ein Luchs – alle standen sie da, wie mit Blitzlicht fotografiert. Eine Lederschildkröte, größer als alle, die Max bisher gesehen hatte, schwebte in einem Eisblock wie im Wasser des Ozeans. Hier gab es Tiere, die Max bis jetzt nur auf Fotos gesehen hatte. Den seltenen Schneeleoparden zum Beispiel; sein matt getüpfeltes Fell verschmolz fast mit dem Hügel aus Schnee, der um ihn herum aufgeschichtet worden war.

Max ging langsam und wie in Zeitlupe zwischen den Tieren umher, fasziniert, den größten Wildtieren der Welt so nahe zu sein. Dann begriff er nach und nach, dass das hier eine sehr spezielle Sammlung war. Es waren überwiegend Raubtiere: Großkatzen und Wölfe, Jagdhunde und Schakale.

Der Schakal! Seine dunkle Gestalt hob sich kaum von dem schwarzen Felsblock ab, auf dem er stand. Das Tier blickte mit klugen Augen auf ihn herab und erinnerte Max an den Schakal, der ihm damals in Afrika den Weg gewiesen hatte.

Ein bengalischer Tiger, nicht so groß wie Aladfar, aber doch gewaltig, hockte mit funkelnden Augen da, die Tatzen in den Boden gekrallt – sein lautloses Brüllen ein stummes Zeugnis für diese prachtvollen Tiere, die einst vom Menschen ungestört durch die Wildnis streiften. Dieses Privatmuseum gehörte einem Mann, der Tiere schmuggelte, viele davon Vertreter bedrohter Arten. Ein Bär, ungefähr so groß wie Max, stand auf den Hinterbeinen, die Vorderpfoten abwehrend vor sich gehalten, als sei er unsicher, was der Mensch, der ihn tötete, im Sinn hatte. Der verblüffte Ausdruck in seinem Gesicht war durch die schwarzen Ringe unter seinen Augen noch zusätzlich verstärkt. Das war der kleine südamerikanische Bär, den Sophie, als sie sich kennenlernten, erwähnt hatte. Und so war dieses arme Tier nun geendet.

Die kalte Luft überzog den Boden mit einer dünnen Eiskruste, die unter Max’ Füßen knirschte. Das war ihm zu unheimlich. Und er war ja auch nicht zum Vergnügen hier. Schnell ging er zum anderen Ende der Halle, zwang sich, nicht nach hinten zu sehen – falls die Toten wieder zum Leben erweckt wurden. Die Tiere sahen alle so aus, als hätten sie gewaltigen Hunger.

Eine doppelte Stahltür versperrte ihm den Ausgang. Klinke, Knauf oder Codekästchen – Fehlanzeige. Nichts. Die wurde offenbar per Fernbedienung auf- und zugemacht. Weiter hinten war durch ein Loch in der Wand ein kleiner Wasserfall zu sehen. Er war nicht breiter als der Eistunnel, durch den er gerade heruntergerutscht war. Das Wasser schäumte weiß, bevor es, wieder schwarz, in der Tiefe verschwand. Offenbar Schmelzwasser, das von weit oben kam.

Er schob sich näher an das donnernde Wasser heran, zwängte die Schultern in die Höhlung in der Wand. Wie Wespenstiche stach ihn das Nass ins Gesicht, das Tosen war ohrenbetäubend, doch im Hintergrund hörte er noch ein anderes Geräusch. Kaum erkennbar zunächst, doch es hörte sich an wie ein Platschen, wie Wasser, das auf anderes Wasser traf. Da musste so etwas wie eine Rinne sein, ein natürlicher unterirdischer Wasserlauf. Etwas Ähnliches hatte Max mal bei einem Schulausflug in einer Höhle gesehen. Wie tief fiel das Wasser, bevor es unten in einen See stürzte? Und war der groß oder klein? Auf jeden Fall lag er tiefer als diese Eishöhle.

Es konnte eine Kammer sein, die unterhalb des Kamins lag, zu schmal, um da hindurchzuklettern. Der Wasserlauf war der einzige Weg dorthin.

Doch das war extrem gefährlich. Extrem war sogar noch untertrieben. Aber es war ein Risiko, das er eingehen musste. Max nahm eine große Mülltüte aus seinem Rucksack und zog sich aus. Mit jeder Schicht Kleidung, die er ablegte, wurde die Kälte unangenehmer. Zu lange durfte er nicht so bleiben, sonst kühlte er so stark aus, dass er nichts mehr machen konnte. Nachdem er seine Sachen in der Tüte verstaut und diese in den Rucksack gestopft hatte – jetzt trug er nur noch Boxershorts und Turnschuhe, deren feste Sohlen ihn bei seinem Weg nach unten vor scharfen Kanten schützten –, freute er sich schon darauf, wenn er sie nach seinem Vorhaben trocken wieder anziehen konnte. Er zitterte wie Espenlaub. Man musste einschätzen können, was eiskaltes Wasser mit einem machte, wenn man das überleben wollte. Kaltes Wasser kühlt den Körper fünfundzwanzigmal schneller aus als kalte Luft. In dem Augenblick, in dem Max in die Rinne stieg, würde sein Blutdruck steigen und er würde hyperventilieren – sehr gefährlich. Der plötzliche Schock würde verhindern, dass er den Atem anhalten konnte. In kaltem Wasser sind schon die stärksten Schwimmer ertrunken. Zu wissen, was ihn erwartete, half ihm zwar zu überleben, aber nicht zu wissen, wie lange er in dem Wasser sein würde, machte ihm Angst. Nach drei Minuten würde seine Körpertemperatur sinken, dann begann die Unterkühlung und seine Muskeln und Glieder wurden steif.

Fachleute nannten das den plötzlichen Kaltwassertod.

Max schnallte sich den Rucksack vor die Brust – auf die Art war er das kleinere Hindernis und gab ihm außerdem Auftrieb. Er kletterte auf den Felsvorsprung, bemühte sich, sein Zähneklappern unter Kontrolle zu kriegen, holte tief Luft und schloss sie mental in seiner Lunge ein. Er brauchte diesen Atemzug so lange wie möglich.

Kaum war er im Wasser, begann er zu keuchen und vergeudete dadurch lebenswichtigen Sauerstoff. Wasser platschte ihm auf den Kopf, sein Nacken fühlte sich an, als würde ihn jemand mit Eiszapfen traktieren, und seine Kehle zog sich vor Kälte zusammen. Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen!, rief ihm eine innere Stimme zu. Er unterdrückte das dringende Bedürfnis zu schreien, als er merkte, dass der glatte Fels unter seinen Füßen verschwand. Nach zwanzig Sekunden tauchte er aus dem Dunkel in schwaches Dämmerlicht. Kaum hatten seine brennenden Augen die Fallhöhe erfasst – höchstens drei oder vier Meter –, platschte er auch schon in ein Wasserbecken.

Es war, als flössen Glasscherben durch seine Adern. Die Kälte packte ihn am Wickel – sehr schnell. Er konnte sich nicht mehr bewegen, seine Arme waren nutzlos geworden, sein Geist nicht mehr in der Lage, die tiefe Müdigkeit zu begreifen, die ihn zu ersticken drohte. Bilder tanzten vor seinem inneren Auge. Schnee und Eis türmten sich an den Rändern des Beckens unter ihm, und die Reste von etwas Dunklem, Blutigem beschmutzten den klumpigen Schnee. Das war das Ende. Er hatte gespielt und verloren, und jetzt würde ihn das dunkle Eis verschlingen. Mit leisem Stimmchen meldete sich sein Überlebenswille ein letztes Mal und sagte ihm, er habe noch Zeit für einen allerletzten Atemzug. Dann ging er unter.

Der Aufprall, der Wasserwiderstand und dann das Gefühl zu schweben. Abwärts. Nicht mehr stehen können. Zu tief. Die Kälte wich. Das bedeutete, dass er die schreckliche Wirkung der Temperatur auf seinen Körper entweder schon nicht mehr spürte und tief in Ohnmacht fiel oder dass er ein dickes Fell hatte wie ein junger Eisbär.

Das Wasser in dem Becken war einen Hauch wärmer, nicht viel, und sein Salzgehalt brannte ihm in den Augen. Im ersten Moment kam es ihm so vor, als ströme Tageslicht in die Tiefe, doch dann sagte ihm sein schmerzhaft kalter Kopf, dass das nicht sein konnte. Das war künstliches Licht und sollte etwas beleuchten, was unterhalb des Wassers war. Aber was konnte das sein?

Ein weißes Ungeheuer platschte ins Wasser. Ein ausgewachsener Eisbär. Seine riesigen Tatzen, dreißig Zentimeter breit, zerteilten das Wasser. Da hatte er seine Antwort.

Aus Angst gespeiste Kraft durchströmte ihn. Er paddelte wie ein Hund, schaufelte das Wasser unter sich weg, strampelte mit den Beinen. Atembläschen strömten aus seinen Nasenlöchern, als er durch das Halbdunkel schaute. Er erblickte weiße Strudel in den herabstürzenden Wassermassen, die ihren Weg durch das Becken nahmen und über einer Felsnase verschwanden.

Max wagte einen Blick nach hinten. Der Eisbär schwamm in dem tiefen Becken, seine breiten Tatzen schoben das Wasser fast gemächlich, wie in Zeitlupe zur Seite. Alles Einbildung. Der Bär war so stark, dass die Kraft, die er aufwendete, mühelos aussah. Wenn er den Eindringling in seinem Territorium erwischte, würde er mit furchtbarer Gewalt über ihn herfallen.

Der Weg, den das fließende Wasser nahm, war die Fluchtroute. Max war nicht klar, wie er es geschafft hatte, so lange unter Wasser zu bleiben, oder wie sein Körper die Kälte kompensiert hatte, aber er schwamm so schnell er konnte und streckte eine Hand nach dem dicken Eis auf dem Felsvorsprung aus, um sich aus dem Wasser zu ziehen. Das aber verhinderte der Rucksack an seiner Brust. Der Horror, dass seine Beine im Wasser baumelten, während das Raubtier nur noch einige Meter hinter ihm war, verlieh ihm neue Kräfte. Er warf sich herum und schaffte es, sich auf einem Ellbogen hochzustemmen und so aus dem Wasser zu kommen.

Auf allen vieren kletterte er auf den Felsen, mitten durch die blutigen Überreste des Seehunds hindurch. Er wollte zu der Rinne, die das Wasser ableitete. Zu seiner Linken versperrte ihm eine Eiswand den Weg – doch das Platschen des Wassers hinter ihm sagte ihm, dass der Eisbär aus dem Wasser heraus und nur einen Sprung weit von ihm entfernt war. Max tauchte in die Rinne. Er ahnte den Eisbären mehr, als dass er ihn spürte, hörte sein Brüllen, seine durch die Luft sausende Tatze, die Max verfehlte und in die Eiswand schlug. Es klang, als fahre jemand mit den Fingernägeln über eine Wandtafel.

Er war dem sicheren Tod nur um Sekunden entgangen, aber wenn er in dieser schnellen Strömung blieb, würde er zu dem Wasserfall getrieben, der am Ende der Felshöhle, vierzig Meter von ihm entfernt, in die Tiefe donnerte. Max warf einen Arm zur Seite und bekam etwas Kaltes, Hartes zu fassen. Stahl. Den Rand eines stählernen Käfigs.

Er hatte keine Kraft mehr in sich. Der Strömung standzuhalten und sich über den Rand des Kanals in den Käfig zu ziehen, würde er nicht schaffen. Besser, jetzt gleich zu sterben. Einfach loszulassen und zu sterben. Es wäre ganz leicht.

Plötzlich hatte er Sayids Gesicht vor Augen, wie er ihn vom Rücksitz des Taxis ansah, das ihn zum Flughafen in Biarritz brachte. Seitdem hatte er seinen Freund nicht mehr gesehen. Es traf ihn wie ein Faustschlag in den Magen – sein Freund brauchte ihn. Deswegen war Max hier! Was ging ihn ein Verrückter an, der irgendein Unheil plante? Er wollte nur seinen Freund retten. Aber dazu musste er erst einmal überleben.

Max fasste fester zu. Er würde nicht aufgeben, aber die Anstrengung, die das kostete, war immer noch zu groß. Doch dann nahm die Natur die Sache in die Hand. Das Wasser wirbelte ihn herum; ihm wurden die Beine weggezogen, er hielt sich an dem Gitter des Käfigs fest, lag aber jetzt bäuchlings, mit dem Gesicht nach unten im Wasser und bekam keine Luft mehr.

Es ging so schnell, dass er seine Gedanken noch gar nicht ordnen konnte, als das Wasser schon mit voller Kraft gegen seinen Rucksack schlug, den er immer noch vor die Brust geschnallt hatte, und ihn mit der Strömung nach oben riss. Im selben Augenblick konnte er sich so drehen, dass er auf den mit Stroh ausgeschütteten Boden des Käfigs fiel, an dessen Stäbe er sich eben noch geklammert hatte.

Er lag still da, spürte noch nicht einmal das stachlige Stroh auf seiner gefrorenen Haut, die bläulich angelaufen war. Doch er lebte. Das Rauschen des Wasserfalls kam ihm vor wie ein Schlaflied. Es war nicht mehr bedrohlich, sondern bot seinem geschundenen Körper eine tröstliche Zuflucht. Das zweite Geräusch, das er hörte, konnte er nicht deuten – es war ein beharrliches, verzweifeltes Kratzen.

In seinem Kopf schrillte laut und deutlich eine Alarmglocke. Er brauchte Wärme und Nahrung. Sein Körper gierte förmlich nach Zucker und Kohlehydraten. Das tiefe Stroh stank nach Tier, aber Max hätte sich mit Freuden noch tiefer hineingewühlt und geschlafen. Doch stattdessen zwang er seine schmerzenden, zitternden Glieder, aufzustehen und seinen Rucksack aufzumachen. Es war noch alles trocken. Er fuhr mit beiden Armen hinein und tastete nach dem Schokoriegel, den er eingesteckt hatte. Er riss das Einwickelpapier mit den Zähnen ab und schob sich den Inhalt in den Mund. Früchte, Nüsse und Schokolade klebten an seinen Zähnen. Er saugte und kaute, immer noch zitternd, aber überglücklich, als die Energie in seinem Magen ankam. Er zog die trockenen Sachen hervor, doch er musste erst seinen Blutkreislauf in Schwung bringen, musste sich Wärme in die Haut rubbeln. Ein Stapel Säcke lehnte an der Wand hinter der Käfigtür. Er versuchte sie aufzustoßen. Der Riegel bewegte sich nicht. Max schob eine Hand durch die Stäbe. Die Feuchtigkeit hatte den Riegel verklemmt, er saß fest. Er ruckelte mit beiden Händen daran, doch der Riegel wackelte nur ein bisschen. Wenn er mit dem Handballen daran schlug, würde er sich verletzen. Er zog einen seiner durchweichten Schuhe aus, fuhr mit der Hand hinein und benutzte ihn als Polster für seine Faust.

Dann begriff er, was das Kratzgeräusch war.

Der Eisbär stand, hoch aufgerichtet, in voller Größe auf der anderen Seite der Eiswand – zwischen Max und der Stelle, wo der Bär stand, befanden sich keine Gitterstäbe. Er kratzte so wild, um zu Max zu gelangen. Und mit seinen mächtigen Tatzen würde dieser Gigant die einen halben Meter dicke Wand schnell niedergerissen haben.

Max’ Kräfte waren immer noch nicht zurückgekehrt, aber er musste schnell handeln und schlug deshalb so fest, wie er konnte, auf den widerspenstigen Riegel ein. Er spürte die Wucht seiner Schläge bis in die Schulter.

Die eisige Wand gab nach. Ein Loch brach schon heraus, groß genug, dass der Bär seine Tatze und seine Schulter durchstecken konnte. Er brummte und knurrte, offenbar freute er sich, bald an eine Mahlzeit zu kommen. Auch Max stieß ein Knurren aus, während er auf den eingerosteten Riegel einschlug.

Inzwischen roch er den Bären schon. Von seiner Schnauze stiegen Atemwolken auf, er zwängte seinen Kopf tiefer durch das Loch. Dann trat er zurück und kratzte weiter, bis er seinen Körper mit den Hinterbeinen voran noch weiter hindurchschieben konnte.

Max spürte, wie der Riegel nachgab. Er schrie so laut, wie er konnte, legte alle Kraft in den nächsten Schlag und führte ihn mit voller Wucht aus. Endlich geschafft. Die Schulter gegen die Käfigtür stemmend, kam er hinaus. Der Bär stieß durch die Eiswand wie ein Stuntman, der durch ein Fenster springt. Eis zersprang in tausend Stücke, der Bär geriet ins Straucheln, und dann war er auf allen vieren und hielt auf Max zu.

»Nicht heute!«, schrie Max ihm zu. »NICHT HEUTE!« Und lachte wie ein Verrückter, als der Bär sich gegen die Eisentür drückte, die Max gerade noch hinter sich hatte schließen können. Nur wenige Meter von dem frustriert brummenden Bären sackte er zusammen und wiederholte sein Mantra – zu mehr war sein Kopf anscheinend nicht mehr in der Lage. »Nicht heute. Nein, nicht heute. Vielen Dank, nicht heute. Ich steh heute nicht auf der Speisekarte.«

Die Furcht entließ ihn zu guter Letzt aus ihren Krallen, nur die Kälte gab ihn noch nicht frei. Er war so erledigt wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er erschauderte und eine Woge der Erleichterung erfasste ihn. Tränen brannten ihm in den Augen. Er hatte solche Angst gehabt! Es war keine Schande, ein verletzlicher Mensch zu sein. Dad. Oh, Dad, ich hatte richtig total Angst. Max konnte nichts dagegen tun – sein Körper bebte plötzlich vor tiefen Schluchzern. Der Schrecken musste raus und brach sich in Tränen Bahn.

Max holte ein paarmal tief Luft. Jetzt ging es wieder. Er pustete den Schnee und die Spucke weg. Seufzte. Er war okay. Er war okay! Er sah bestimmt zum Fürchten aus. Völlig fertig saß er auf dem kalten Boden, seine Boxershorts halb über den Hintern runtergerutscht, einen Schuh an, den anderen aus, müffelndes Stroh in den Haaren, blau angelaufen und mit einer Gänsehaut. Und ihm gegenüber ein Monster von einem Eisbären, der ihn immer noch gern zum Abendbrot verspeisen wollte.

Von der Rutschpartie durch das eisige Wasser taten Max immer noch die Ohren weh; das Rauschen der Wasserrinne und das kurze, hechelnde Brummen des Bären vernahm er nur gedämpft. Auch gut. Ein bisschen Ruhe, das konnte er jetzt gut brauchen.

Max schnappte sich einen der leeren Säcke und rubbelte sich mit dem groben Leinen den ganzen Körper ab. Er musste unbedingt wieder warm werden, musste dafür sorgen, dass sich seine Körpertemperatur wieder erhöhte. Endlich spürte er, wie das Blut seine Haut zum Prickeln brachte. Das tat weh, als werde er mit tausend Nadeln gestochen, aber mit dem wieder einsetzenden Blutkreislauf kehrten Wärme und Wohlbefinden zurück. Während er sich anzog, stopfte er sich jedes bisschen Essen, das er finden konnte, in den Mund. Die faden Chips und das Wasser aus der Flasche, die er aus dem verlassenen Bus mitgenommen hatte, folgten. Jetzt fühlte er sich wieder halbwegs lebendig. Seine Turnschuhe waren zwar noch nass, aber mit den trockenen Socken und Sachen fühlte er sich schon gleich hundertmal besser.

Max sah sich um. Die riesige Halle war nach praktischen Gesichtspunkten angelegt und glich einem großen Lager. Leere Eisenkäfige, vielleicht zwanzig oder noch mehr, waren an den Wänden aufgereiht, wo der Eisbär immer noch hin- und herlief. Ruhende Maschinen, Holzpaletten, ein Gabelstapler, mit Salz gefüllte Säcke. Deswegen brannten die Schnitte und die blauen Flecke, die er abgekriegt hatte, so sehr! Offenbar schütteten sie Salz ins Schwimmbecken des Eisbären. Dann musste es auch einen Weg nach draußen geben! Ein Lastenaufzug erhob sich zwischen den leeren Käfigen, die Plattform offen und groß genug, um den Gabelstapler daraufzufahren, und zweifellos dafür genutzt, schwere Lasten nach hier unten zu transportieren.

Dann hörte Max ein Geräusch aus einem Käfig direkt unter dem Lastenaufzug. Es war leise, kaum hörbar über dem Rauschen des Wassers, das unablässig in die Tiefe stürzte. Es war eine menschliche Stimme. Jemand rief matt um Hilfe.

»Sayid?«, rief Max und rannte schon an ein paar leeren Käfigen vorbei dorthin, wo das Wimmern herkam.

Der Käfig war verschlossen, auf dem Boden war Stroh aufgeschüttet. Ein Körper lag zusammengerollt hinter den Gitterstäben, das Gesicht blau unterlaufen und mit Stoppeln und Schmutz bedeckt. Seine Augen suchten die von Max, seine Hände hoben sich um Hilfe flehend in die Höhe.

»Max«, flüsterte die heisere Stimme.

Max stand vor dem Gitter, der Schock machte ihn für einen Augenblick sprachlos. Der Mann, der dort in ramponierter Kleidung und blutüberkrustet lag, war Angelo Farentino.

 

Tischenko hatte nie jemanden körperlich angreifen müssen. Es hatte immer andere gegeben, die das für ihn erledigten. In den Höhlen und Hallen der Zitadelle hatte er eine Kernmannschaft bewaffneter Wachleute zur Verfügung. Die Männer stammten zum größten Teil aus Tischenkos Heimat und suchten Schutz in dessen Machtbereich. Wie ihre Väter vor ihnen gehörten diese Killer zu den Vucari – dem Stamm der Männer, die andere in Angst und Schrecken versetzten, indem sie sich den Aberglauben der Menschen zunutze machten oder direkt Gewalt anwendeten. Für das Privileg, zu einer Gruppe zu gehören, die im Grunde eine kleine Privatarmee war, taten sie alles, was ihnen befohlen wurde. Und einer dieser Kerle hatte dem Hai gerade den Kolben einer halbautomatischen Maschinenpistole in den Bauch gerammt.

Der Hai ging krachend zu Boden und blieb schmerzverkrümmt an der Wand liegen. Er hatte Tischenko treu gedient, seit der Mann mit der schuppigen Haut ihn und seine Gang vor acht Jahren auf den Straßen von Berlin aufgelesen hatte. Kinder wurden zu Killern. Und der Hai hatte sich seinen Ruf als kaltherziger Killer verdient, doch nun fügte ein noch kälterer, noch gemeinerer Mensch ihm Schmerzen zu.

»Der Anhänger ist wertlos! Ein Stein, ein gewöhnlicher Stein! Zabala ist nicht wegen irgendeines wertlosen Plunders gestorben!«, zischte Tischenko.

»Aber den hab ich dem Mädchen abgenommen. Was anderes hatte sie nicht«, beteuerte der Hai. Er überlegte fieberhaft, suchte nach einer Erklärung, wie das passieren konnte. Er war nur Sekunden von seinem Tod entfernt – doch dann rettete Max Gordon ihm unabsichtlich das Leben. Einer von Tischenkos Wissenschaftlern kam in den Raum.

»Jemand war in der Eishöhle. Die Wärmebilder zeigen, dass er durch einen Belüftungsschacht reingekommen sein muss«, sagte der Mann.

Tischenko drückte einen Knopf an einem Bedienungsfeld, der Bildschirm ging an, und der rote Schein eines menschlichen Körpers war zu sehen. Die verschwommene Gestalt bewegte sich langsam, die wärmeren Zonen ihres Körpers leuchteten – Kopf, Augen und Magen. Vor dem Hintergrund der eisig blauen Atmosphäre der Eishöhle war der rote Schemen eindeutig als Eindringling erkennbar.

»Und nun?«, fragte Tischenko den Wissenschaftler, als der rote Fleck in sich zusammenfiel und mit der Umgebung verschmolz.

»Er ist ins Wasser gestiegen.«

Unglaublich, dass jemand so etwas tun würde. Tischenko konnte für einen Augenblick keinen klaren Gedanken fassen. Aber dann verstand er plötzlich.

»Er ist bei den Käfigen.«

Diese Feststellung war ein Befehl. Bewaffnete Männer stürmten aus dem Raum. Hier unten gab es keine Wärmebilddetektoren, die waren hier nicht nötig. Die konstante Temperatur unter null Grad Celsius brauchte Tischenko nur für seine Privatsammlung.

Einer der bewaffneten Wachmänner blieb über dem Hai stehen, die halbautomatische Pistole im Anschlag, bereit für den tödlichen Schuss.

»Erschieß ihn nicht«, befahl Tischenko. »Noch nicht.«

 

Schockiert trat Max einen Schritt zurück. Das konnte nicht der Mann sein, dem er und sein Vater einmal ihr Leben anvertraut hatten.

»Max, bitte hilf mir. Viel Zeit ist nicht mehr«, keuchte Farentino. »Ich weiß, du musst mich hassen. Aber Tischenko will …«

»Halten Sie den Mund!«, sagte Max grob. In seinem Kopf wirbelten ein Dutzend Fragen durcheinander, obwohl jetzt nicht die Zeit war, sie zu stellen. Konzentrier dich! Denk daran, was du hier zu tun hast!

»Wo ist Sayid? Wo ist mein Freund?«

Farentino schüttelte langsam den Kopf, als überlege er. »Wer? Den kenne ich nicht.«

»Er ist vierzehn. Mein Freund. Er ist verletzt. Die haben ihn hierher verschleppt.«

»Woher soll ich das wissen? Max, kümmer dich nicht um ihn. Es wird eine furchtbare Katastrophe geben.«

Max wandte sich ab. Farentino schob den Arm durch den Käfig und bettelte verzweifelt.

»Max, Max, mein Junge, ich verstehe, wirklich, ich verstehe dich. Hör mir zu, bitte … Hör zu … ich war bei deinem Vater!«

Max machte auf dem Absatz kehrt, griff durch die Metallstäbe, packte den jämmerlichen Mann am Hemd und zog ihn näher heran. Farentino wand sich vor Schmerz.

»Lügner! Mein Dad hätte Sie verprügelt! Er hätte Sie getötet!«, schrie er und stieß den Mann in das stinkende Stroh zurück.

Max zitterte vor Wut. Das war Wahnsinn. Farentino hatte sich selbst in diese Lage gebracht, es war sein Problem, wie er hier rauskam. Max musste Sayid finden.

»Der Mann, der das hier alles zu verantworten hat, hat mich zu ihm geschickt. Er hat gedacht, du arbeitest für deinen Vater, seit du in den Pyrenäen warst. Ich musste ihn besuchen. Um mich davon zu überzeugen, dass du nicht für ihn arbeitest.«

Max blieb wie angewurzelt stehen. Die Fäuste zusammengeballt, die Beine zitternd vor Adrenalin, hätte er diesen elenden Italiener am liebsten zusammengeschlagen. Doch Farentino war in einem so kläglichen Zustand, dass Max ihm nichts antun konnte. Denn dann hätte er sich mit diesen Schlägern auf eine Stufe gestellt, und das kam nicht infrage. Er war schließlich kein Gangster, der sich blind von Rachegefühlen hinreißen ließ. In seinem Kopf tobte ein Konflikt, der schon Minuten zu dauern schien. Andererseits wollte er Farentino bestrafen. Vielleicht waren seine Instinkte ja doch so primitiv? Er schüttelte den Kopf.

»Sie sind es nicht wert, Farentino. Sie können meinetwegen hierbleiben, bis Sie verfaulen.«

Irgendwie musste Farentino Max von seinem Zorn abbringen. Er flüsterte los, als habe er ihm ein großes Geheimnis anzuvertrauen, und nötigte Max dadurch zum Zuhören. »Dein Vater, das ist viele Jahre her, du warst noch nicht auf der Welt – er wusste von diesem Gebiet hier, er gehörte zu einem Team. Hör mir zu, Max, du musst mir zuhören, denn davon hat mir dein Vater erzählt. Dein Vater

Max zögerte einen Moment. »Erzählt? Wovon?«, fragte er und sah, dass Farentinos Schultern erleichtert herabfielen, weil er Max am Haken hatte.

Farentino sprudelte und zischte die Wörter förmlich heraus. »Erdströme, natürliche elektromagnetische Wellen, Energieadern, die unter der Erdoberfläche liegen. Wie Haarrisse in der Erdkruste.«

Max verstand. Sein Dad hatte ihm das mal erklärt, als ihre Kompassnadel verrücktspielte. Diese elektromagnetischen Ströme wurden an verschiedenen Orten der Welt gemessen. Firmen nutzten die aus den Energieflüssen gewonnenen Daten für Voraussagen über Veränderungen der elektrischen Verhältnisse auf der Erde, für das Aufspüren von Erdölvorkommen und Verwerfungen – für alles Mögliche, von geothermischen Wasservorräten bis hin zu unterirdischen Vulkanen. Die Stärke dieser Ströme hatte Einfluss auf das Wettergeschehen, auf die atmosphärische Elektrizität, und ließ schwere Gewitter entstehen. Die Amerikaner nutzten sie im neunzehnten Jahrhundert sogar für ihr Telegrafensystem.

Und weiter?

»Das ist mir egal, Angelo. Das ist eine Nummer zu groß für mich. Ich kann weder Sie noch diesen Ort retten. Aber Sie können mir helfen, meinen Freund zu retten.«

Max wandte sich wieder zum Gehen. Irgendwo in diesem Felsenreich wurde Sayid Khalif gefangen gehalten, und Max brauchte all seine Kraft, wenn er seinen Freund retten wollte.

Farentino rief ihm nach. »Dieser Verrückte wird eine Explosion auslösen, die Genf zerstört! Die wird den ganzen See zerreißen! Das Kernforschungszentrum in die Luft jagen! Max! Warte! Die Schockwelle wird die Erde von hier bis Paris aufwerfen. In ein paar Stunden sind dieser Berg und die Hälfte der Alpen nicht mehr da! «

Farentino hatte Recht. Es waren nur noch ein paar Stunden Zeit. Das war Max bewusst. Die Zeit war ihm davongelaufen. Es war schon alles zu spät. Er wusste ja nicht einmal, wo Sayid sich befand, geschweige denn, wie er ihn hier rausholen sollte.

Was Max betraf, konnte Angelo Farentino zusehen, wie er allein zurechtkam. Doch es verunsicherte ihn schon ein wenig, dass er so kaltblütig war. Ohne ihn war der Mann dem Tod ausgeliefert.

Der Lastenaufzug kam in Bewegung. Irgendjemand auf einer höheren Ebene holte ihn per Knopfdruck zu sich herauf. Max rannte zu der langsam nach oben fahrenden Plattform. Noch einen Meter, dann hatte er die Hände am Aufzugsgerüst. Er würde unbemerkt nach oben mitfahren.

In diesem Augenblick ließ Farentinos verzweifeltes Schreien ihn erstarren.

»Deine Mutter! Ich weiß, wie sie gestorben ist. Wie sie wirklich gestorben ist! «