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Die Führung kostet extra, aber die brauchen wir nicht, und wenn man unter dreizehn ist, zahlt man nur die Hälfte«, erklärte Max Sayid, als er den Rollstuhl zum Eingang schob.

Der Kleinbus war im Verkehr der Küstenstraße verschwunden, aber Bobby hatte versprochen, sie in ein paar Stunden abzuholen, wenn sie ihn anriefen.

»Also, falls man dich fragt, bist du unter dreizehn. Ich komme damit nicht mehr durch, aber du schon.«

»Ich dachte, ich sehe älter aus«, stöhnte Sayid.

»Nein. Eigentlich siehst du aus wie zehn.«

»Zehn?«

Max lachte. »Na ja, jedenfalls benimmst du dich manchmal wie ein Zehnjähriger. Jetzt halt den Mund und mach ein dummes Gesicht, wenn die mit dir reden. Das dürfte nicht dir allzu schwerfallen. «

Hinter dem kleinen Fenster neben der Eingangstür befand sich ein kleines Büro und darin ein Mann, der gerade überlegte, nach Hause zu gehen und den leckeren Fisch zu verspeisen, den seine Frau zubereitet hatte. Ärgerlich sah er zu, wie dieser blonde Junge versuchte, ein Kind in einem Rollstuhl die Treppe hinaufzubugsieren. Hilfe anbieten wollte er nicht, am Ende bekam er dann nur wieder Rückenschmerzen, und der Junge machte einen kräftigen Eindruck. Aber wie wollte der Kleine das Château im Rollstuhl besichtigen?

»Nicht gerade ein behindertengerechter Zugang«, jammerte Sayid, als Max ihn die nächste Stufe hochwuchtete.

»Allerdings, aber ich hoffe, das wird uns später helfen, den Kartenverkäufer hinters Licht zu führen. Wir werden eine ganze Weile hier sein. Ich habe einen Plan.«

Sayid sah seinen Freund an, der ihm aufmunternd zulächelte. Wenn Max Pläne hatte, gab es meistens Ärger. Sayid hatte Max zwar gesagt, er wolle mitmachen – aber er wusste auch, dass er dazu eine Dreistigkeit aufbringen musste, die ihm eher fernlag.

Max wandte sich an das deutsche Paar, das eben die Stufen zum Eingang hochging.

»Entschuldigung«, rief er dem stämmigen Mann auf Deutsch zu, dessen Miene sich aufhellte, als er sich in seiner Muttersprache angesprochen hörte. Sogleich ging er zu Max zurück und half ihm, Sayid die Treppe hinaufzubringen.

Max konnte nur wenig Deutsch – Verstehen fiel ihm leichter als Sprechen –, aber er konnte den Akzent gut nachmachen, und sein beschränktes Vokabular würde für seine Zwecke wohl ausreichen. Der deutsche Tourist sprach sehr schnell. Max verstand nur ungefähr jedes dritte Wort, versicherte ihm aber, dass alles in Ordnung sei.

Als sie das Portal erreichten, hatte es den Anschein, als ob sie sich schon seit Jahren kennen würden. Die Rechnung ging auf. Der Franzose, der die Eintrittskarten verkaufte, konnte Max und Sayid nicht richtig sehen, und auch nicht die zerknüllten Notizen, die Max in der Hand hielt.

Max stöhnte auf.

Der Deutsche drehte sich zu ihm um. »Was? Was ist los?«, fragte er.

Er schien aufrichtig um den Jungen besorgt, als Max traurig den Kopf schüttelte. Seine Miene sagte alles. Er hatte nicht genug Geld. Der stämmige Mann machte eine wegwerfende Geste, wandte sich an den Kartenverkäufer und gab ihm in Zeichensprache zu verstehen, dass er für alle zahle.

Sayid sah über die Schulter zu Max hoch. Was für ein schlauer Trick. Wie schaffte Max es bloß immer wieder, mit so etwas durchzukommen?

Der Franzose ließ die »deutsche Familie« lächelnd ins Haus. Max dankte dem Deutschen für seine Großzügigkeit und sagte ihm und seiner Frau, sie könnten sich das Château gerne allein ansehen. Falls sie Hilfe brauchten, könnten sie sich jederzeit an ihn wenden.

Der Kartenverkäufer hatte nichts dagegen, dass die Jungen den Rollstuhl in der Eingangshalle stehen ließen. So konnten sie wenigstens nicht den Fußboden oder gar die Wände zerschrammen. Sayid schwang sich auf seine Krücken und Max verstaute den Rollstuhl in einer dunklen Ecke. Der würde später noch wichtig werden.

Die schwarzen Wände, geschmückt mit hellblau und golden gemusterten Emailletafeln, ließen das Château wie einen kleinen Königspalast erscheinen. Max versuchte ein interessiertes Gesicht zu machen, als der Tourist aus einem deutschsprachigen Schlossführer vorlas, die Kapelle, vor sie jetzt standen, sei für Antoine d’Abbadie und seine Frau Virginie ein Ort der inneren Einkehr gewesen. Der Astronom, gestorben 1897 in Paris, sei zusammen mit seiner Frau in der Krypta unter dem Altar begraben.

Als der Kartenverkäufer wieder in seinem Büro verschwand, dankte Max dem Deutschen für seine Erklärungen und sagte, er wolle sich jetzt ein wenig allein umsehen. Dann nahm er Sayid beiseite.

»Komm, Sayid. Wir haben nicht so viel Zeit wie diese Touristen.«

Sayid hatte schon einige Übung mit den Krücken und eilte ihm mit großen Schwüngen zum nächsten Raum voraus.

»Hey, warte! Ich komm ja kaum mit«, rief Max lachend.

Das stimmte natürlich nicht, aber es linderte Sayids Befürchtung, er könnte Max in seiner Bewegungsfreiheit zu sehr einschränken.

»Wo fangen wir an?«, fragte er.

»Weiß noch nicht. Sehen wir uns erst mal hier unten um. Hier gibt’s viel über Äthiopien«, sagte Max, als sie an prächtigen Gemälden mit Szenen aus Abessinien vorbeigingen, wie das Land in alten Zeiten hieß. »Wenn Zabala hier so viele Jahre gearbeitet hat, hat das vielleicht was zu bedeuten.«

Sie gelangten in ein Schlafzimmer. Die Ausstattung war überwältigend. Das riesige Himmelbett wirkte winzig im Vergleich zu der verschwenderischen Umgebung. An die Wände waren arabische Schriftzeichen gemalt.

»Was heißt das, Sayid?«

Sayid sah sich die Schrift genauer an.

»Äh, weiß nicht genau. Irgendwas wie … Ah, warte, das ist ein altes arabisches Sprichwort. Mein Opa hat dauernd solche Sprüche auf Lager gehabt: >Wirf niemals Steine in deinen eigenen Brunnen.<«

Max machte ein verständnisloses Gesicht.

Sayid zuckte die Achseln. »Jedenfalls glaube ich, dass es so heißt. Was könnte damit wohl gemeint sein?«

»Na ja, vielleicht: >Mach bei dir zu Hause keine Dummheiten, sonst musst du den Schaden selber tragen!< Oder: >Sieh zu, dass du endlich an die Kanalisation angeschlossen wirst!< Woher soll ich das wissen?«, sagte Max.

»Aber du suchst doch hier nach irgendwelchen verborgenen Hinweisen!«

»Der gehört aber bestimmt nicht dazu. Komm weiter.« Max steuerte schnell in das nächste Zimmer und schaute sich nach dem Kartenverkäufer um, aber der ließ sich nicht blicken, und auch von den Deutschen war nichts mehr zu hören. Durch ein Fenster konnte er den Rand des Parkplatzes sehen. Ihr Auto war noch da. Gut. Das bedeutete, sein Plan hatte noch Zeit. Er kam ins Speisezimmer des Châteaus. Die Wände waren bis in Schulterhöhe holzgetäfelt, darüber hingen einige Büffelfelle und das Wappen von Antoine d’Abbadie mit dem Familienmotto in Latein.

»Was heißt das? «

»Ähm … Das ist Lateinisch …«

Sayid stöhnte. Er wusste um Max’ bescheidenen Kenntnisse in dieser Sprache.

Max überlegte kurz. »Ich glaube, das heißt: ›Das Leben ist nur Rauch.‹« Der Satz erinnerte ihn an seinen afrikanischen Freund, den Buschmann, dessen Volk glaubte, das Leben sei ein Traum, aus dem die Menschen eines Tages in der wirklichen Welt erwachen werden.

»Meinst du, das könnte ein Hinweis sein? Das Leben ist Rauch. Lateinische Sprichworte, arabische Sprüche … Alles könnte irgendeine Bedeutung haben«, sagte Sayid.

»Wie das zum Beispiel?« Max zeigte auf die Rückenlehnen der Stühle, die um den mit Intarsien verzierten Tisch standen. Sie waren mit grünem Samt bezogen und auf jedem stand ein arabischer Buchstabe. Max trat zurück und ging um den Tisch herum. »Was bedeuten diese Zeichen?«, fragte er Sayid.

»Kann ich nicht genau sagen, Max.«

»Was? Kannst du plötzlich nicht mehr lesen?«

»Das ist Amharisch. Äthiopisch.«

Das hatte der Deutsche gesagt, auf Englisch. Er stand plötzlich in der Tür und lächelte, als Max sich ein wenig zu heftig nach ihm umdrehte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Als er die beiden Touristen in der Kapelle verlassen hatte, hätten sie ihren Rundgang eigentlich auf der anderen Seite des Châteaus fortsetzen müssen. Und Max glaubte, dass er auch die vorsichtigsten Schritte draußen im Gang gehört haben würde. Warum so leise? Vielleicht hatte Max sich auch nur von Sayid und den vielen verschiedenen Sprachen hier ablenken lassen.

»Ich nehme an, du bist Engländer, obwohl dein Deutsch gar nicht so schlecht ist«, sagte der Mann und lächelte Max an. Er hielt die Schlossbroschüre hoch. »Wenn man die Schriftzeichen auf den Stühlen in die richtige Reihenfolge bringt, ergibt sich eine Warnung: An diesem Tisch mögen niemals Verräter sitzen.« Wieder lächelte er den beiden Jungen zu, dann gab er Max die Broschüre. »Wir haben noch eine. Viel Spaß noch, Jungs«, sagte er und verschwand mit seiner Frau im Korridor.

Sayid ließ sich auf einen der Stühle sinken und massierte sein schmerzendes Bein. »Immerhin gut zu wissen, dass Verräter hier beim Essen nicht willkommen sind.«

Max schüttelte den Kopf. »Das ist alles nur Augenwischerei und interessiert uns nicht. Wenn Zabala so viele Jahre hier gearbeitet hat, muss er an der wissenschaftlichen Forschung beteiligt gewesen sein. Oben gibt es noch eine Bibliothek und ein Observatorium.«

Er spähte in den Korridor. Die Deutschen gingen gerade in eins der anderen Zimmer und so begab er sich mit Sayid zur Eingangshalle, von wo eine Holztreppe mit schön geschnitztem Geländer nach oben führte.

»Komm«, sagte Max. »Huckepack.«

Auf der Treppe spürte er das zusätzliche Gewicht deutlich in seinen Beinen, aber das machte ihm nichts aus. Die Gewissheit, dass er sich dem Ort näherte, an dem Zabala so viele Jahre gearbeitet hatte, verlieh ihm Flügel.

Auf dem oberen Treppenabsatz hingen riesige Porträts von äthiopischen Stammesfürsten in weißen Umhängen, umringt von speertragenden Kriegern, das Ganze vor einem tiefblauen Himmel. Die üppige Ausstattung des Châteaus schien so gar nicht zu der schlichten Hütte zu passen, die Zabala auf dem Berg bewohnt hatte. Max rief sich ins Gedächtnis, dass Zabala zum Mönch geworden war, nachdem er aufgehört hatte, hier zu arbeiten, weil er niemanden davon hatte überzeugen können, dass irgendein furchtbares Ereignis bevorstand. Nach Antoine d’Abbadies Tod hatte die Akademie der Wissenschaften das Château übernommen, und so hätte Zabala die gesamte französische Wissenschaft gegen sich gehabt, wenn er nicht beweisen konnte, dass Luzifer – wer auch immer das sein mochte – ein großes Zerstörungswerk plante. Er war ein baskischer Außenseiter, ein Mann, der sein Scheitern nicht verwinden konnte, schließlich aber ermordet wurde, weil seine Prophezeiung offenbar doch nicht ganz aus der Luft gegriffen war. Wer profitierte davon, wenn Zabalas Theorie nicht bekannt wurde?

Verzerrte Schatten lagen über dem Treppenaufgang. Das dunkle Holz verschluckte den letzten Rest von Tageslicht. Arabische Schilde und Schwerter, einst von Kriegern getragen, zierten die Wände. Antilopenköpfe – Jagdtrophäen – starrten in stummer Angst mit blinden Augen in die Prunkräume des neugotischen Schlosses, das sie zu Lebzeiten nie zu sehen bekommen hätten.

Plötzlich fühlte sich Max von all diesen Gemälden und Gegenständen überwältigt. Die Farbenpracht der Dekorationen erdrückte ihn fast wie ein übertrieben geschminktes Clownsgesicht, unter dessen falschem Lachen sich Unglück und Elend verbargen. Sie bogen um eine Ecke und gelangten in das nächste Zimmer.

»Wow! «, sagte Sayid verblüfft.

Auf dem Holzfußboden in der Mitte des Raums stand ein langer, stabiler Tisch mit wissenschaftlichen Apparaten und einer alten Schreibmaschine. In Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten, lagerten Karten, Tabellen und Aktenordner. Das Lebenswerk eines Forschers. Die oberen Regalbretter verschwanden im Dunkel unter der fast schwarzen Holzdecke. Hier, in dieser schmucklosen Umgebung, konnte sich ein Gelehrter wahrhaftig ungestört auf seine wissenschaftliche Arbeit konzentrieren. Es war, als seien Max und Sayid hinter eine Fassade getreten und ins wahre Innere des Châteaus gelangt. Würden sie hier Zabalas Geheimnis finden?

Gusseiserne Säulen trugen die Galerie, die in halber Höhe der Wände um den ganzen, ungefähr sechs Meter hohen Raum herumlief. In den Bücherreihen war keine einzige Lücke zu sehen. Oben an einer Wand stand in mattgoldenen Buchstaben auf Schwarz etwas in Baskisch, das Max nicht entziffern konnte.

Aber er liebte Bücher. Und Landkarten. Alles, was ihm Geschichten über Orte erzählte, die er noch nicht kannte. Seekarten, auf denen Riffe und Sandbänke, Gezeiten und Gefahren verzeichnet waren. Überall warteten Abenteuer. Aber das hier war etwas Einzigartiges – hier konnte er darüber hinaus einen Blick in das Leben eines außerordentlichen Mannes werfen.

Max wusste, sein Vater könnte Jahre in diesem Raum zubringen und jedes Blatt Papier studieren, das d’Abbadie beschrieben hatte. Er strich mit den Fingern über die Buchrücken. Ein leises Summen lenkte seinen Blick auf einen Luftentfeuchter, der in einer Ecke stand. Ja, natürlich. So nah an der baskischen Küste mit ihrem feuchten Klima brauchte man so etwas unbedingt, wenn man die Bücher nicht irgendwo in einem geschützten Gebäude in der Stadt einlagern, sondern hierbehalten wollte, wo sie hingehörten. Aus Hochachtung vor der Lebensleistung eines Mannes, der hier in diesem seltsamen Schloss die Welt und die Menschen, die Sterne und Planeten ergründet hatte.

In den unteren Regalen entdeckte Max hauptsächlich astronomische Zeitschriften. Sie waren nach Jahrgängen gebunden. Schließlich nahm er einen hervor und legte ihn auf den Tisch.

»Sayid, nimm dir auch so einen. Von vor zwanzig Jahren, kurz bevor Zabala von hier weggegangen ist.«

Der Band war schwer, die großen Seiten unhandlich. Max’ Finger glitten über die komplizierten Darstellungen. Eine Sternenkarte. Sich kreuzende Linien, mit Zahlen oder Buchstaben bezeichnete Sterne. Vergrößerungen, Größenordnungen – Max vermochte in all dem nur ein wirres Panorama der Galaxis zu erkennen. Er blätterte rasch weiter. Nichts, das auch nur entfernt auf den Namen Zabala zu deuten schien.

»Hier fehlt was«, sagte Sayid.

»Was?« Max ging zu seinem Freund, der an den breiten Regalen entlangschlurfte, wo Platz genug für die großen Sternenkarten war.

»Die Sammlung geht zeitlich weit zurück. Hier«, zeigte er, »haben wir 1904, 1927 und so weiter. Wie lange hat Zabala hier gearbeitet?«

»Weiß ich nicht«, sagte Max.

»Also, nehmen wir an, er war zehn oder fünfzehn Jahre hier, dann fehlt hier bis vor zwanzig Jahren eine ganze Menge.«

Das schien logisch. Wenn Zabala vergeblich versucht hatte, etwas zu beweisen, wenn er damit an die Öffentlichkeit gegangen war und seine wissenschaftlichen Kollegen der Lächerlichkeit preisgegeben hatte, hatten sie seine Forschungsunterlagen sehr wahrscheinlich eingesammelt und woanders archiviert oder schlimmstenfalls sogar vernichtet.

»Schau dich mal um, ob du ein Buch oder so was findest, wo die Wissenschaftler aufgelistet sind, die hier gearbeitet haben«, sagte Max. »Ich muss mal kurz was nachsehen.«

Er sah automatisch auf sein Handgelenk, aber die Armbanduhr seines Vaters war natürlich nicht mehr da. Er schob den schmerzlichen Gedanken beiseite.

»Wie spät ist es, Sayid?«

»Gleich halb vier. Um fünf wird hier zugemacht.«

Max nickte und lief zum Treppenabsatz. Durch ein Fenster sah er, dass das Auto der Deutschen nicht mehr da war. Er ging zu einem anderen Fenster mit Blick über die Felder Richtung Küste. Der Franzose verschloss gerade eine Art Gartentor, hinter dem ein Fußweg zu den Klippen führte.

Max rannte nach unten in die Eingangshalle und warf einen Blick in das Büro. Der schwarze Anorak des Mannes hing an einem Haken, also machte er vermutlich nur seine Runde. Das hieß, er käme bald zurück.

Max schob Sayids Rollstuhl durch den Flur in die Kapelle, klappte ihn zusammen und versteckte ihn hinter der Tür. Bestimmt sah der Kartenverkäufer sich noch einmal im Château um, bevor er es für die Nacht abschloss. Aber den Rollstuhl würde er nicht bemerken, selbst wenn er auch die Kapelle kontrollierte.

Und wenn Max Glück hatte, würde der Mann zu dem Schluss kommen, dass die ganze »deutsche Familie« weggefahren war.

Max rannte die Treppe hinauf, lief zu Sayid zurück und stellte sich dicht neben ihn, damit er so leise wie möglich sprechen konnte.

»Sag mir Bescheid, wenn es Viertel vor fünf ist. Noch was entdeckt?«

Sayid hatte ein Buch mit geprägtem Ledereinband auf den Tisch gelegt, daneben lagen zusammengerollte Pläne. »Ich habe Zabala aufgespürt.« Er grinste. »Ein Verzeichnis habe ich nirgendwo gefunden, aber ich bin davon ausgegangen, dass diesen Wissenschaftlern ihr bisschen Ruhm sehr wichtig ist und dass sie deshalb niemals irgendetwas wegwerfen würden, wo ein Foto von ihnen drin ist.« Sayid schlug den großen Lederwälzer auf. »Viele Bilder der Wissenschaftler, die hier bis in die 1970er-Jahre gearbeitet haben. Danach sieht es aus, als sei der Laden geschlossen worden.«

Sayid zeigte auf ein Gruppenfoto. Die Bildunterschrift war winzig klein gedruckt, aber Zabalas Name war dabei. Die Männer bildeten zwei Reihen: die in der vorderen Reihe saßen, die dahinter standen. Zabala, mit kurzem Bart, sah fast genauso aus wie auf dem Bild in dem zerbrochenen Rahmen. Er stand da mit verschränkten Armen, hielt eine Bryèrepfeife zwischen den Zähnen und grinste in die Kamera.

»Aber ich habe Zeitungsausschnitte aus den achtziger Jahren gefunden«, sagte Max.

»Dann hat er wohl seine Forschungen hier später auf eigene Faust weitergeführt.«

»Dafür muss es einen Grund geben. Was befindet sich alles in diesem Château? Zeug aus Afrika, Bücher in verschiedenen Sprachen, Werke zu Astronomie …« Max erinnerte sich an den Zeitungsartikel über Zabala. »Und Astrologie. Er hat sich mit beidem beschäftigt. Also gibt es hier irgendwo eine Verbindung, Sayid. Die Araber waren in alten Zeiten große Astronomen …«

Sayid klappte das Buch zu.

»Astronomie war zulässig, weil man den Bauern sagen konnte, wie sie den Fruchtwechsel zu organisieren hatten, aber Astrologie war nicht erlaubt.«

»Okay, also geht es vielleicht nur um Astronomie. Die Europäer haben die beiden Disziplinen zusammengebracht. Hier gibt es eine Menge über die Reisen des alten d’Abbadie durch Afrika. Such weiter. Aber sei leise. Was ist das?«

Er breitete die aufgerollten Pläne aus.

»Grundrisszeichnungen des Châteaus«, erklärte Sayid.

Sie hielten die widerspenstigen Blätter auf dem Tisch fest. Max fuhr mit einem Finger auf der Zeichnung herum, prüfte den Bauplan des Châteaus für den Fall, dass es vielleicht ein Geheimzimmer gab, das sie übersehen hatten oder das, noch wahrscheinlicher, den Besuchern von vornherein vorenthalten wurde.

»Wir sind jetzt hier, und das da ist das Observatorium …« »Das sollten wir uns mal ansehen«, sagte Sayid.

»Ja, sicher. Ich hatte nur gehofft, dass uns irgendetwas in diesem Raum hier weiterhelfen würde. Immerhin werden hier die ganzen Aufzeichnungen aufbewahrt. Das Observatorium wird schon seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr benutzt.«

Unten waren schlurfende Schritte zu hören. Der Franzose machte seinen Kontrollgang. Er hustete und keuchte. Im ganzen Château gingen die Lichter aus und dann glommen nur noch die Sicherheitslämpchen, kleine Scheinwerfer, die an strategischen Punkten ein wenig Helligkeit verbreiteten.

Schatten deformierten die Wände, entstellten die riesigen Gemälde und machten die Räume zu einem unheimlichen Niemandsland.

Max musste unbedingt in das Büro. Beim Betreten des Gebäudes hatte er dort den Kontrollkasten für die Alarmanlage bemerkt, und die musste ausgeschaltet sein, wenn er und Sayid noch einige Stunden lang ungestört im Château nach Hinweisen suchen wollten.

Max duckte sich und spähte durch das Treppengeländer. Der alte Mann zog seine Jacke an. Dann ging er zur Eingangstür – Feierabend.

Ein Knarren – laut wie ein Donnerschlag, so kam es Max jedenfalls vor – war plötzlich von der Treppe zu hören. Sayid!

Hatte der Mann das gehört? Er drehte sich um, sah aber nicht nach oben, sondern trat noch einmal in sein Büro, nahm seine Zigaretten vom Schreibtisch, schloss die Tür und begab sich zum Ausgang.

Max huschte leise die Treppe hinauf.

Sayid war erstarrt, als sei er auf eine Landmine getreten, die bei der kleinsten Bewegung explodieren würde. Als sein Freund vor ihm auftauchte, zuckte er zusammen.

Die Haustür unten fiel ins Schloss.

Max hob beruhigend einen Daumen, und Sayid trat vorsichtig vor und schwang sich auf seinen Krücken in die Bibliothek. Max spähte aus dem Fenster und sah den alten Mann zu den Torpfosten am Ende der Zufahrt humpeln. Die Bürotür war nicht abgeschlossen. Max schlüpfte hinein. Abgestandener Zigarettenrauch hing in der Luft.

Er klappte den Deckel der Alarmanlage auf. Nur ein paar Schalthebel. Der Hauptschalter war deutlich markiert, aber auf Aus gestellt. Offenbar hatte der Franzose vergessen, die Anlage einzuschalten. Vielleicht war das Château so sicher, dass sowieso niemand hineingelangte. Sicherheitssysteme waren eine lästige Angelegenheit, wenn man immer wieder wegen eines Fehlalarms aus dem warmen Bett gescheucht wurde. Egal. Der Hauptschalter stand auf Aus und alles andere interessierte Max nicht. Jetzt konnten sie an die Arbeit gehen.

Wieder lief er die Treppe hinauf. Durch ein buntes Glasfenster schien gelb und verzerrt der Mond. Oben stand schweigend die lebensgroße Statue eines jungen äthiopischen Kriegers mit einer Lampe in der Hand und wachte über die dunkle Treppe. »Danke, mein Freund«, murmelte Max.

Das dämmrige Château, voller Altertümer und Geheimnisse, lag jetzt friedlich und still. Max hörte, wie Sayid mit leisem Rascheln in Büchern blätterte. Als er sich oben wandte, um zu Sayid in die Bibliothek zu gehen, ahnte er nicht, dass sie nicht allein waren.

Unten, in den Schatten, bewegte sich etwas.