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Die imposanten Berge ragten wie schwarze Wächter in den Nachthimmel.

Auf dieser Seite der Montagne Noire lag erst oberhalb von achthundert Metern Schnee. Aber das mit kurzem Gras und Geröll bedeckte Gelände machte das Gehen mühsam, und so hielt sich Max bei seinem Weg bergauf an die verschlungenen Vieh- und Ziegenpfade, bis er endlich eine Zuflucht vor dem immer kälter werdenden Wind gefunden hatte.

Früher wurden diese aus Steinen errichteten Berghütten von Schäfern benutzt, wenn sie die Ziegen und Schafe zum Markt ins Tal brachten. Das Einsammeln der verstreut umherlaufenden Tiere konnte Tage dauern.

Seit drei Stunden war Max nun unterwegs, immer bergauf, nachdem Bobby den unteren Pass des Bergs überquert und ihn dann abgesetzt hatte. Max hatte in den vergangenen vierundzwanzig Stunden kaum geschlafen und war ungeheuer müde. Er hatte es so weit geschafft, und das alles wäre sinnlos gewesen, wenn er jetzt einen Fehler machte. Wenn er auf diesen steilen Hängen den Halt verlor und über die Felsen nach unten stürzte, würde er sich ernsthaft verletzen.

Max aß ein paar Brote aus seinem Rucksack. In der Hütte gab es auch Brennholz und einen kleinen Ofen, aber er hatte nicht vor, seine Anwesenheit durch Anzünden eines Feuers kundzutun. Er verzichtete auch darauf, in seinen Schlafsack zu steigen. Er wollte sich schnell aus dem Staub machen können, falls es plötzlich brenzlig werden würde.

Er zog den Ärmel hoch, um auf die Uhr zu sehen, aber die war ja nicht mehr da, die hatte ihm der sterbende Mönch vom Handgelenk gerissen. Es tut mir so leid, Dad. Ich konnte nichts machen. Ich hab’s versucht. Aber ich konnte ihm einfach nicht helfen. Einsamkeit überkam ihn wie ein Frösteln, als er an seinen Vater dachte. Sein Dad im Sanatorium, nicht mehr Herr seiner Sinne – in einem Zustand zwischen Wachen und Vergessen. Die Ärzte sagten, er werde wieder gesund, aber Max fürchtete, eines Tages könnte sein Dad ihn gar nicht mehr erkennen.

Max verdrängte diese Angst, aber sie war sein ständiger Begleiter und einer der Gründe, warum er auch dann immer noch weitermachte, wenn andere längst aufgegeben hätten. Zabala mochte ihn mit einem geheimen Vermächtnis ausgestattet haben, aber sein Vater hatte ihm ein viel größeres Geschenk gemacht – seine Liebe. Und darüber hinaus hatte er Max die Fähigkeit vererbt, sich einer Herausforderung zu stellen und einen Kampf bis zum Ende durchzufechten.

Max betastete den Anhänger. Der gab ihm keinen Anhaltspunkt, aber sein Geheimnis hatte zu einem Mord geführt.

Er kuschelte sich in das warme Heu, stellte seinen Wecker und hörte den weißen Kühen zu, die auf dem Hang Gras rupften. Sie trugen breite Ledergurte mit dumpf klingenden Glocken um den Hals und das eintönige Gebimmel wiegte ihn in den Schlaf.

 

Die Gipfel erstreckten sich einer hinter dem anderen bis zum Horizont. Der Nachtwind hatte Wolken und Smog aus der Luft gefegt und einen glasklaren Himmel zurückgelassen. Max’ Sonnenbrille mit den polarisierten Gläsern half ein wenig gegen das grelle Licht, trotzdem musste er, als er über die schneebedeckten Berge spähte, schützend eine Hand über die Augen halten. Nachdem er aufgewacht war, war er vier Stunden lang immer weiter den Berg hinaufgestiegen. Ein wenig kannte er sich von seinem Training her in dieser Gegend aus.

Er stieg vorsichtig durch das verschneite Geröll, und plötzlich tauchte vor ihm die Steinhütte auf, nach der er gesucht hatte.

Als er vor knapp zwei Wochen das letzte Mal hier gewesen war, hatte ein Schneesturm in kurzer Zeit dreißig Zentimeter Neuschnee gebracht. Damals hatte er sich einen ganzen Tag lang im Unterstand für das Vieh verkriechen müssen, bis die Sonne so viel Schnee weggeschmolzen hatte, dass er den Abstieg wagen konnte. Er hätte lieber in der Hütte Schutz gesucht, doch eine massive Tür hatte ihm den Zugang verwehrt.

Als er jetzt näher herankam, sah er, dass die Tür weit offen stand und knarrend im Wind hin- und herschlug. Papier war aus dem Inneren ins Freie gewirbelt worden; ein paar Blätter lagen durchweicht im Eingang, andere hatte es bis vor den Unterstand geweht. Ein Schaffell war zum Trocknen auf der Sonnenseite der Hütte aufgespannt, ein paar Jutesäcke hingen an Nägeln. Eine selbst gemachte Krücke – ein kräftiger Stock, an dessen oberem Ende ein flaches, blank geriebenes Stück Holz befestigt war – lehnte an der Mauer. War der Mönch einmal verletzt gewesen?

Max trat näher. Sein Blick glitt über die Täler und Berge. Auf der Wetterseite lag noch reichlich Schnee, an einigen Stellen vom Wind zu geschwungenen Halfpipes geformt. Der Traum jedes Snowboarders – für jemanden auf der Flucht ein Albtraum. Nur ein sehr geübter Skifahrer oder Snowboarder konnte es mit diesen Hängen aufnehmen, ohne böse zu Fall zu kommen.

Doch auf dem Hang, an dem Max jetzt emporstieg, war die Schneedecke nur wenige Zentimeter dick; dafür musste sie jenseits des Kamms, wo sich die feuchte Atlantikluft niederschlug, umso dicker sein. Er hatte erst im Auto und dann zu Fuß Stunden gebraucht, um hierher zu gelangen, aber ein guter Skiläufer konnte die Strecke bis zu den Bergen oberhalb von Mont la Croix vermutlich in einer halben Stunde bewältigen – vierzig Minuten, wenn er keine Eile hatte. Aber der Mönch war ein Meister auf Skiern, und er war auf der Flucht vor einem Mörder gewesen. Er war um sein Leben gefahren.

Wenn er auf der anderen Seite des Bergs zu Tal gefahren war, konnte er in weniger als einer Stunde dort aufgetaucht sein, wo Max nach Sayids Mis baha gesucht hatte.

Ein Schuss, eine Lawine und ein verzweifelter Schrei in einer uralten Sprache hatten Max dorthin gebracht, wo er jetzt war. Er bekam eine Gänsehaut.

Er drehte sich langsam im Kreis – dreihundertsechzig Grad – und spähte angestrengt in die Weite. Jemand beobachtete ihn. Das spürte er. Nichts regte sich. Hoch oben am Himmel kreiste ein schwarzer Fleck. Ein Adler. War es das? Sträubten sich ihm deshalb die Nackenhaare? Der einsame Raubvogel stieß einen gellenden Schrei aus, den der Wind zu ihm trug. Die Augen des Adlers sahen alles mit zweihundertfacher Vergrößerung, wenn er nach unten blickte. Er konnte Max’ Augen sehen, der zu ihm hinaufstarrte. Mit einer scharfen Wendung schwenkte er in die nächste Thermik ab.

Max ging zur Hütte zurück und die Ahnung von Gefahr schrillte in seinem Kopf wie ein Feueralarm.

Und sein Instinkt trog ihn nicht.

Der Mörder des Mönchs verfolgte aus über einem Kilometer Entfernung durch ein Präzisionsfernrohr jede einzelne seiner Bewegungen.

 

Max hatte sich das Innere der Hütte ganz anders vorgestellt. Zunächst einmal war sie größer, als sie von außen aussah. Dicke Mauern trotzten Kälte und Wind, und mochte Zabala auch Einsiedler gewesen sein, hatte er sich das Leben in dem kargen Gebäude doch so angenehm wie möglich gemacht.

Ein Polstersessel, Bücherregale, ein Kofferradio, Öllampen und ein Ofen – was konnte ein Einsiedler mehr verlangen? Ein stabiles Bett mit einer dicken Matratze, Daunendecke und rotem Überwurf nahm eine Ecke des Raums ein und plötzlich empfand Max so etwas wie Neid. Das musste ein behaglicher, warmer, sicherer Ort gewesen sein. Jedenfalls bevor hier jemand alles verwüstet hatte. Nur das Bett stand noch an seinem Platz; alles andere war umgeworfen. Die Regale lagen zertrümmert am Boden, Bücher waren zerfetzt, sogar der alte Teppich auf dem Steinboden war umgeschlagen. Max legte automatisch den Handrücken an den Ofen. Eiskalt, natürlich. Ein kalter Kamin ist so einladend wie ein Grab. Woher er diesen Spruch kannte, wusste er nicht mehr, aber die Aussage war nicht zu bestreiten. Er legte den Rucksack ab und begann sich in dem Chaos umzusehen. Er hob ein paar Bücher auf, aber jeder Versuch, hier aufzuräumen, war sinnlos.

Es sah aus, als sei ein Sturm durch die Hütte gefegt. Ein Minitornado, der alles von den Wänden geschleudert hatte. Der Sessel war aufgeschlitzt, die Füllung herausgerissen. Die Matratze war an einer Längsseite aufgeschnitten, Bücher aus ihren Einbänden gerupft. Spitze Glasscherben ragten aus zerschmetterten Bilderrahmen.

Blinder Vandalismus. War das der Mörder des Mönchs gewesen oder konnte es sein, dass hier ein Bär gewütet hatte? Es gab hier oben ja Bären. Der Klimawandel hatte zur Folge, dass sie nicht mehr wie früher Winterschlaf hielten. Ein hungriger Bär könnte das durchaus angerichtet haben.

Max entdeckte kleine dunkle Flecken an der weiß getünchten Wand, besonders viele am Rand der Matratze und einige dickere Tropfen am Boden. Als er mit den Fingern darüberstrich, war gleich klar, worum es sich handelte: Blut.

Überall waren Kampfspuren zu sehen. Zabala, ein großer, starker Mann, musste seinen Gegner mit einem Schlag außer Gefecht gesetzt haben. Das hatte ihm Zeit gegeben, sich die Skier anzuschnallen und zu fliehen. Nach der Lawine war der Mörder hierher zurückgekommen und hatte hektisch nach etwas gesucht – aber was? Max befühlte den Anhänger. Das musste es gewesen sein.

Er bückte sich und wühlte in den Trümmern. Da war kaum noch etwas zu retten und nichts dabei, das irgendeinen Wert zu haben schien. Auch nichts, das Max einen Hinweis auf Zabalas Geheimnis gab. Die Bücher waren aus allen möglichen Wissensgebieten. Er sah sie sich genauer an. Quantenphysik, Astronomie, Astrologie, Religion, Mythen und Legenden, Umweltschutz, Tierpsychologie. Der Mönch war ein sehr belesener Mann gewesen.

Einzelne Blätter eines Sammelalbums lagen umher, auf die verblichene Zeitungsausschnitte geklebt waren. Sie handelten von Zabala. Er sammelte alle auf, die nicht zerrissen waren, faltete sie zusammen und steckte sie ein, um sie später zu lesen – jetzt aber hatte er erst einmal etwas Interessanteres entdeckt.

Max hob einen der zerbrochenen Fotorahmen auf. Vorsichtig entfernte er die Glassplitter und fluchte, als er sich dabei in den Finger schnitt. Verdammt! Kleine Schnittwunden schienen immer heftiger zu bluten als große. Er zog sein Halstuch über den Kopf, bekam aber mit einer Hand den Knoten nicht auf. Der Finger blutete stark; Max wischte die Hand an dem alten Sessel ab. Ein Stück Tuch lag zwischen den Papieren, er nahm es und wickelte es hastig um den tropfenden Finger. Er hatte eine kleine Erste-Hilfe-Ausrüstung im Rucksack – aber der Finger konnte noch warten. Zuerst musste er sich das Foto etwas genauer ansehen.

Behutsam entfernte er die restlichen Glasscherben und trat mit dem Foto ans Fenster. Der alte Schwarz-Weiß-Abzug sah aus, als sei er vor mindestens zwanzig Jahren gemacht worden. Die zwei Männer auf dem Bild standen nebeneinander und blickten lächelnd in die Kamera. Sie trugen lange Hosen und langärmelige Hemden. Die Sonne schien; sie hatten die Augen in dem grellen Licht halb geschlossen. Jeder hatte einen Arm um die Schultern des anderen gelegt und hielt ein Klemmbrett in der feien Hand, also war dies wahrscheinlich kein gestelltes Foto, sondern eher ein Schnappschuss, den irgendwer zufällig gemacht hatte. Fürs Fotoalbum. Der größere der beiden Männer hatte genau solche buschigen Augenbrauen, wie Max sie erst vor zwei Tagen gesehen hatte. Das konnte nur Zabala sein. Er war glatt rasiert und trug die Haare kurz geschnitten.

Der Mann neben ihm war hager und so blass, dass es sogar auf dem schlechten Foto zu sehen war. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er hielt den Kopf leicht nach hinten geneigt – er lachte. Offenbar freuten die beiden sich über etwas. Das Foto war aus wenigen Metern Entfernung aufgenommen worden. Die beiden Männer füllten es fast ganz aus. Trotzdem konnte Max erkennen, dass sie vor einem Torbogen standen, vor einem schmalen Durchgang, wie der Eingang zu einem alten Gebäude. Die Spitze des gotischen Bogens über den Köpfen der Männer war abgeschnitten und der Hintergrund war unscharf, aber am linken Bildrand, halb von dem hageren Mann verdeckt, war noch etwas zu erkennen, dicht am Boden, etwas Geschwungenes mit gezackten Umrissen, an einem Ende aufgeklappt. Ein Krokodil aus Stein.

Die Abtei! Wo Zabala und der andere Mann gelebt und gearbeitet hatten.

Ein Schrei riss ihn aus seinen Betrachtungen.

Max drehte sich um und lief zur Tür. Noch ein Schrei. Nicht von einem Menschen. Max rannte ins Freie. Als ob er direkt aus der Sonne käme, schoss der Adler im Sturzflug auf ihn zu. Starrte ihm direkt in die Augen, streckte ihm seine Krallen entgegen. Instinktiv riss Max das Schaffell von der Mauer, schlang es sich um den Arm und hielt es dem Raubvogel entgegen.

Der Adler schoss mit hohem Tempo auf ihn zu. Max würde den Aufprall nicht abfangen können. Aber dann breitete der Vogel seine mächtigen Schwingen aus, bremste abrupt ab und grub die gebogenen Krallen tief in das Schaffell.

Er schlug noch einmal mit den Flügeln, bis er das Gleichgewicht gefunden hatte. Max konnte das schwere Tier kaum halten. Die Krücke. Natürlich. Dazu hatte Zabala sie benutzt. Max nahm sie und stützte seinen Arm darauf ab.

Der Vogel schien zufrieden. Und auf einmal war das Hämmern in Max’ Brust nicht mehr Ausdruck von Angst, sondern von Begeisterung. Auf seinem Arm saß der König der Lüfte, und dieser gewaltige Vogel wandte ihm den Kopf zu und sah ihm mit wachsamen Augen ins Gesicht. So mussten sich Herrscher längst vergangener Reiche gefühlt haben. Hoch über dem Rest der Welt. Max empfand ein Gefühl von Macht. Er lachte. Der Vogel schien das zu missbilligen. Er öffnete den Schnabel, drehte den Kopf zur Seite und stieß einen gellenden Schrei aus.

Dass der Adler so ohne Weiteres auf seinem Arm gelandet war, konnte nur bedeuten, dass er es bei dem Mönch auch so getan hatte. Max sah sich um. An der Wetterseite des Viehstalls befand sich ein aus Steinen gemauerter Bereich, in dem Abfalleimer standen – große Behälter mit schweren Holzdeckeln, massiv wie die Eingangstür der Hütte, und mit gefrorenem Schnee bedeckt.

Unwahrscheinlich, dass hier oben die Müllabfuhr vorbeikommt. Also, was wird darin aufbewahrt? Max schwankte unter dem Gewicht des Adlers, stützte seinen Arm wieder ab und hob mit der freien Hand einen der Deckel an.

Eine perfekte Speisekammer bot sich ihm dar: Auf Brettern lagen Stücke von Lammfleisch, an Nägeln hingen tote Berghasen, manche ausgeweidet, andere nicht, keiner gehäutet. Weiter unten waren Obstgläser und Konservendosen verstaut und auf einer Seite lagerten Ziegen- und Rehkeulen. Dort sah es weniger ordentlich aus. Fast so, als habe man die toten Tiere einfach in Stücke gehackt und dort hineingeworfen – vermutlich Aas, in den Felsschluchten aufgesammelt, denn Max hatte in der Hütte keinerlei Waffen gesehen.

Citeaux, hatte die Krankenschwester gesagt. Ein Ort, an dem nur wilde Tiere leben. Deswegen kam der Adler. Weil Zabala ihn gefüttert hatte, wenn in den Bergen nicht viel für ihn zu holen war. Max nahm einen der Hasen und hielt ihn dem Adler hin, der sofort mit seinem krummen Schnabel danach schnappte. Max ging in Deckung, als der Vogel seine Schwingen ausbreitete, den Hasen mit den Klauen packte und sich nach einigen trägen Flügelschlägen dreißig Meter entfernt auf einem Felsen niederließ, um in Ruhe seine Mahlzeit zu genießen.

Max rieb sich den Krampf aus dem Arm und blickte sich um. Er kannte sich mit Raubvögeln nicht aus, aber Tiere hatten feste Gewohnheiten. Sie jagten oder schliefen, wenn ihre innere Uhr es verlangte. Der Adler war bestimmt nicht das einzige Tier hier in der Nähe. Er suchte die Schneefelder und die Geröllflächen mit den Augen ab.

Sei geduldig. Warte, ob sich irgendetwas bewegt. Immer mit der Ruhe. Bleib still.

Da! Eine kaum merkliche Bewegung. Max wölbte die Hände neben seinen Augen, um störendes Licht auszublenden und sich ganz konzentrieren zu können.

Ein paar Hundert Meter entfernt hatte sich ein riesiger Braunbär zu voller Größe aufgerichtet. Max schätzte ihn auf fast drei Meter. Sein dunkles Fell war mit helleren, fast blonden Haaren durchsetzt. Er ließ sich auf alle viere nieder, scharrte im Schnee und schnüffelte am Boden entlang. Der Bär hatte die Felsen als Deckung benutzt, um sich so nah an die Hütte heranzuschleichen. Er hatte einen Menschen gewittert, aber es musste ein anderer sein als sonst, er roch nicht so streng. Jetzt suchte der Bär nach Nahrung.

Plötzlich richtete sich das Tier wieder auf. So ein Bär war verdammt schnell auf den Beinen. Falls er sich zum Angriff entschloss, würde er Max in null Komma nichts erreicht haben. Ob er großen Hunger hatte? Normalerweise legen Bären für den Winterschlaf einen Vorrat an Früchten und Beeren an, aber auch hier hatte der Klimawandel den natürlichen Kreislauf durcheinandergebracht. Auf den unteren Hängen blühten bereits Frühlingsblumen, also hatte er im Tal vielleicht schon etwas fressen können. Braunbären waren eine geschützte Spezies, aber das hielt die Bauern nicht davon ab, sie abzuschießen, wenn sie ihre Schafe gefährdet sahen. Max sah den Bären mit wiegendem Gang auf sich zukommen. Alle paar Meter blieb er stehen und schnüffelte in die Luft.

Vielleicht hatte ja der Bär in der Hütte gewütet. Offenbar hatte Zabala regelmäßig die wilden Tiere des Bergs gefüttert, und sie konnten nicht wissen, dass er nicht mehr da war. Das Ganze hier glich eher einem Zoo als der Einsiedelei eines Mönchs.

Fünfzig Meter entfernt hielt der Bär an, stellte sich auf die Hinterbeine und brüllte. Max erstarrte. Das schien keine freundliche Begrüßung. Okay. Nicht weglaufen. Keine Dummheiten. Und sieh ihm nicht in die Augen! Wenn Menschen es mit wilden Tieren zu tun bekamen, begingen sie oft den Fehler, nicht mit ihrem natürlichen Angriffsverhalten zu rechnen. Dabei war es ganz einfach. Man war in ihr Revier eingedrungen. Der Bär kam noch näher und schwenkte dabei den Kopf hin und her wie eine Radarschüssel, um Max’ Bewegungen und Geruch zu erfassen.

Nichts wie weg. Aber irgendetwas hielt ihn zurück. Eine plötzliche Erkenntnis, die ihn davon abhielt, langsam zurückzuweichen. Der Wind hatte sich gedreht. Und jetzt wehte Max der warme, modrige Geruch des Bären in die Nase. Sein feuchtes Fell roch wie nasser Hund, vermischt mit dem Duft von altem Laub. Der Geruch weckte die Erinnerung an das, was Max in der Lawine erlebt hatte. Das Gefühl, lebendig zu sein. Und das Gefühl, über enorme Kräfte zu verfügen, die er eigentlich gar nicht besaß. Als sei er selbst ein Bär.

Fasziniert von dem gewaltigen Tier, versunken in seine Erinnerung, verstieß Max gegen die goldene Regel. Vor ihm stand eins der gefährlichsten Tiere der Welt, und er starrte ihm direkt in die Augen. Der Bär starrte zurück, riss das Maul auf, zeigte die Zähne. Speichel troff von seinen Lefzen. Wenn ihn dieses Menschlein herausforderte, würde er sich dem Kampf stellen. Max hörte den dumpfen Aufprall, als der Bär sich auf alle viere niederließ – und zum Angriff überging.

Bären können so schnell laufen wie Pferde und sie sind so stark, dass sie auf der Suche nach Nahrung mühelos ein Auto zerfetzen – und sie lassen nicht mit sich reden.

Max fasste einen spontanen Entschluss. Er wusste, er konnte dem Bären nicht davonlaufen oder gar gegen ihn kämpfen, aber er konnte ihm etwas anbieten, das ihn abhielt, ihn in Stücke zu reißen. Er warf sich auf die Erde. Der Bär raste grunzend auf ihn zu. Fünf Meter, drei … noch ein Schritt, und er war über ihm und hatte ihn in seinen Pranken. Max wälzte sich blitzschnell auf den Rücken und trat mit beiden Beinen gegen die Luke des Verschlags, in dem die Lebensmittel gelagert waren.

Holz splitterte. Ein Brett flog aus den Angeln. Max drehte sich weg. Der Bär war über ihm.

Sei ein Igel!, schrie eine Stimme in seinem Kopf. Roll dich zusammen, leiste keinen Widerstand.

Er musste seinen ganzen Willen aufbieten, um der Stimme zu gehorchen. Der Bär rollte ihn mit den Tatzen hin und her, beschnüffelte mit geiferndem Maul und stinkendem Atem seine Brust, aber Max behielt die Arme fest vor dem Gesicht verschränkt und die Knie hochgezogen. Er bekam einen Tritt oder jedenfalls fühlte es sich so an – der Bär hatte ihn angestupst wie ein Spielzeug – und die Wucht des Schlags schleuderte ihn durch die Luft.

Max würde diesen Angriff nicht überleben.

Er riskierte einen Blick zwischen seinen Armen hindurch und sah, dass der Bär, nachdem er ihn ein paar Meter zur Seite geworfen hatte, nun aus unerfindlichen Gründen zögerte, seine Attacke fortzusetzen. Er hob den Kopf, schnüffelte und starrte Max an. Die nächsten Sekunden waren entscheidend für Max’ Überleben. Die Hütte war unerreichbar und der Bär schien kein Interesse an den Vorräten zu haben, die nur fünf Schritte entfernt hinter der zertrümmerten Klappe des Vorratsbunkers auf ihn warteten.

Max hatte nur eine Chance.

Er stand auf, stellte sich dem Ungeheuer entgegen und schrie, so laut er konnte. Der Schrei schwoll zu einem donnernden Gebrüll an, das wie ein Nebelhorn aus seiner Brust dröhnte.

Der Bär hielt inne.

Max rannte zu dem Vorratsbunker. Eins, zwei, drei Schritte. Vier …

Der Bär stürmte wutentbrannt seiner fliehenden Beute nach.

Fünf!

Max warf sich auf die Kadaver: Rümpfe, Keulen und Köpfe von Schafen, Ziegen und Rehen. Nicht alle waren steinhart gefroren und es stank entsetzlich. Und schon war auch der Bär da. Das Mauerwerk widerstand seiner Kraft, sodass er nur eine Tatze und den Kopf zum Eingang hineinstecken konnte. Max schob sich nach hinten, um außer Reichweite zu gelangen, stieß aber bald an die Rückwand. Der Verschlag war nur anderthalb Meter tief. Noch ein kräftiger Stoß mit der Tatze und der Bär schlug ihm seine Krallen in den Kopf wie in eine reife Pflaume.

Als der Bär mit der Schnauze auf die Kadaver stieß, brachen sich plötzlich seine Instinkte Bahn. Er zerrte eine Rehkeule ins Freie, klemmte sich das Fleisch zwischen die Kiefer und zog zufrieden davon – jetzt, wo er seinen Hunger stillen konnte, war die Wut schnell verraucht.

Max wartete noch eine Weile, bis er sicher sein konnte, dass der Bär sich hinter die weiter entfernten Felsen zurückgezogen hatte. Dann kroch er aus dem Vorratsbunker und sah nach, ob noch alles in Ordnung mit ihm war. Der Bär hatte praktisch nur mit ihm gespielt. Die Krallen hatten den Rücken seiner Jacke aufgeschlitzt und Federn quollen daraus hervor und flogen mit dem Wind davon wie Löwenzahnsamen. Max tastete seinen Hinterkopf ab, und als er schließlich seine Hand besah, klebte Blut daran. Der Gestank in seinen Kleidern schien seinen ganzen Körper zu durchdringen.

Der Kampf mit dem Bären hätte schlimmer ausgehen können. Er hatte sich weder ein Bein noch das Genick gebrochen, er lag nicht hilflos auf diesem Berg und wartete nur noch auf den Tod. Adler, Wölfe, Geier, Regen und Wind würden ihn nicht bis auf die Knochen abnagen. Er hatte Glück gehabt.

Bruder Zabala war ein wilder Mann der Berge gewesen. Seine Überlebenskünste hatten ihm geholfen, sich hier oben durchzuschlagen, und obendrein war es ihm gelungen, sich mit den wilden Tieren hier zu verbünden. Um das zu erreichen, musste man sehr zäh und klug sein.

In der Bergwildnis hatten Tag für Tag Gefahren auf ihn gelauert, aber erst ein noch grausamerer Eindringling hatte ihm den Tod gebracht. Die Brutalität eines Menschen war erschreckender als die natürlichen Instinkte eines wilden Tieres.

Nachdem Max jetzt die Hütte des Mönchs gefunden und das Foto gesehen hatte, war ihm der Mann ein noch größeres Rätsel als zuvor. Vielleicht war der Entschluss, Einsiedler zu werden, gar keine so einfache, unkomplizierte Sache. Zabala, ein gebildeter Mann, hatte ganz bewusst entschieden, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen und sein Geheimnis für sich zu behalten. Und dann hatte er dieses Geheimnis an Max weitergegeben – Luzifer und den Anhänger.

Nun, bis hierhin hatte Max es geschafft. Er hatte herausgefunden, wer der Mönch war, wo und wie er gelebt hatte, und das alles hatte ihm zu neuen Erkenntnissen über den Mann verholfen.

Er schaute über die Gipfel. Am Morgen würde es schneien. Die lange, weiche Linie der mit Niederschlag gefüllten Wolke am Horizont würde übers Meer heranziehen, von der kalten Gebirgsluft zusammengedrückt werden und Schnee auf die tiefer gelegenen Hänge abwerfen. Die Vorräte würden Max fürs Erste reichen, aber er hatte keine Lust, tagelang hier oben eingeschneit zu bleiben.

Die Wirkung des Adrenalins in seinem Blut ließ allmählich nach und auf einmal war er furchtbar müde. Er musste sich jetzt zum Handeln zwingen, denn wenn er nicht sofort etwas tat, würde er den bequemeren Weg wählen: Feuer im Ofen anzünden, sich in der Hütte hinlegen und einmal richtig ausschlafen. Aber Max musste sich in Ordnung bringen und dann Richtung Küste aufbrechen.

Manche Dinge tut man, weil man sich dafür entscheidet, und andere, weil man weiß, sie müssen getan werden, so unangenehm es auch sein mag. Max sah nicht nur verboten aus, er stank auch fürchterlich, und wenn er so durch die Dörfer ging, würde er nur den Argwohn der Bewohner wecken, die dann womöglich die Polizei alarmierten.

Also, nicht länger darüber nachdenken, davon wurde es nur noch schlimmer. Er musste sich beeilen.

Max zog sich aus. Nur seine Stiefel, Strümpfe und Unterhose ließ er an – die Boxershorts mit dem Mondgesicht. Die eisige Luft biss ihn wie tausend Ameisen, doch als er dann mit den Händen Schnee schaufelte und seinen Körper damit abrieb, schien die Kälte in Hitze umzuschlagen. Er jaulte auf, dann musste er lachen. So was Verrücktes, aber nur so konnte er sich das angetrocknete Blut von der Haut schrubben und seine schmerzenden Gliedmaßen wieder beleben.

»Juhuuu! «, schrie er in die stillen Weiten der Berge. Er wusch sich die Haare mit Schnee und tastete sorgfältig seinen Hinterkopf ab. Keine neue Wunde. Das klebrige Blut stammte von einem der toten Tiere. Plötzlich bekam er eine Gänsehaut; der Wind hatte gedreht und kam jetzt von den Schneefeldern herauf, was ihn noch kälter machte.

Max war recht zufrieden mit sich. Er hatte Zabalas Versteck in den Bergen gefunden und mehr über den Mann selbst in Erfahrung gebracht; dazu kam das Foto, das einen Hinweis auf die geheimnisvolle Abtei zu geben schien. Außerdem hatte er einen wilden Adler gezähmt und den Angriff eines Bären überlebt.

Er warf den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Wolf, dann breitete er die Arme aus und tanzte stampfend durch den Schnee. Max Gordon! Der einzige Junge auf dem Dach der Welt!

Er bleckte die Zähne und grunzte wie ein Schwachsinniger, nur um noch mehr zu lachen. Und dann, als er sich bückte, um seine Kleider aufzusammeln, bemerkte er den Schatten.

Blitzschnell fuhr er hoch.

Da stand jemand und beobachtete ihn. Sophie Fauvre.