20

Die Macht, mit der ein Tiger brüllt, verblüfft sein Opfer, schockiert es so, dass es sich nicht mehr regen kann. Und das verschafft der größten Raubkatze der Welt die entscheidenden Sekunden für ihren Angriff. Max sah das Knurren und spürte das Zittern in der Luft. Er schwankte, seine Beine gaben nach, und er sackte an das niedrige Geländer, so sehr hatte das Fieber ihn geschwächt.

Wie sollte er sich verteidigen? Die Männer konnten ihn auf der Stelle töten.

Er verlor das Bewusstsein und versank in einem Meer der Hilflosigkeit.

»Ez ihure ere fida – eheke hari ere«, murmelte er, als spräche er ein Mantra. Ein letzter, verzweifelter Versuch, sich an den Freund des alten Mönchs zu wenden.

Fauvre begriff im selben Augenblick, dass Max Worte ausgesprochen hatte, die nur Zabala ihm gesagt haben konnte. Max sank auf die Erde. Die Männer sprangen auf Fauvres Befehl nach vorn, um ihn zu stützen.

Max wand sich. Furcht und Schmerz rannen durch seinen Körper, stachen wie tausend Skorpionstiche. Sein Geist verlor sich schließlich in einem endlosen Tunnel. Ungeheure Mächte tobten in seinem Körper.

»Vorsicht!«, rief Fauvre seinen Männern zu.

Der Junge hatte so etwas wie einen Anfall; sie konnten ihn nicht halten. Die Bisswunde hatte sich wohl entzündet, die Spritzen waren zu spät gekommen. Max warf sich herum wie ein Wahnsinniger. Er hatte die Augen aufgerissen und die Lippen zurückgezogen zu einem schrecklichen, stummen Schrei.

Der Schweiß rann an ihm hinab, das Hemd klebte ihm am Leib. Aus dem Schatten seines fiebergeschüttelten Geistes tauchte Fauvre auf, ein Riese an Kraft, nicht der alte Mann im Rollstuhl. Er griff nach Max. Seine Stimme passte nicht zu seiner Erscheinung.

»Lass mich dir helfen, mein Junge. Lass mich dir doch helfen.«

Und wie ein schutzlos ausgeliefertes Kind wusste Max, dass er Hilfe brauchte. Aber nicht von dem Mann, der gedroht hatte, ihm das Leben zu nehmen. Er zappelte und warf sich herum, weg von den ausgestreckten Händen.

»Mein Gott!«, schrie Fauvre.

Max taumelte über das niedrige Geländer. Er glitt an den glatten Mauern hinab, sein Leib überschlug sich mehrfach, bis er schließlich auf den Boden krachte. Dieser letzte Schlag drang zu ihm durch und brachte ihn wieder zu sich. Er stöhnte.

Irgendwo schrie jemand. Wo? Er schlug die Augen auf. Sein Hinterkopf lag an der abschüssigen Grubenwand. Gesichter spähten darüber, formten Worte auf Arabisch. Einige hörte er zwar, verstand aber keines, mit einer Ausnahme – Aladfar!

Max kämpfte gegen seine Benommenheit an, schaffte es, sich auf die Knie herumzuwälzen, und sammelte all seine Kraft, um auf die Beine zu kommen. Er drehte sich um und sah den Tiger langsam und gemächlich dahinschreiten; seine Pfoten waren groß wie Essteller, und er kam, den Kopf gesenkt und den Blick fest auf seine Beute geheftet, jetzt immer näher auf ihn zu.

Fauvre schaute entsetzt von oben zu. Der Tiger würde jeden Augenblick zuschlagen. Er würde den Jungen zerfetzen, und er war schuld daran. Zabala hatte ihm den Jungen geschickt – das stand nun fest –, doch dieser Max konnte nur überleben, wenn der Tiger Fauvres Kommando gehorchte.

»Aladfar! Zurück! Écoutez! Hör mir zu! Écoutez!«

Was dann geschah, war nicht genau zu sagen. Fauvre glaubte, das Tier sei stehen geblieben, habe zu ihm heraufgesehen und sich dann fügsam hingelegt, den Blick weiter auf Max geheftet. Die Wärter schilderten es Abdullah später anders. Sie sahen gebannt nach unten in die Grube und konnten Max in den dunklen Schatten ausmachen. Er hatte sich herumgerollt, war halb verdeckt von einer schartigen Felsnase, stand aber auf den Beinen. Seine Hände öffneten sich wie Tatzen, die Sonne wanderte weiter, die Schatten veränderten sich. Der eine Berber schwor, Max habe seinen Körper angespannt wie ein Tier, habe die Zähne gebleckt und sein Körper sei plötzlich größer geworden – beim Grabe seiner geliebten Mutter schwor der Mann Abdullah, er habe Dschinn gesehen, den Geist, der auf der Erde lebt und die Gestalt von Tieren annehmen kann. Der andere Berber behauptete, neben Max hätte sich ein Schatten erhoben, als die Sonne auf die alten Hausdächer fiel, und genau in dem Augenblick hätte Aladfar sich niedergelegt. Die Größe dieses Schattens und die Tatsache, dass der Junge einen Schritt auf ihn zugegangen war, hätten die große Katze innehalten lassen. Niemand, nicht einmal Fauvre, hatte Aladfar bisher jemals direkt herausgefordert.

Der Tiger sah nur den Jungen, größer als eine Ziege zwar, aber leicht zu töten. Der Geruch der Angst, den die beiden hinter den Gitterstäben gefangen gehaltenen Männer verströmten, hatte seine Sinne geschärft. Außerdem hatte er Hunger. Als der Junge herabstürzte, hätte er sich ohne Weiteres auf dieses Wesen stürzen können, doch in der Luft lag eine Stimme. Es war die des alten Mannes, aber Aladfar bestimmte, ganz die Großkatze, die er war, selbst, wann er sich den Anordnungen eines Menschen fügte. Nicht weil er die gebieterische Stimme des Mannes gehört hatte, hob er den Kopf, sondern weil ihm noch ein anderer Geruch in die Nase stieg. Der Geruch eines Tieres. Eines Tieres, das er früher einmal gekannt hatte, als er noch die Freiheit der Berge und des Dschungels genoss. Aladfar fürchtete nichts mehr als die rohe Gewalt des Menschen, und er würde angreifen, wenn er dazu gezwungen war. Aber dieses wehrlose Wesen beschwor eine Zeit, an die er sich aus den Wäldern und Bergen erinnerte, eine urtümliche Kraft, die seinen sechsten Sinn ansprach.

Er wartete erst einmal ab, wie seine Instinkte es ihm rieten. Und so legte er sich hin.

Fauvre verschwendete keine Zeit. Er fuhr mit seinem Rollstuhl die Rampe hinab, öffnete das Eisentor und rollte in den umschlossenen Bereich. Er redete leise auf seinen Tiger ein, beruhigte das aufgeregte Tier, bis er nah genug war, um die Hand auszustrecken und ihm den Kopf zu streicheln. Aladfar kannte die sanfte Berührung und den Geruch des alten Mannes. Er stand auf. In seinem Rollstuhl reichte Fauvre dem Tiger kaum bis an die Schulter.

Das Privileg, dem wahren König des Dschungels so nahe zu sein, ihn so gut zu kennen, genoss Fauvre sehr. »Ich weiß, du bist das großartigste Tier der ganzen Welt, mein Aladfar, aber wir dürfen den Jungen nicht sterben lassen«, flüsterte er und kraulte den Tiger beschwichtigend am Hals.

Fauvre kannte keine Angst mehr, seit Aladfar ihn vor vielen Jahren für seine Arroganz in der Zirkusmanege bestraft hatte. Heute empfand er nur noch tiefe Zuneigung für das große Tier. Sachte, ganz sachte zog er die Katze herum und lenkte sie zu dem Durchgang, der zu einem verschlossenen Käfig führte.

Von der sanften Stimme des Alten und von der Regungslosigkeit des Jungen beruhigt, ließ Aladfar es zu, dass der Mann, den er einmal angefallen hatte, das Tor hinter ihm schloss. Der Tiger legte sich hin und schnurrte.

Fauvre sah wieder zu Max hinüber und gab seinen Wärtern durch Handzeichen zu verstehen, in die Grube zu steigen und dem Jungen zu helfen.

Als sie bei ihm ankamen, war auch Fauvre näher gekommen. Max stand immer noch da, einen Ausdruck felsenfester Entschlossenheit in den Augen, als bezöge er seine Kraft aus der Tiefe seines Geistes.

Auch jetzt sprach Fauvre sehr sanft und wie zu einem wilden Tier. »Max, es ist alles wieder in Ordnung. Dir wird nichts geschehen. Ich gebe dir mein Wort. Hörst du mich, mein Junge?«

Fauvre hörte hinter sich seine beiden Männer leise herankommen und hob die Hand, damit sie stehen blieben. Einem wilden Tier, das um sein Leben fürchtete, näherte man sich besser nicht. Und in diesem Augenblick meinte Fauvre bei Max dieselbe Energie zu spüren, die auch von Aladfar ausging.

Max blinzelte, sah Fauvre an, nickte, setzte sich und wurde wieder bewusstlos. Jetzt kamen Fauvres Männer an ihn heran und konnten ihn aus der Grube heben. Abdullah und Sophie hatten die Alarmrufe gehört und kamen im selben Moment an. Abdullah hob sich Max auf die Arme und trug ihn in sein Zelt. Sophie, die neben ihm herlief, holte die Medikamente, die ihr Vater ihr aufgetragen hatte. Als sie wiederkam, kontrollierte er schon Max’ Puls und Abdullah wusch dem Jungen das Gesicht. Sie hatten ihn in eine dunkle Ecke des Zeltes gelegt, wo dicke Zeltplanen für Kühlung sorgten.

»Das ist nicht bloß eine Infektion. In seinem Körper wütet noch etwas anderes. Wenn das Fieber in den nächsten Stunden ausbricht, kommt er durch«, sagte Fauvre.

»Wir brauchen einen Arzt«, wandte Sophie ein.

Fauvre öffnete den Arztkoffer, den seine Tochter ihm gebracht hatte. »Bis der hier wäre, würde er nicht mehr gebraucht. Ob aus dem einen oder dem anderen Grund«, sagte er und zog eine neue Spritze auf. »Entweder hat er sich dann erholt oder er ist tot.«

»Wir sollten es wenigstens versuchen!«, sagte Sophie ungeduldig.

Abdullah berührte sie an der Schulter. »Sophie, ein Sandsturm ist angesagt. Da würde kein Arzt es wagen.«

Fauvre gab Max die Spritze und nickte zufrieden, dass er alles getan hatte, was im Augenblick möglich war. »Sorg dafür, dass er es kühl hat, wasch ihm das Gesicht und flöß ihm so viel Wasser ein, wie er trinken kann. Schaffst du das?«, fragte er ernst.

Ihr Vater übertrug ihr die Verantwortung für Max’ Pflege. Sie nickte. Fauvre machte kehrt und gab Abdullah zu verstehen, er solle mit ihm kommen. Sophie drückte den nassen Waschlappen aus und wischte Max den Schweiß von der Stirn. Sie senkte ihr Gesicht dicht vor seines, versuchte sich vorzustellen, was in diesem Jungen vorgehen mochte, der mit bebenden Lippen im Fieber leise stöhnte. Sie berührte die Schnur um Max’ Hals und spürte den in dem Anhänger gefassten Stein. Erst nachdem ihr Vater und Abdullah gegangen waren, fiel ihr auf, dass sie Max mit den Händen ans Bettgestell gefesselt hatten.

Während Sophie in den folgenden Stunden an Max’ Bett wachte, hing Fauvre seinen Gedanken nach. Vor Monaten hatte Zabala ihm ein Päckchen anvertraut. Er durfte es erst aufmachen, wenn er ein zweites Päckchen erhielt. Oder falls Zabala – er hielt das anscheinend für unabwendbar – getötet würde. Fauvre hatte sich an die Anweisungen seines Freundes gehalten, doch die Zeichnungen in dem dicken braunen Umschlag zeigten nicht mehr als die vor gut zwanzig Jahren von einem Astrologen gemachte Vorhersage – genau das, was Zabalas Untergang gewesen war. Alte Geschichten, die das Leben eines Menschen mit einem Fluch belastet hatten. Warum, zum Teufel, hatte Zabala diesen ganzen Unsinn nicht einfach vergessen? Sein ganzes Können hatte er damit verschwendet.

Fauvre nippte an einem Glas Cognac und dachte an seinen alten Freund. Der Spott, den Zabala damals ertragen musste, hatte den Lauf seines Lebens geändert. Seitdem hatte er sich nur noch zwei Dingen gewidmet: Er hatte Fauvre geholfen, einige der gefährdeten Tiere an einen sicheren Ort zu bringen, und er hatte die Wahrheit ans Licht bringen wollen. Die Wahrheit – dieses trügerische Wort, das für so viele Menschen je Unterschiedliches bedeutete – war für Zabala immer das höchste Gut gewesen. Die Wahrheit aufzudecken war deshalb das eigentliche Ziel des Mönchs Zabala, denn sie würde seine Theorien bestätigen und – das hatte er immer wieder betont – Europa vor einer schweren Katastrophe bewahren. Was diese Katastrophe ausmachte, das wusste allerdings nur der Wissenschaftler Zabala, der sein Ansehen verloren hatte.

Als Zabala ihm vor ein paar Wochen die Nachricht übermittelte, er besitze Informationen über die Tierschmuggler, war diese »Wahrheit« noch lange nicht enthüllt.

Fauvre konnte ja nicht selbst in die Pyrenäen fahren, aber Zabala hatte betont, seine Informationen seien sehr wichtig, sie müssten mit den Dokumenten zusammengeführt werden, die Fauvre bereits hatte. Der Mönch hatte sie Fauvre selbst bringen wollen, war jedoch davon überzeugt, dass man ihn beobachtete. Zabala fürchtete um sein Leben. Erst vor Monaten hatte ein Freund ihn verraten. Die Schlinge der Mörder zog sich bereits zu.

Fauvre wollte dieses Geheimnis ergründen. Wollte mit eigenen Händen den Grund spüren, der seinen Freund so viele Jahre lang angetrieben hatte. Und jetzt war Max Gordon aufgetaucht – der Bote mit dem zweiten Päckchen? Was sollte das sein? Was hatte Zabala Max gesagt? Irgendwie war Max an Informationen gelangt, um genau hierhin zu finden, an den Ort, den Zabala im Sinn gehabt hatte. Der alte Mann hatte ihm die entscheidende Warnung in einer Sprache mitgeteilt, die nur ganz wenige sprechen konnten. Fauvre hatte jetzt keinen Zweifel mehr – Max Gordon besaß den Schlüssel zur Wahrheit.

 

Das tobende Fieber wich allmählich aus Max’ Körper, seine jugendliche Kraft hatte dagegen gekämpft und gewonnen, doch noch umfing ihn heilsamer Schlaf mit tiefer Dunkelheit. Es musste noch mehr Zeit vergehen, bis sein Körper wieder in der Lage war, die Anweisungen seines Geistes auszuführen.

Sophie hatte das Zelt verlassen, als das Fieber gebannt war; jetzt kam sie wieder, glitt leise zwischen den im Wind flappenden Zeltbahnen hindurch. Sie maß seine Temperatur, legte die Hand auf seine kühle Stirn. Ihr Vater konnte jeden Augenblick wiederkommen, um nach seinem Patienten zu sehen, und da sich der Sandsturm bereits ankündigte, würde das eher früher als später sein.

Es war an der Zeit, zu tun, was sie tun musste.

Sie schaute Max mit einem Blick an, in dem Bedauern und Zärtlichkeit lagen. »Du hast es fast geschafft«, flüsterte sie.

Mit geradezu chirurgischem Geschick setzte sie die rasiermesserscharfe Klinge neben seiner langsam pulsierenden Halsschlagader an.

Sie küsste seine Stirn.

Die Klinge schnitt.

 

Sayid wusste, dass Bobby seinen Fluchtversuch jetzt jeden Augenblick starten würde. Der Amerikaner hatte sich Zeit gelassen und die kaputte Einspritzdüse des Diesels ausgebaut, und ihre Bewacher hatten in ihrer Aufmerksamkeit etwas nachgelassen. Vorhin hatte einer der Männer genickt – Bobby kam voran, der Junge wusste offenbar, was er da tat, warum sollte er sich also mit dem kaputten Teil abgeben?, hatte er den Hai gefragt. Der Killer mit den kaputten Zähnen sah gerade Peaches an. Er sagte etwas zu ihr und sie kletterte hinten in ihren Van hinein. Dann setzte sich der Mann wieder auf den Beifahrersitz. Sayid wollte nicht zu lange zu dem Killer hinsehen, nicht, dass der noch seine Gedanken erriet.

Die anderen hatten irgendwo eine Stelle gefunden, wo sie sich setzen konnten. Einer war wieder in Bobbys Bus gestiegen. Sayid hatte gebettelt, dass er sich draußen an einen der Picknick-Tische setzen durfte, er wollte lieber in der kalten Nachtluft hocken als in der stickigen Enge des Busses – er würde ja wohl kaum abhauen, oder?

Sayid konnte sich nicht auf die Zahlen konzentrieren, die ihm durch den Kopf schwirrten. Sein Herz klopfte zu schnell – ahnte schon den Augenblick voraus, in dem Bobby loslaufen würde. Sayid hatte sich etwas überlegt. Wenn er vorgab zu stolpern und auf dem grasbewachsenen Abhang hinfiel, vor dem er jetzt saß, könnte das die Gangster ablenken. Einer würde vielleicht sogar zu ihm gerannt kommen und Bobby aus den Augen lassen, obwohl er hoffte, sich durch so eine Aktion keine Schläge einzuhandeln.

Achte auf Bobby.

Warte, bis er zu dir hersieht. Oder nickt. Egal, was.

Peaches kam wieder aus dem Van des Hais heraus. Sie hatte ein Handy in der Hand. Warum? Der Hai musste ihr befohlen haben, jemanden anzurufen. Aber wen? Das konnte nur Sophie sein. Ja, genau! Der Hai hatte ihr gesagt, sie solle Sophie anrufen, solle so tun, als ob alles in Ordnung wäre, und wenn Sophie abnahm, kriegten sie vielleicht heraus, wo genau in Marokko sie war – und da war dann ja auch Max. Nein. Das ergab keinen Sinn. Sophie hatte ihm gesagt, sie hätte ihr Handy weggeschmissen, nachdem diese Männer sie in Biarritz verfolgt hatten. Er beobachtete Peaches. Jetzt tippte sie eine SMS. Sie konnte dem Hai ja auch weisgemacht haben, dass ihre Eltern reich wären und ein Lösegeld für sie bezahlen würden. Oder vielleicht Bobbys Familie. Egal, das spielte jetzt auch keine Rolle. Bobby beugte sich über den Motor, griff mit der rechten Hand nach einem Schraubenschlüssel. Er fiel ihm von der Karosserie des Autos herunter. Bobbys Kopf war immer noch über den Motor gebeugt, als Sayid ihn murmeln hörte: »Verdammt! Heben Sie ihn für mich auf, ja?«

Ohne zu überlegen, tat der Gangster, der die Taschenlampe in der Hand hielt, das Normalste von der Welt und bückte sich. In dem Augenblick schrie Sayid auf und warf sich den Abhang hinab – und schon holte Bobby aus und verpasste dem Gangster einen Tritt, dass er durch die Luft flog.

Sayid rollte und purzelte nach unten und konnte kaum noch etwas erkennen.

Bobby rannte, der überrumpelte Entführer kam taumelnd hoch, Autotüren wurden aufgerissen. Der Hai schrie Kommandos, die Spucke sprühte ihm förmlich aus dem Mund. Er zeigte auf Bobbys dunkle Gestalt, die sich unter dem gelben Schein der Lampen entfernte, und dann auf Sayid. Einer der Männer kam auf ihn zugerannt, andere stoben aus den Autos in alle Richtungen davon und verteilten sich, um die fliehende Beute noch einzufangen.

Peaches kam auf Sayid zugerannt.

»Nicht! Lass! Lauf weg!«, schrie Sayid.

Aber es war zu spät. Der Mann war als Erster bei ihm, riss ihn hoch und schlug ihm fest auf den Hinterkopf. Unter der Wucht des Schlags begann sich bei Sayid alles zu drehen. Für einen Augenblick hörte er nichts mehr. Er sah noch, wie Peaches den Mann anschrie, und dann rannte sie auf die Straße zu.

Lauf, versuch dein Glück, Peaches!

Die wattige Stille hob sich auf einmal wieder von seinen Ohren, als die Gangster sich gegenseitig Kommandos zuschrien. Das Letzte, was er von Bobby sah, war, wie er in seinem Kälteschutzanzug humpelnd und hüpfend, so schnell er konnte, auf die Baumreihe hinter der Gegenfahrbahn zulief.

Dann drang ein entsetzliches Geräusch durch die Nacht. Das Schleudern eines Autos mit blockierten Rädern. Reifen, die von Felgen gefetzt wurden. Schreie ertönten, Scheinwerfer stachen durch den gelben Schimmer – ein außer Kontrolle geratener Wagen, dessen Fahrer versuchte, den auf die Fahrbahn rennenden Männern des Hais auszuweichen.

Kurz darauf gab es einen dumpfen Schlag, bei dem sich einem der Magen umdrehte.

Ein Mensch war angefahren worden.

Metall ächzte. Glas splitterte.

Stille.

Sayid spähte hinüber, als einige der Gangster auf das beschädigte Auto zuliefen. Der Hai scherte sich nicht um den hinter dem Steuer zusammengesackten Fahrer und rannte zwanzig Meter zurück. Peaches beugte sich in das Autowrack, als zwei der Entführer den Fahrer herauszogen. Der Mann lebte, konnte aber nicht stehen und sackte zusammen.

Sayids Blick suchte den Hai und die anderen. Sie beugten sich über eine Gestalt am grasbewachsenen Fahrbahnrand. Eine schwarz gekleidete Gestalt.

Und dann sahen sie weg.

»Bobby! «, schrie Sayid in die Nacht.

Düstere Gesichter wandten sich ihm zu. Der Hai und seine Männer liefen zu ihren Autos zurück. Sayid wurde wieder in den Bus gestoßen. Die Tür knallte zu. Draußen hektisches Stimmengemurmel. Eine Minute lang Schraubenschlüssel im Einsatz. Die Motorhaube knallte zu. Der Motor wurde angelassen – die Gangster waren wieder obenauf.

Der Bus rollte über den Randstreifen, drückte Sayid gegen die Innenwand. Angst schnürte ihm die Kehle zu.

Max. Hilf mir. Bitte.

Denk nach, Sayid! Denk doch nach!, schrie ein anderer Teil seines Gehirns und machte sich über seine stummen Hilferufe lustig.

Was war eigentlich passiert? Was ergab hier keinen Sinn? Was hatte er da gesehen?

Das Scheinwerferlicht – wie es hin und her zuckte. Der Schlag, von dem ihm schlecht geworden war.

Der Zusammenprall – in Zeitlupe.

Bobby, der irgendwo tot oder verletzt liegen geblieben war. Der Hai brüllte den anderen etwas zu. Alle rannten jetzt zu den Autos zurück. Die Gangster rannten zu den Autos … Die Gangster rannten … Die Gangster rannten zu den Autos zurück – und Peaches auch.

Und da begriff Sayid, was nicht ins Bild gepasst hatte.