13

Max zog sich den Anhänger über den Kopf und betrachtete den blinden Stein. Er drehte den Messingring hin und her, hielt ihn ins Mondlicht und dann ins Dämmerlicht des Observatoriums, vermochte aber nichts Besonderes daran zu erkennen. Aber wenn der Anhänger wie ein Stern um den Hals des Einsiedlers hing – was hatten dann die anderen beiden Sterne auf dem Gemälde zu bedeuten?

Max wusste, er riskierte viel. Es war schon spät. Womöglich kam der Franzose noch einmal zu einer Kontrollrunde zurück, und ob die Sicherheitslampen die ganze Nacht anblieben, stand auch nicht fest.

»Sayid, lass mich auch mal da reinschauen.«

Sayid rutschte auf dem Sitz nach hinten und kletterte umständlich heraus.

»Ja, versuch du es mal. Ich konnte nicht viel erkennen. Das ist das Dumme mit den Sternen – sie sind zu weit weg. Und der Mond ist viel zu hell, auch wenn man ihn nicht mit im Bild hat.«

Max glitt auf den Sitz, schob sich unter das abgewinkelte Okular und kniff ein Auge zu. Dann schwenkte er das Teleskop nach unten, dorthin, wo er die Pyrenäen vermutete, aber er war zu hastig, und jetzt verschwamm alles vor seinem Auge. Als er es noch einmal versuchte und dabei den Mond ins Blickfeld bekam, tränten ihm die Augen. Schwierig. Das würde länger dauern. Beim nächsten Versuch nahm er sich vor, höchstens ein paar Minuten lang den Himmel abzusuchen.

Er musste den Fokus immer wieder nachstellen, schwenkte das Teleskop hin und her, rauf und runter, sah aber nichts Auffälliges. Als er schon frustriert aufgeben wollte und den Kopf hob, um aufzustehen, schlug der an seinem Hals baumelnde Anhänger an das Okular und verfing sich beinahe daran.

Er schob ihn unter sein Halstuch zurück und dann entdeckte er an dem Okular etwas, das er aus der Nähe gar nicht bemerkt hatte. Ein Gewinde. Ähnlich wie im Objektiv einer Kamera, in das man Filter einschrauben konnte. Hier allerdings mit sehr kleinem Durchmesser.

Er zog sich die Schnur mit dem Anhänger über den Kopf und hielt den Messingring an die Öffnung. Er passte genau. Behutsam drehte er ihn hinein, bis er fest mit dem Okular verbunden war.

Als er jetzt hindurchspähte, zeigte sich der Stein als glänzender, dunkler Kristall, in den Zahlen und ein Diagramm eingeritzt waren.

Der blinde Stein hatte sein Geheimnis im Schimmer des Mondlichts offenbart.

»Sayid! «, flüsterte Max aufgeregt, ohne das Auge vom Okular zu nehmen. »Ich sag dir ein paar Zahlen. Schreib sie auf. Schnell!«

Sayid nahm das Blatt Papier mit dem magischen Quadrat. »Okay«, sagte er.

»Lass zwischen den Zahlen immer etwas Platz … 7, dann 24 und 8. Dann ein Strich. Dann 10, 4, 9, 12, 25. Noch ein Strich. Hast du das?«

»Hab ich.«

»Dann 7, 11, 9 und 17. Das wär’s.«

Sayid wiederholte die Zahlen mitsamt den Strichen und Zwischenräumen laut.

Max sah noch etwas anderes, aber nur verschwommen. Wer auch immer diese winzigen Zeichen in den Stein geritzt hatte, musste eine Engelsgeduld gehabt haben – das war das Werk eines geschickten Handwerkers. Oder eines entschlossenen Wissenschaftlers.

Max drehte ein wenig an dem Okular. Jetzt verschwammen die Zahlen, dafür wurde der Rest scharf.

Er sah zu Sayid auf. »Hier ist eine Zeichnung eingeritzt. Gib mir was zu schreiben, bitte.«

Max begab sich wieder unter das Okular, und Sayid nahm eine alte Aktenmappe aus dem Regal, riss den Deckel ab und reichte ihn Max zusammen mit seinem Kugelschreiber.

Mitten in der Bewegung hielt er inne. »Ich glaub, ich hab was gehört«, flüsterte er.

»Was denn?«

Sayid schüttelte den Kopf. Sie horchten. Alles war still, nur der Wind pfiff schaurig um das düstere Gemäuer.

»Geh zur Tür, Sayid. Falls du was hörst, sag Bescheid. Ich muss mich konzentrieren.«

Sayid tat wie geheißen, und Max legte wieder ein Auge an das Okular.

Er nahm die Pappe auf den Schoß und zeichnete möglichst genau ab, was er sah: ein flaches Dreieck in einem Kreis. Sehr ähnlich, wenn nicht identisch mit der Zeichnung, die er vorhin gefunden hatte. Nur, dass hier die Spitzen des Dreiecks mit Buchstaben versehen waren – E, S und Q.

Wieder war Max der Lösung des Rätsels einen Schritt näher gekommen. Dies war ein wichtiger Teil des Vermächtnisses, das der sterbende Mönch ihm hinterlassen hatte. Nach kaum einer Minute war er mit der groben Skizze fertig. Er schraubte den Anhänger aus dem Okular, faltete die Zeichnung zusammen und steckte sie in seine Jackentasche.

Zeit, zu gehen!

Er kletterte unter dem Teleskop hervor, schloss das Fenster und lief zu Sayid.

»Sayid, ich bin fertig. Wir verschwinden jetzt besser.« Zu spät!

Max sah den gespenstischen Schemen eines Mannes die Treppe hinaufkommen. Es war der Deutsche. Und er grinste. Sofort war Max klar, dass nur er die Alarmanlage ausgeschaltet haben konnte.

»Sehr gut, Max. Wir hatten vergeblich danach gesucht.«

Die Erkenntnis traf Max wie ein Schlag: Der Mann und die Frau hatten gewusst, dass er heute in das Château kommen würde. Woher? Wer hatte es ihnen gesagt? Aber das war im Augenblick nicht so wichtig. Max hatte ihnen in die Hände gespielt, und sie hatten im Dunkeln gewartet und ihm so viel Zeit gelassen, wie er brauchte, um dem Geheimnis des Mönchs auf die Spur zu kommen.

Der Schock war schnell überwunden. Max drängte sich zwischen den herantretenden Deutschen und Sayid, steckte seinem Freund Bobbys Handy zu und schob ihn fort, Richtung Schlafzimmer des Châteaus. »Geh, Sayid! Ruf Bobby an!«, zischte er.

Sayid stakte auf seinen Krücken wie ein dürres Insekt in Todesangst den Gang hinunter.

Der Mann schüttelte den Kopf und zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an.

»Max, es hat keinen Sinn, ihr könnt nicht fliehen.« Er sah dem Rauch nach, der sich in dem mondhellen Treppenhaus träge nach oben kräuselte, und sagte schulterzuckend: »Ich bin nicht allein.«

Aus der Dunkelheit sprangen zwei Gestalten an dem Mann vorbei die Treppe hinauf. Junge Männer in Motorradkluft. Der eine mit einer Motorradkette bewaffnet, der andere mit einer kurzen Eisenstange – einem Schraubenschlüssel. Die führten offensichtlich nichts Gutes im Schilde. Der Hai war nicht dabei, aber Max hatte diese Kerle damals in seiner Gang gesehen.

»Bringt ihn nicht um. Noch nicht. Holt euch erst den verletzten Jungen«, rief der Deutsche.

Max wusste, wenn sie Sayid bekamen, würden sie ihm solche Schmerzen zufügen, dass er, Max, seine Seele verkaufen würde, damit sie aufhörten.

Aber er dachte nicht daran, einfach wegzulaufen. In Schwierigkeiten? Tu immer das Unerwartete, Max. Die Stimme seines Vaters. Max lächelte. Er sah die beiden Kerle an. Eine Kette und ein Schraubenschlüssel? Er musste sich was einfallen lassen. Er schnappte sich einen äthiopischen Schild und ein gefährlich aussehendes Antilopengehörn von der Wand und griff an, sprang die letzten drei Treppenstufen mit einem Satz hinunter und stürzte sich auf die verblüfften Schläger. Der Deutsche drehte sich um und rannte los, einer der Männer geriet hinter ihm ins Stolpern und trat ihm in die Beine, sodass sie beide zu Boden gingen. Der Deutsche schrie vor Schmerz und Wut auf.

Der zweite Schläger fand sein Gleichgewicht wieder und schwang die Kette nach Max’ Kopf. Max duckte sich, riss den Arm hoch, spürte und hörte die Kette auf den Schild krachen und sprang nach vorn. Die Augen des Angreifers weiteten sich, als Max ihm an die Kehle ging. Er schwankte, machte einen Schritt rückwärts und stieß ans Geländer. Max rammte die Antilopenhörner nach vorn und traf ihn so, dass sie ihm links und rechts am Hals vorbeigingen und ihn am Treppenpfosten festnagelten, unmittelbar neben einem der Ungeheuer, die darin eingeschnitzt waren. Und in dem schwankenden Licht sah es fast so aus, als grinste es höhnisch über den dummen Kerl, der zum Fressen nah an seinem Rachen zappelte und nicht weg konnte.

Kaum war der Schläger außer Gefecht, als aus der Dunkelheit etwas herangezischt kam.

Max fuhr herum, hob den Lederschild – ein Messer schlug ein und blieb darin stecken.

Der Deutsche schrie von unten einen Befehl:

»Wir brauchen ihn lebend!«

Aber lautes Trampeln sagte Max, dass junge Leute nicht immer das tun, was die Erwachsenen ihnen sagen, auch wenn sie noch so gut dafür bezahlt werden. Die ersten Gestalten tauchten undeutlich vor ihm auf. Er sah ihre Messer im Mondlicht aufblitzen. Max hatte nur den Schild zu seiner Verteidigung. Und der würde ihm nicht lange helfen. Er drehte sich um und lief los, aber ein harter Aufprall an der Wand neben ihm ließ ihn sofort wieder innehalten. Ein Pfeil war vor den Angreifern vorbeigeschossen. Max blickte auf. Sayid stand an das Geländer gestützt, einen kurzen afrikanischen Jagdbogen in den Händen, und schickte bereits den nächsten Pfeil die Treppe runter. Er traf eins der geschnitzten Ungeheuer in den Kopf. Die Schläger wichen zurück und gingen in Deckung. Max nutzte die Chance.

Mit wenigen Schritten war er an Sayids Seite.

»Mehr Pfeile waren nicht da«, sagte Sayid zitternd vor Anstrengung, Angst und Aufregung.

Max schob ihn bereits wieder in das Schlafzimmer zurück. Er hatte genug getan, um die Angreifer fürs Erste zurückzuschlagen.

»Du hast mir das Leben gerettet, Sayid.«

Sayid lächelte. »Tatsächlich?«

»Ja. Obwohl – nur ein paar Zentimeter näher, und du hättest mich getötet.«

»Ich hab noch nie mit einem Bogen geschossen«, erklärte Sayid, als Max hinter ihnen die Tür zumachte.

»Wäre ich nie drauf gekommen«, ächzte Max, während er eine große antike Kommode vor die Tür wuchtete. Er musste seine ganze Kraft aufwenden, aber die Angst vor dem, was da die Treppe hinaufkam, machte ihn stark.

»An Bobbys Handy geht keiner ran«, erklärte Sayid.

»Dann müssen wir improvisieren«, sagte Max – und er klang sehr ernst. Sie waren jetzt in echten Schwierigkeiten und konnten nicht mit Hilfe rechnen.

Die Kommode vor der Tür würde die Verfolger eine Weile aufhalten, jetzt sah er sich erst einmal um. Konnten sie sich hier verstecken? Schwere Möbel, Vitrinen und Tische auf gedrechselten Beinen, ein Leopardenfell auf dem blanken Holzfußboden. Gitterfenster, eine Chaiselongue, ein Kastenbett, dessen Seiten fast bis an den Boden reichten. Nirgends ein vernünftiges Versteck, wo man sie nicht nach Sekunden finden würde. Schwere blaue Vorhänge verhüllten Bett und Fenster, eine Tür führte in ein Ankleidezimmer. Dort drin war es ziemlich finster.

Lautes Ächzen und Gebrüll ertönte vor der Schlafzimmertür. Ihre Verfolger gaben sich alle Mühe. Die Kommode rückte ein paar Zentimeter vor.

Max packte einen großen Tisch und schob ihn an die Kommode heran. Damit gewannen sie noch einige kostbare Minuten. Alle diese Vorhänge! Die mussten doch zu etwas gut sein. Als Max an den Vorhangschnüren über dem Kamin zog, kamen dahinter in Gold gerahmte Porträts von Antoine d’Abbadie und seiner Frau Virginie zum Vorschein. Beim Anblick ihrer freundlichen Gesichter bekam Max ein schlechtes Gewissen, weil er so viel hässliche Gewalt in das Haus dieses Exzentrikers gebracht hatte. Gewalt, die lärmend hinter der Tür wütete, um über Max und Sayid herzufallen.

»Sayid! «

Max zeigte auf das Ankleidezimmer. Sayid zögerte – dort würde man sie sofort finden! Aber Max knotete schon die Vorhangschnüre zu einem langen Seil zusammen. Sayid wusste, Max würde ihn nicht ohne Grund nach nebenan schicken, und mit den Schlägern, die jederzeit hereinbrechen konnten, wollte er schon gar nichts zu tun haben. Also gehorchte er.

Sayid bemerkte sofort die Balkontür hinter den schweren Vorhängen in dem kleinen Zimmer. Max war mal wieder allen anderen voraus – ihm war der Balkon auf dem Grundriss des Châteaus nicht entgangen. Sayid zog die Balkontür auf, während Max fieberhaft die getäfelten Wände des Zimmers abtastete. Endlich fand er den Riegel, nach dem er gesucht hatte. Ein Klick, und schon sprang eine schmale Tür auf. Dahinter erschien ein Gang: ein schwarzer Tunnel, der ins Innere des Gebäudes führte.

»Für die Dienstboten«, sagte Max. »Komm. Es geht los.«

Max schob Sayid auf den Balkon, zog die Vorhänge zu und schloss die Tür – der Deutsche und seine Schlägerbande mochten wertvolle Sekunden verlieren, ehe sie merkten, dass das Zimmer einen Balkon hatte.

Sayids Mund war ganz trocken. »Was geht los?«, fragte er flüsternd.

Max befestigte das zusammengeknotete Seil am Geländer und schob Sayid sanft nach vorn. »Kinderleicht«, sagte er. »Du brauchst nur über das Geländer zu steigen, dann steckst du den gesunden Fuß in diese Schlinge und ich lasse dich runter. Riechst du die Seeluft? Die Freiheit winkt.«

Einige der Vorhangschnüre waren aus besonders starkem Material, und daraus hatte Max am Ende des Seils eine Schlinge gemacht. Er lächelte. »Keine Hektik. Lass dir Zeit«, sagte er mit vorgetäuschter Ruhe.

Ein lautes Krachen an der Tür brachte Sayid dazu, über das Geländer zu steigen. Die Fingerknöchel weiß vor Anspannung, nickte er. Er hielt die Krücken in einer Hand, klammerte die andere um das Seil und schob seinen gesunden Fuß in die Schlinge.

Max zog das Seil über seiner Schulter stramm und konzentrierte sich auf Sayids Gewicht. »Langsam loslassen. So – ich hab dich«, flüsterte er.

Das Seil schnitt ihm in den Rücken, als er es Hand über Hand nach unten gleiten ließ. Dann spannte er seine Oberschenkel an und trat vorsichtig an das Geländer heran. Sayid hing noch zwei Meter über dem Boden. Das Seil war zu kurz! Max beugte sich über das Balkongeländer, um Sayid so weit wie möglich hinabzulassen. Das Seil brannte in seinem Rücken und die Haut an seinen Händen schien bis auf die Knochen durchgewetzt. Er schwitzte. Das Geländer drückte an seine geprellten Rippen. Er musste loslassen, er konnte nicht mehr. Sayid würde abstürzen und sich die Beine brechen. Er hatte versagt.

Plötzlich ließ das Gewicht nach. Max machte die Augen auf. Sayid stand unten und winkte zu ihm hoch. Max zog das Seil zu sich herauf, schlang es um eine Balkonstütze und ließ sich daran hinab. Unten angekommen, riss er das Seil los und schleuderte es in die Dunkelheit. Auch wenn ihre Verfolger den Balkon entdeckten, würden sie nicht sehen, wie Max und Sayid von dort weggekommen waren. Das dürfte reichen, sie auf eine zeitraubende Reise durch den Dienstbotengang zu schicken.

Max drängte Sayid in den Schatten der Bäume. »Pass auf, ob jemand kommt. Vor allem die Frau des Deutschen. Ich wette, die wartet hier draußen im Auto.«

Sie mussten so schnell wie möglich verschwinden. Wie viel Zeit blieb ihnen noch, bis ihre Verfolger die Tür oben aufgestemmt hatten und erkannten, dass die Jungen geflohen waren? Max stützte seinen Freund und half ihm zwischen den Bäumen hindurch zur Vorderseite des Châteaus. Ein halbes Dutzend Motorräder parkte dort. Ob auch der Hai hier war? Wohl kaum. Falls ja, wäre er beim Kampf auf der Treppe sicher ganz vorn mit dabei gewesen.

Max spähte in die Dunkelheit. Links von der Einfahrt waren die Schatten noch dunkler als in der Umgebung. Dort stand das Auto des Deutschen – gut versteckt gegenüber dem Tor, sodass man vom Fahrersitz aus beobachten konnte, ob der alte Franzose zufällig noch einmal vorbeikam.

»Keine Spur von Bobby«, flüsterte Max Sayid ins Ohr. »Offenbar hat er von unserem Anruf nichts mitbekommen. Wir müssen das alleine schaffen. Halte dich zwischen den Bäumen auf der rechten Seite. Siehst du das Auto? Beweg dich so, dass man dich von da aus nicht sehen kann. Wir treffen uns am Eingangstor. «

Sayid zögerte. Was hatte Max vor?

»Ich komme gleich nach«, versicherte Max. Und dann lief er zum Eingangsportal des Châteaus. Die Tür stand zum Glück offen. Er musste ihnen einen Vorsprung verschaffen.

Max kam gerade in das Büro des Franzosen, als er aus dem oberen Stockwerk die wütende Stimme des Deutschen hörte: »Findet sie! Findet sie! Durchsucht jedes Zimmer!«, trieb er seine Schlägerbande an.

Max sah sich prüfend in dem kleinen Büroraum um. Denk nach. Na los! Er nahm eine Schere vom Schreibtisch, die würde er noch brauchen. Dann öffnete er den Kasten der Alarmanlage und betrachtete die unbeleuchteten Lämpchen und den Hauptschalter. Wie viel Zeit blieb ihm, nachdem er die Anlage aktiviert hatte? Er rief sich ins Gedächtnis, was der Franzose getan hatte. Er hatte sein Büro verlassen, die Tür hinter sich zugemacht und war dann aus dem Haus gegangen. Wie lange hatte er dafür gebraucht? Der Franzose war langsam. Max spulte die Szene vor seinem inneren Auge ab. Und zählte. Die Bürotür schließen, eins … zwei Sekunden. Umdrehen, drei … vier. Drei oder vier Schritte bis zur Eingangstür, fünf … sechs. Die Tür aufmachen, sieben … Hut und Jacke anziehen, acht … neun … zehn … elf …

Der Franzose hatte seine Taschen abgeklopft, zwölf … dreizehn. Noch einmal zum Büro zurück, vierzehn … fünfzehn. Tür auf, sechzehn. Was hatte er dort gemacht? Etwas von seinem Schreibtisch genommen. Was? Seine Zigaretten, die er vergessen hatte, siebzehn … achtzehn. Dann das Ganze noch einmal: aus dem Büro, zur Eingangstür, neunzehn … zwanzig, einundzwanzig. Der alte Mann war schneller geworden, zweiundzwanzig … dreiundzwanzig … vierundzwanzig. Die Tür war noch offen … er trat hindurch und zog sie hinter sich zu.

Fünfundzwanzig Sekunden, höchstens. Der alte Franzose mochte langsam sein, aber er war auch routiniert, schließlich tat er das jeden Abend. Auf die Sekunde genau.

Max’ Finger schwebte über dem Hauptschalter. War das überhaupt der richtige? Er hielt den Atem an, legte den Schalter um, und während er dann genau das Gleiche tat wie der Franzose, zählte er stumm mit. Tür … eine Sekunde. Umdrehen, zwei … drei … vier …

Schritte polterten auf der Treppe. Max spähte um die Bürotür herum. Der Deutsche kam ächzend vor Anstrengung in die Eingangshalle. Max duckte sich hinter der halb offenen Haustür und beobachtete durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Mauer, wie der Mann plötzlich stehen blieb.

Fünf … sechs … sieben …

Max hätte ihn aus der Dunkelheit heraus am Arm packen können.

Acht … neun … zehn …

Der Mann gestikulierte wie wild und brüllte: »Das Auto! Bring das Auto! Wir brauchen eine Taschenlampe! Die sind abgehauen! Rhona, schnell! KOMM!«

Elf … zwölf … dreizehn … vierzehn … Max wagte kaum zu atmen. Die Uhr tickte; die Alarmanlage würde losgehen, falls er nicht zur Tür hinauskam und sie zumachte. Das war seine einzige Chance. MACH SCHON! Halt die Klappe und verzieh dich!

Fünfzehn … sechzehn. Der Deutsche drehte sich wieder zur Treppe um. Max hörte einen Motor anspringen, Reifen knirschen, eine Autotür aufgehen und zuschlagen. Keine Scheinwerfer.

Siebzehn … achtzehn … neunzehn. Die Frau des Deutschen lief in die Eingangshalle. Blieb stehen. »Ernst!«

Zwanzig …

Von oben die Antwort. »Hier!«

Einundzwanzig … zweiundzwanzig …

Sie lief der Stimme ihres Mannes entgegen.

Dreiundzwanzig …

Max trat vor, packte die Tür …

Vierundzwanzig … fünfundzwanzig!

Die Tür fiel leise hinter ihm ins Schloss.

Alles still.

Max atmete erleichtert aus. Er sprang an den Krokodilen vorbei die Stufen hinunter, lief zu den Motorrädern und machte sich daran, mit der Schere die Hinterreifen aufzustechen, einen nach dem anderen. Das Zischen war Musik in seinen Ohren.

Die Sache war besser gelaufen, als er gehofft hatte. Das Auto des Deutschen stand genau vor dem Eingang und der Schlüssel steckte noch. Jetzt war es Max egal, ob er Krach machte.

Er versetzte dem ersten Motorrad in der Reihe einen Tritt. Nett, den Dominoeffekt einmal live zu erleben. Die Maschinen kippten klappernd um. Lenker bohrten sich zwischen Speichen, Brems- und Kupplungshebel verhakten sich in Motorblöcken, Scheinwerfer gingen zu Bruch.

Max rückte sich den Fahrersitz in dem kleinen Mercedes zurecht, drehte den Zündschlüssel, stellte den Automatikhebel von Parken auf Fahren und fuhr zum Eingangstor. Dort hielt er an, öffnete das Fenster und rief: »Sayid, dein Taxi ist da!«

Sein Freund trat aus dem Schatten. »Max!« Er stieg ein. »Was war das für ein Lärm?«

»Nichts«, sagte Max grinsend. »Wart mal ab, was jetzt gleich erst losgeht …«

In diesem Augenblick ertönte aus dem Château das ohrenbetäubende Kreischen der Alarmanlage. Max und Sayid drehten sich um. Mehrere Gestalten stürzten die Treppe hinunter. Einige versuchten ihre Motorräder hochzuheben; zwei größere Silhouetten fuchtelten wie wild in der Gegend herum und riefen etwas.

Max lachte, streckte den Arm aus dem Fenster und winkte. »Auf Wiedersehen, ihr Nieten«, rief er auf Deutsch.

Sayid schlug mit beiden Händen aufs Armaturenbrett und schrie: »Wir haben’s geschafft. Wir haben’s geschafft!« Max fuhr los. Richtung Biarritz.

»Schnall dich an, Sayid. Was hast du? Oder lebst du gern gefährlich?«