21

Der Sandsturm fegte um diese Jahreszeit nicht so heftig. Der Sand zog wirbelnd weiter, zwang die Menschen, den Kopf zu senken und die Augen zu bedecken, und schuf einen Schild, hinter dem sich Feinde verstecken konnten. Und Max Gordons Feinde waren in der Nähe.

Männer mit dunklen Augen und blauschwarzer Haut, die in der Wildnis lebten, deren Vorfahren schwere und brutale Kämpfe ausgefochten hatten und die noch zehrten von dem dabei erworbenen Geschick, bewegten sich auf die Stadtmauern zu. Es gab immer noch Stellen, an denen man mit Allradfahrzeugen nicht so leicht durchkam wie zu Pferde, und während der Sand gegen die Stadtmauern brandete, deckte ein halbes Dutzend dieser Krieger Augen und Mäuler ihrer Pferde ab. Ihre Turbane, etliche Meter eines feinen blauen Stoffs, um ihre Gesichter gewunden, schützten nicht nur Augen und Nasenflügel vor eindringendem Sand, sondern verhinderten nach ihrem Glauben auch, dass böse Geister in ihren Körper eindrangen.

Ihre Enterhaken verfingen sich in der Mauer. Während zwei der Männer die Zügel der Pferde hielten, begannen die vier anderen dunklen Krieger zu klettern.

 

Fauvre sorgte sich nicht nur um den fiebergeschüttelten Jungen, sondern auch um Aladfar, der in der ganzen Aufregung in Vergessenheit geraten und immer noch im Käfig eingesperrt war. Als er seinen Rollstuhl zu der Rampe wendete, die zu der Tigersenke hinabführte, sah er die Staubwolken, die den Sternenhimmel trübten. Die erste Sandwelle fegte über die Stadtmauern.

Mit ihr fielen Seile herab; die Gewänder der Eindringlinge bauschten sich im Wind. Die Angreifer hatten große Mühe gehabt, die hohen Mauern zu erklimmen, und ihre Entschlossenheit, das wusste Fauvre auch, konnte nur eines bedeuten: Sie kamen, um zu töten.

Aladfar war bereits auf den Beinen, als Fauvre eilig seinen Käfig öffnete. Er griff nach der an einem Haken hängenden Kette und murmelte beruhigend auf den Tiger ein. Dann hakte er die Kette an Aladfars Halsband ein, wendete den Rollstuhl und zog das Tier mit sich mit.

Mit seinen feinen Sinnen witterte der Tiger, dass sein Herr es eilig hatte. Es war, wie Fauvre gehofft hatte – der losspringende Tiger brachte ihn schneller voran, als er es aus eigener Muskelkraft geschafft hätte.

»Weiter, Aladfar, weiter! Du kannst uns alle retten. Très bien, mon ami. Gut gemacht. Genau, noch schneller.«

Die fernen Gestalten gingen jetzt auseinander, schwärmten aus, um die Stadt zu durchsuchen. Sie waren bewaffnet, sah Fauvre, einige mit Gewehren, andere mit Kalaschnikows. Sie blieben stehen, knieten im Sand nieder und zogen etwas hinter ihrem Rücken hervor, das wie kurze Stäbe aussah. Kurz darauf leckten kleine Flammen an den Enden dieser Stöcke – mit Teer getränkte Lumpen, die nun schon hell loderten. Fauvre war klar, warum sie keine normalen Fackeln nahmen; diese Flammen boten einen gewissen Schutz vor seinen wilden Tieren.

Inzwischen waren Fauvre und Aladfar an der Mauer des Gebäudes angekommen, in dem er Max behandelt hatte. Er tastete nach dem Lichtschalter an der Wand, doch Aladfar riss ihn mit seiner Kraft aus dem Rollstuhl und zog ihn vom Alarmknopf weg.

Fauvre ließ die Lederschlaufe am Ende der Kette los, sah Aladfar in die Nacht davonspringen und kroch zur Wand. Mit ausgestreckten Armen konnte er den Fenstersims erreichen, seine Rücken- und Armmuskeln leisteten Schwerstarbeit und schoben seinen Körper nach oben. Mit verzweifelter Anstrengung erreichte er schließlich den Schalter.

Er schlug mit der Faust auf den roten Knopf. Ein leises Jaulen begann die Nachtluft zu erfüllen, und binnen Sekunden heulte die alte Luftangriffssirene mit voller Lautstärke.

 

Max saß im Nu kerzengerade im Bett.

Zeltbahnen flatterten im Wind, Sand fegte scharrend über das Dach, und irgendwo in der Nacht brüllte ein Tiger. Instinktiv hob Max die Hand an den Hals. Sein Anhänger war nicht mehr da. Jetzt bemerkte er auch die zerschlissenen Seile an seinen Handgelenken – er war angebunden gewesen, aber jemand hatte ihn befreit und die Schnur mit dem Anhänger durchgeschnitten.

Die Sirene jaulte noch, da war Max schon aus seinem Zelt hinaus. Ein Sandschleier wehte über den Sternenhimmel; der wirbelnde Staub zog so schnell wieder fort, wie er gekommen war. Feuer züngelte in der Dunkelheit – Max zählte drei, vier Männer mit brennenden Fackeln. Männer, die sich blaue Turbane um die Gesichter gewickelt hatten. Ein orangefarbener Schimmer, die perfekte Tarnung, strich durch die Schatten. Aladfar! War das der Grund für das ohrenbetäubende Geheul der Sirenen – der frei herumlaufende Tiger? Nein! Diese Araber waren bewaffnet. Das war ein Überfall.

Max rannte quer durch das Gelände auf Fauvres Wohnung zu. Die Eindringlinge durchsuchten die Gebäude schnell und gründlich, einer von ihnen war schon zu den Zelten unterwegs. Er kam direkt auf Max zu. Dass der Mann kräftig war, war nicht zu übersehen, und Max hätte große Mühe gehabt, einem solchem Kämpfer Paroli zu bieten. Er wich zur Seite aus und rannte über einen Wall; im Schatten der Senke jagte eine Meute äthiopischer Wölfe herum wie Piranhas in einem dunklen Fluss. Der Mann folgte ihm dicht auf den Fersen. Um die Wölfe in Panik zu versetzen, warf er die brennende Fackel zu ihnen hinunter, vielleicht in der Hoffnung, der nur wenige Meter vor ihm rennende Junge würde die Nerven verlieren. Der Mann sprang auf ein zwei Meter hohes, betonverkleidetes Bewässerungsrohr, rannte bis ans Ende und sprang von dort auf einen Stahlträger, der auf verrosteten Altautos lag. Die körperlichen Strapazen des Lebens in der Wüste machten ihm die Jagd leicht. Ein halbes Dutzend Schritte noch, dann hatte er den Jungen eingeholt. Seine Hand war feucht von Schweiß, der Griff seines Schwerts glitschig. Er konnte sein Gewehr abschnallen und den Jungen mit einer Salve niederstrecken, doch ein Wüstenkämpfer tötete lieber mit dem Schwert. Er fasste fester zu.

Max hörte den kräftigen Mann hinter sich durch den Staub stampfen. Er hatte sein Tempo absichtlich verlangsamt, so als sei er ins Taumeln geraten, denn er wollte seinen Feind mit dessen eigenen Waffen schlagen. Der Krieger stieß einen Siegesschrei aus, als er direkt hinter Max zum Sprung ansetzte. Sein Schwert sauste mit tödlichem Sirren durch die Luft. Max fuhr herum, sprang auf einen der rostigen Träger zu, spürte das raue Metall an seiner Hand und schwang zur Seite. Der Mann verlor, als er ausholte, das Gleichgewicht und hieb, während er schon fiel, in die Luft. Stahl traf auf Stahl, die Klinge des Kriegers schepperte. Der Schlag prallte mit voller Wucht zu seiner Schulter zurück und für einen Moment lag der Mann verdutzt im Staub.

Max verschwendete keine Zeit. Den Träger als Stütze benutzend, trat er gegen ein dort liegendes Ölfass und brachte es in Richtung Feind ins Rollen. Er hörte ein Ächzen, sah den Mann zusammensacken, aber auch gleich darauf wieder auf die Knie kommen.

Und dann sah Max die Augen des Kriegers, wild vor Hass und Zorn. Wütend klatschte Metall auf nackte Haut, als der Mann seine Kalaschnikow nach vorn zerrte. Kaum hatte Max sich hinter dem Autowrack in den Staub geworfen, ratterte die Gewehrsalve durch das Jaulen der Sirene. Unter dem Pfeifen abprallender Querschläger schlugen Kugeln in den Stahlträger, an dem Max eben noch gehangen hatte.

Als Max auf dem Boden landete, stieß er sich mit den Händen wieder ab, rollte sich zusammen, zog den Kopf ein und robbte durch den Staub, drehte und wälzte sich, so schnell er konnte, auf ein anderes Autowrack zu, das auf vier Böcken stand. Aus den Augenwinkeln sah er den Krieger, der die Kalaschnikow jetzt über seinen Kopf gehoben hatte und aufs Geratewohl über das Auto hinwegfeuerte, das ihn von Max trennte. Doch dann sah er den Mann über das Dach klettern.

Max saß in der Falle. Er hatte keine andere Wahl, als kopfüber in das Auto zu springen, obwohl er wusste, dass sein Gegner es von oben mit Schüssen durchlöchern würde.

Benommen, in den Ohren das Getöse von Gewehrfeuer und Sirenen, ließ er sich in das Wrack fallen. Jetzt gab es kein Entkommen mehr.

Donnerndes Rattern erschütterte das Metall, durchsiebte die Karosserie des alten Wagens und gab ihr den Todesstoß. Der Mann kam immer näher, feuerte pausenlos weiter, pirschte sich heran, um den Jungen zu töten.

Das metallische Scheppern hörte auf, als er das Feuer plötzlich einstellte und einfach nur dastand, die Waffe weiter schussbereit, und durch den Pulverdampf spähte. Seine Augen durchbohrten das Dunkel, suchten nach den blutigen Überresten seines Opfers. Doch das Wrack war leer. Kein Bodenblech, kein Lenkrad; es war nur ein hohler Blechhaufen.

Das Scharren im Sand hörte er nicht, spürte aber kurz darauf den jähen, heftigen Schmerz, als ihm ein Gerüstpfosten in den Rücken gerammt wurde. Und als er in die Knie ging, begriff er blitzartig, dass sich der Junge unter der Karosserie hindurchgerollt hatte und jetzt hinter ihm stand. Max schwang den Pfosten wie einen Baseballschläger, schlug dem Mann den Turban vom Kopf und schickte ihn anschließend selbst zu Boden.

Dann rannte er zu den Gebäuden zurück. Fauvre lag auf der Erde und zog mit aller Kraft an dem umgestürzten Rollstuhl, um ihn aufzurichten. Max hatte sich nie stärker gefühlt. Er drehte den batteriegetriebenen Rollstuhl um, fasste den Mann unter den Achseln und zog ihn auf seinen Sitz.

»Aladfar ist los!«, stieß Fauvre keuchend hervor.

»Ich hab ihn gesehen. Aber die Männer …«

»Tuareg! «

Von denen hatte Max schon gehört. Als berittene Krieger, alte Feinde der französischen Kolonialmacht und der Fremdenlegion standen sie in dem Ruf, Furcht und Schrecken zu verbreiten. Man kannte sie auch unter dem Namen das Blaue Volk, weil sie die Stoffe, aus denen sie ihre Turbane und die Umhänge über ihren Kaftanen fertigten, mit Indigo einfärbten. Der blaue Farbstoff zog in ihre Haut ein, versiegelte sie und schützte bei der Wüstenhitze vor Austrocknung. Und er verlieh den Kriegern eine wilde Ausstrahlung, bei der selbst den Tapfersten Angstschauer über den Rücken liefen.

»Hinter dir!«, schrie Fauvre.

Einer der Tuareg war um das Gebäude gebogen, die brennende Fackel kündigte ihn an, noch bevor Fauvre den Mann richtig sah. Max reagierte sofort, als der Krieger ohne Vorwarnung angriff. In dem Gebäude lagerten Stroh- und Heuballen, und Max schnappte sich die erstbeste Waffe, die er fand – eine Heugabel. Der Krieger schlug mit der brennenden Fackel nach Max und griff mit der anderen Hand nach seiner um den Rücken geschlungenen Kalaschnikow. Binnen Sekunden hatte er sie in der freien Hand schussbereit. Einer Feuergarbe war Max entkommen, aber da, wo er jetzt stand, war er ungeschützt. Und Fauvre war hilflos.

Max machte einen Sprung, zielte auf den Arm des Mannes. Der Angreifer wich nach links aus, aber eine Zinke der Heugabel hatte sich in den Lauf seiner Waffe gebohrt. Der Mann konnte jetzt nicht schießen, ohne dass es ihm den Arm weggefetzt hätte. Max zerrte und schob wie wild, spürte, wie er dem Tuareg die Waffe entwand, aber damit hatte er auch sein eigenes Verteidigungsinstrument verloren. Der Angreifer stöhnte auf vor Verblüffung und Wut, zog das gebogene Messer, das an seiner Taille hing, aus dem Futteral und hieb wild nach allen Seiten. Max zuckte zurück, wich dem kalten Stahl aus, der im Schein der brennenden Fackel blutrot schimmerte.

Max stolperte und fiel hin – so jedenfalls sah es für seinen Angreifer aus. Max wusste, wie schwer es war, jemanden anzugreifen, der sich auf dem Boden herumrollt. Da seinem Gegner ein scharfer Hieb nun nicht vergönnt war, musste er sich bücken, wenn er Max aufspießen wollte. Und das tat er auch. Max beschrieb einen kraftvollen Bogen mit dem rechten Arm und ließ den Stein los, den er am Boden aufgelesen hatte. Der Treffer verblüffte seinen Angreifer, warf ihn in die Hocke zurück, wo er das Gleichgewicht verlor und rücklings umkippte. Die brennende Fackel segelte davon, das Messer fiel in den Staub. Als Max aufsprang, war Fauvre mit dem Rollstuhl schon herangefahren und packte den benommenen Mann von hinten, drückte ihm mit seinem muskulösen Arm den Hals zu und presste ihm den Atem aus der Lunge. Der Krieger sackte zusammen.

»Ich fessele ihn, Max. Du musst verschwinden, dich verstecken. Ich hab noch drei andere gesehen. Die sind deinetwegen hier!«

Fauvre fesselte dem Tuareg mit der langen Stoffbahn seines Turbans die Arme, doch kaum hatte er Max gewarnt, als ein Luftzug durch das Heulager fegte und einen Feuerball aus brennendem Stroh auflodern ließ. Die Fackel des Angreifers hatte die wie Zunder brennenden trockenen Ballen in Brand gesetzt.

Max rannte zwischen Fauvre und das Feuer, brachte den alten Mann in Sicherheit, als eine zweite Flammenzunge in die Nacht hinausleckte. Sie klopften sich Funken aus den Haaren und von der Kleidung. Max hatte Rußstreifen im Gesicht – er sah aus wie nach einem Luftangriff.

»Ich kann mich nicht verstecken, Laurent. Wir schlagen sie, das schaffen wir! Die rechnen doch nicht mit Gegenwehr. Und Abdullah und seine Männer sind auch noch da. Wir sind mehr als die.«

Fauvre sah über seine Schulter und stieß einen Schrei aus – eine kehlige Mischung aus Französisch und Arabisch. Blitzschnell drehte sich Max um. Aladfar knurrte, der Tiger duckte sich ängstlich vor dem brennenden Heulager. Das Durcheinander aus Angst einflößenden Schussgeräuschen und dem Geruch, den Menschen ausströmen, wenn sie jagen, hatte die große Katze verwirrt, und nun war sie zu dem einzigen Menschen zurückgekommen, von dem sie je Anweisungen empfangen hatte.

Fauvres ausgestreckte Hand und seine Worte vermochten Aladfar zu beruhigen. Wie ein abgerichteter Hund trabte der Tiger in den Schutz der Steinmauer.

»Wo ist Sophie? Haben die sie mitgenommen?«, rief Max über das Feuer hinweg.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist sie vor ihnen weggelaufen.« Die Sorge des Vaters brach sich Bahn. »Finde sie, Max! «

Max wollte schon loslaufen, doch Fauvre hatte ihn mit eisernem Griff am Arm gepackt. Wieder sagte er rasch etwas zu Aladfar. Redete ihm gut zu, schmeichelte ihm in einer Sprache, die die Furcht des Tigers besänftigte.

Schüsse, konfuse Schreie und laute Drohungen schallten durch die alte Festungsstadt. Jagdhunde fauchten, Großkatzen brüllten, Affen schrien, während die ohrenbetäubende Sirene immer noch ihr Jaulen durch die Wüste schickte.

Aladfar spähte gebannt und mit offenem Maul ins Dunkel, er keuchte vor Aufregung. Fauvre langte nach unten und hob die Kette auf.

»Nimm ihn mit und such meine Tochter«, sagte er zu Max und drückte ihm die Lederschlaufe in die Hand.

Max nahm sie, als sei es das Normalste von der Welt, bei einem nächtlichen Überfall wilder Tuareg einen dreihundert Pfund schweren Tiger an der Leine zu haben.

Das Heulager war mittlerweile ein Inferno. Funken stoben himmelwärts, den Sternen entgegen. Die beißende Luft verursachte Hustenreiz. Bevor Max etwas sagen konnte, wendete Fauvre den Rollstuhl, beugte sich nach unten und hob das Messer des Tuareg auf.

»Ich hole Hilfe!« Dann war er fort.

Eine fünf Meter lange Kette verband sie nun. Max rannte los, und die Kette spannte sich, als Aladfar Schritt hielt mit einem Jungen, der wie ein Tier lief – mit großen Sprüngen, nicht in vollem Galopp, sondern stets bereit, auf plötzliche Gefahr zu reagieren.

In den zuckenden Schatten sah Max, wie Abdullah jetzt mit einem Tuareg kämpfte. Der große, kräftige Mann rang mit dem Krieger, hatte ihn an seiner Kleidung gepackt, hob ihn hoch, drehte ihn halb herum und schleuderte ihn mit einem kräftigen Wrestler-Wurf zu Boden, wodurch der Angreifer ohnmächtig wurde.

Drei erledigt – einer noch.

Doch da hatte Max sich geirrt. Die Kampfgeräusche waren zu den auf der anderen Mauerseite bei den Pferden wartenden zwei Männern durchgedrungen. Und da Krieger nichts lieber tun, als sich ins Getümmel stürzen, war einer der beiden schon dabei, über die Mauer zu klettern.

Max und Aladfar rannten über eine kleine Steinbrücke zwischen zwei Pferchen. Aus der Dunkelheit kam eine schreiende Gestalt auf sie zu – ein in sein Gewand gehüllter Kämpfer, einen Krummsäbel in der einen, eine brennende Fackel in der anderen Hand.

Abdullah vernahm das Kampfgeschrei des Mannes, drehte sich alarmiert um und sah, dass Max angegriffen wurde. Seine gebrüllte Warnung ging im Jaulen der Sirene unter. Er hatte einen zweiten Krieger von der Mauer springen und von Max’ Flanke kommen sehen, das Schwert über dem Kopf schwingend, bereit, mit einem Hieb zu töten.

Max hörte ein Brüllen, bei dem ihm fast das Herz stehen blieb. Aladfar griff an, sprang auf den ersten Angreifer zu. Mit seinem kräftigen Zug riss das Tier Max genau in dem Moment um, als der zweite Mann sich jetzt in seinem toten Winkel näherte.

Max, der die Kette umklammerte, wurde von dem Tiger herumgezerrt und zu Boden geworfen. Das Schwert, ein schimmernder Streifen, mit so viel Kraft geschwungen, dass es einen Arm oder ein Bein abtrennen konnte, traf den steinigen Untergrund. Wie in Zeitlupe sah Max Aladfar über den ersten Angreifer herfallen, doch wie durch ein Wunder konnte sich der Mann noch einmal losreißen. Seine Kleider waren zerfetzt, von Aladfars Tatzen tropfte Blut. Mit einem schrecklichen Schrei warf sich der Tuareg über das nächstbeste Geländer, um dem letzten, tödlichen Biss zu entkommen. Max wusste, der Mann hatte mehr als einmal Glück gehabt. Er war Aladfar fürs Erste entkommen und in die Senke zu den Affen gefallen. Das alles schoss ihm durch den Kopf, als die Kette plötzlich erschlaffte. Aladfar hatte sich umgewandt.

Und brüllte.

Ein Brüllen, mit dem er seine ganze geballte Kampfkraft mobilisierte.

Angst erschien in den Augen des zweiten Angreifers. Er wollte erneut ausholen, um den Jungen zu töten, doch in dem Augenblick fiel ihm der Schleier vom Gesicht. Nach seinem Glauben konnte das Böse sein Herz treffen, wenn er Mund und Nase unverschleiert hatte. Das Gebrüll war von dem Jungen gekommen, von dem flackernden Schatten, der vor ihm aufragte wie ein riesiges Tier. Oder verzerrte das wütende Feuer alles, was er sah?

Aladfar zerrte und zog, wollte zuschlagen und töten, doch den Mann traf der Hieb dieses anderen Wesens, das die Kette mit dem Tiger hielt. Es war kein Tatzenhieb, sondern der ausholende Arm von Max, der den Tuareg fällte und der Gnade Aladfars überließ.

Der Tiger sprang.

Max stieß einen Laut aus, der ihm selber fremd war. Er hatte das Inferno der Nacht in sich aufgenommen und verwandelte es in einen Autorität und Macht demonstrierenden Schrei.

Aladfar reagierte unmittelbar. Er wich zurück, spürte, wie die Kette anzog – ein zweites Band zwischen ihm und diesem Wesen der Wildnis.

Max’ Mund war trocken wie Sand. Er hob den Blick und sah sich um. Er kniete auf dem Rücken des bewusstlosen Kriegers und fesselte seine Hände mit der Kordel, die die Kleider des Mannes zusammenhielt.

Das Jaulen der Sirene ließ nach, wich zögernd der Stille. Max sah Abdullah in der Ferne, er kam auf ihn zugewankt, die einst makellose Djellaba mit Schmutz und Blut beschmiert.

Fauvre tauchte aus den Rauchschwaden auf, rief Abdullah zu sich und ließ sich von ihm im Rollstuhl zu Max bringen.

»Ihr Zimmer ist von außen abgeschlossen. Sie ist nicht da«, sagte Fauvre.

Tiere krakeelten und schnatterten immer noch, aber allmählich ergriff die Stille von Max Besitz. Er kehrte in die Realität zurück, nach einem frenetischen, adrenalingesättigten Kampf.

Max hob den Kopf und blickte in die bernsteinfarbenen Augen der mächtigen Katze, die keine zwei Meter von ihm entfernt saß und ihn ansah. Langsam und bedächtig blinzelte Aladfar. Ein Ausdruck von Zufriedenheit – alles ist gut, schien er zu sagen.

Es war vorbei.

 

Max, Fauvre, Abdullah und die anderen Männer spürten noch die Nachwirkungen des Kampfes. Ihre Muskeln waren verkrampft und schmerzten, Schnittwunden und Kratzer brannten. Heißer, süßer Tee half ihnen, leichter in den neuen Tag hineinzufinden, als der Morgen am Himmel dämmerte und der Mond der Sonne Platz machte. Kleinere Wunden wurden versorgt, die Tiere beruhigt, gefüttert und getränkt, wie es ihr Tagesablauf erforderte. Max hatte sich rasch an einem Wassertrog gewaschen; er musste mit Fauvre sprechen und sich Sophies Zimmer ansehen – er musste herausfinden, ob sie vielleicht an diesem Überfall beteiligt war. Doch zuerst brauchte er noch andere Informationen – vorausgesetzt, Fauvre kam jemals vom Telefon weg.

Die Polizei konnte erst später am Tag zu ihrer Stadt kommen. Der Sandsturm war zwischen den Tränen der Engel und der Hauptstadt hindurchgefegt, sie waren unterbesetzt und es war nicht das erste Mal, dass der verrückte Franzose mit Eindringlingen in seinem Tierasyl zu kämpfen hatte. Sie würden kommen, sobald sie konnten. Bis dahin sollten sie ihre Gefangenen hinter Schloss und Riegel setzen.

Niemand sprach darüber, warum sie angegriffen worden waren, doch Abdullah hatte nach den Übergriffen in Marrakesch keinen Zweifel daran, dass sie dafür bezahlt worden waren, Max zu finden.

Und jetzt war Sophie verschwunden.

Nicht gekidnappt, sondern einfach in die Nacht verschwunden. Am anderen Ende der Stadt befand sich ein Tor, das zu einer Laderampe führte; früher waren darüber die Lastwagen gekommen, die die Tiere in die Stadt brachten. Dieses Tor war geöffnet und wieder geschlossen worden; und dorthin war Sophie mit Abdullahs Landrover gefahren. Fauvre schimpfte wütend über das Verhalten seiner Tochter. Sein Stimmungsumschwung – während des Überfalls hatte er sich größte Sorgen gemacht, jetzt verurteilte er Sophie – zeigte Max einmal mehr, wie unbeständig Erwachsene sein konnten. Dass Sophie ihm Zabalas Anhänger weggenommen hatte, erzählte er Fauvre nicht. Er brauchte selber erst mehr Informationen. Fauvre rief bei einem halben Dutzend Leuten an: bei seinen Kontakten am Flughafen, bei den Banken, bei jedem, der wissen konnte, wohin Sophie gegangen war. Er sperrte sogar die Kreditkarten, die er ihr gegeben hatte, und ihr Bankkonto. Sie würde schon bald wieder nach Hause zurückkommen müssen.

Max versuchte Fauvre in seinem Zorn zu besänftigen. »Ich habe Ihnen diese Schwierigkeiten ins Haus gebracht, Laurent. Das tut mir leid, aber es hängt mit Zabala zusammen und jetzt auch mit Sophie. Was hat er Ihnen geschickt?«

Fauvre ging mit Max über eine Rampe da hinunter, wo früher das Gefängnis der Stadt gewesen war. Die abgestandene Luft bewahrte noch die Erinnerung an die verlorenen Seelen, und die schwach leuchtenden Glühbirnen warfen einen düsteren Schein über das, was kaum mehr war als ein in den weichen Sandstein gegrabener Tunnel.

»Ich habe immer gewusst, wenn Zabala kein Verrückter ist, dann könnte das, was er mir geschickt hat, sehr wichtig sein. Hier würde niemand danach suchen«, sagte Fauvre, als er aufschloss und die Tür zu einem Tresorraum aufzog.

Die umfangreichen Dokumente, die meisten handschriftlich verfasst, waren für Max so gut wie unleserlich. Doch als sie wieder im helleren Licht von Fauvres Büro angelangt waren und er die Blätter ausbreitete, zeigte sich, dass die Papiere chronologisch geordnet waren – beginnend mit Zabalas ersten Untersuchungen, Spuren und Theorien. Max konnte immer noch nicht viel damit anfangen – mit der Fotografie und den Zeichnungen schon eher. Und mit Fauvres Erläuterungen.

»Ich kenne Zabala und diesen Mann«, er zeigte auf das Foto, das Max schon einmal gesehen hatte – der Hagere, mit Zabala vor dem Château d’Antoine d’Abbadies stehend –, »seit fast dreißig Jahren. Der Mann neben Zabala ist einer seiner wenigen Freunde. Er hat Zabala verraten, als der mit seinen Informationen an die Öffentlichkeit gehen wollte. Zabala hatte sich in den Kopf gesetzt, dass die Welt ihm diesmal zuhören würde, aber dieser sogenannte Freund hat versucht, seine Informationen zu stehlen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Er ist einfach verschwunden.«

Fauvre blätterte noch mehr Seiten um. »Zabala wusste, dass sein Freund ihn an jemanden verraten hatte, der über viel Macht verfügte, aber nicht, an wen.«

Er faltete einen Brief auf und reichte ihn Max. Die Schrift war hektisch und chaotisch. »Zabala war überzeugt, sie würden ihm jemanden auf den Hals hetzen, der noch viel gefährlicher war als der vermeintliche Freund. Und noch ehe er mir seine Informationen zukommen lassen konnte, hat dieser Killer zugeschlagen.«

Fauvre schob die Schriftstücke hin und her und legte dieselben Zeichnungen vor Max auf den Tisch, die dieser schon in dem Château gesehen hatte: den Kreis, die eingezeichneten Winkel und die Zahlen.

»Das ist ein Geburtshoroskop«, sagte Max.

»Ja, richtig. Siehst du den französischen Namen dort auf der Zeichnung?«, fragte Fauvre.

Max kniff die Augen zusammen, um Zabalas kleine Schrift zu entziffern. »Betel irgendwas … Betelnuss?«

Fauvre lächelte. »Beteigeuze. Das ist ein roter Riesenstern. Sehr groß. Fünfhundertmal größer als unsere Sonne. In der geschichtlichen Überlieferung wird er manchmal auch als Ankündiger bezeichnet.«

Er bemerkte einen Ausdruck von Unsicherheit – oder war es Unglauben? – auf Max’ Gesicht.

»Doch, wirklich, Max. Die Astronomen glauben, dass dieser Riesenstern innerhalb der nächsten tausend Jahre explodieren und alles zerstören wird. Die Astrologen wiederum registrieren seinen Einfluss seit Jahrhunderten. Er war am 11. September zu sehen, beim Tsunami in Indonesien, ja sogar, und das ist nun wirklich schon lange her, bei dem großen Brand in London. Wenn Beteigeuze an einem bestimmten Punkt am Himmel steht, kündigt das immer eine Katastrophe an.«

Max war nur mäßig beeindruckt. Sternenkarten, Vorhersagen und Planetenkonstellationen. Wenn das mal nicht wieder bloß Hokuspokus war. Quatsch eben. Botschaften von den Sternen, kosmische Einflüsse – so etwas konnte Max nicht ernst nehmen, das waren keine harten, nüchternen Fakten. Eins war allerdings nicht zu bestreiten. Es glaubten genug Leute an dieses Zeug, dass jemand Zabala ermordet und Max Verfolger auf den Hals gehetzt haben konnte. Das waren Tatsachen. Und die nahm er durchaus ernst.

»Und jemand hat Zabala getötet, um an diese Information zu kommen, und hat Leute auf dich gehetzt, weil du jetzt sein Geheimnis kennst.«

»Vielleicht suchen die das hier. Ich habe nämlich ein Geburtshoroskop, das genauso aussieht«, sagte Max und zog die Zeichnung hervor, die er im Château d’Abbadie gefunden hatte.

Er legte die beiden Blätter nebeneinander. Die Zeichnungen kamen ihm identisch vor, von derselben Hand gefertigt. Er hatte von Astrologie zwar keine Ahnung, war aber überzeugt, dass er mit ein wenig Übung schon herauskriegen würde, was es damit auf sich hatte. Landkarten, Seekarten, Sternenkarten. Sie waren alle nach einem logischen System aufgebaut.

Max zeichnete mit dem Finger die Symbole nach, die er nicht verstand.

»Hier ist etwas anders«, sagte er. »Auf Zabalas Originalzeichnung von mir ist ein zusätzliches Dreieck in den Kreis des Geburtshoroskops eingezeichnet. Das fehlt auf Ihrer Zeichnung. Ganz identisch sind sie also nicht.«

»Deshalb hat er mir also diese Karte geschickt. Du musst noch etwas haben, irgendetwas, das den Unterschied zwischen diesen beiden Vorhersagen zeigt. Die erste war nicht korrekt, aber die zweite …«

Fauvre sah Max konsterniert an. Ihm fiel auf, dass Zabalas Anhänger nicht mehr da war.

»Wo ist der Stein? Hast du den während des Angriffs verloren?«, fragte er.

»Nein, den hat Sophie genommen. Deswegen ist sie fortgelaufen. Ich muss unbedingt ihr Zimmer sehen.«

 

Das Zimmer war früher einmal Teil einer Gruppe von eingeschossigen Häusern gewesen. Die Ruinen zu beiden Seiten verhinderten bis auf eine Tür jeden Zugang. Wie andere Teenager auch schloss Sophie Fauvre ihr Zimmer stets ab. Es war ihr Heiligtum. Aber einer von Fauvres Männern brachte einen Bolzenschneider mit und kniff damit den dicken Bügel des Vorhängeschlosses auf.

Zwei der Innenwände waren mit ockergelbem Lehm bestrichen. Kleine Fenster, davor Musselinvorhänge, ließen schwaches Licht herein. Max probierte den Lichtschalter aus; nichts geschah. In dem kühlen, schattigen Raum stand ein Bett, mit einer bunten, glänzend bestickten Decke bedeckt. Bücher füllten die Regale an einer Wand, Musik-CDs die an der anderen. Kerzen, von übergelaufenem Wachs gehalten, waren überall im Zimmer verteilt, manche nur noch bunte Pfützen, so tief waren sie heruntergebrannt. Ein schwacher Duft hing in dem stickigen Raum – Sophies Parfum, wie Max erkannte.

Ein Schreibtisch, der hauptsächlich als Frisierkommode verwendet wurde. Make-up, ein Glasbehälter voller Haarklammern, ein Sammelsurium von Kämmen und Bürsten; an den Spuren von Staub und Körperpuder sah man, wo Flaschen mit Öl – Lavendel, Majoran, Thymian – klebrige Kränze hinterlassen hatten.

Fauvre hatte sich mit seinem Rollstuhl in den Raum gezwängt und betrachtete genauso gebannt wie Max die sich vor ihm ausbreitende Welt seiner Tochter. Fotografien, Poster, Zeichnungen und Skizzen des Mädchens – breite Farbstriche auf Leinwänden, stumme Seiten voller Zorn, von einer wütenden Hand mit Kohlestift gekritzelt. Eine Welt aus Schmerz und Verzweiflung.

Max sah sich Familienfotos aus einer Zeit an, als Sophie offensichtlich noch ein Kind war. Der muskulöse Fauvre vor seinem Unfall, die schöne, dunkelhaarige Frau ohne Gesicht. Bei allen Bildern, die Eltern und Kind zeigten, war bis in die allerjüngste Zeit hinein das Gesicht der Mutter entweder verbrannt oder abgekratzt worden.

Am meisten interessierte Max aber die Wand über Sophies Bett. Dicht zusammengeschoben hingen dort Bilder, die weit entfernt von Marokkos brütender Sonne aufgenommen worden sein mussten. Sie zeigten weiße Landschaften, stachlige grüne Nadelbäume und Skifahrer in bunten Anzügen bei Wettkämpfen. Aber das hier waren keine Abfahrtsläufer, diese Skifahrer trieben einen anderen Sport. Einige zielten kniend mit Gewehren, andere zielten im Stehen, während wieder andere auf Skiern fahrend im Hintergrund zu sehen waren.

»Ein Ski-Crosslauf«, murmelte Max vor sich hin.

»Richtig«, sagte Fauvre. »Ein Biathlon. Voriges Jahr in Norwegen. Sophie nahm in der Jugendmannschaft am Wettkampf über die Fünfzehn-Kilometer-Distanz teil. Unter die ersten drei hat sie es aber nicht geschafft. Die Ausdauer war schon da, aber beim Schießen hat es bei ihr noch gehapert.«

Max schaute genauer hin. Er betrachtete die Gestalt, die auf einer ganzen Fotoreihe festgehalten war. Aufgewirbelter Schnee wies darauf hin, dass der Skifahrer gebremst hatte, um auf die Zielscheibe zu schießen. Im Stehen, Gewehr an der Schulter. Max hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Der Mensch auf dem Foto hatte fast genau dieselbe Haltung wie der Killer, als er auf Zabala schoss.

Max verfolgte nacheinander auf den Bildern, wie der Schütze bergab zum Schießplatz fuhr, bis er schließlich direkt am Schießstand in Nahaufnahme zu sehen war.

Der einteilige Rennanzug dieses Skifahrers hatte dasselbe Muster wie der des Mörders, gezackte schwarze Linien auf weißem Grund, und das Gesicht des Schützen war nun von vorn zu sehen.

Max war der Atem stehen geblieben, sein Herz hämmerte. Er kannte das Mädchen mit den hellen Augen, das den Finger da am Abzug hatte.

Den Mörder, dessen Namen er nicht aussprechen konnte – Potÿncza Józsa.

Peaches.