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Erleichtert sah Max den verbeulten blauen Kleinbus am hinteren Ende des Krankenhausparkplatzes stehen. Snowboards und Windsurf-Ausrüstung waren gut verpackt oben auf dem Gepäckträger festgeschnallt. Die Schiebetür stand offen und davor saß Bobby Morrell auf einem Klappstuhl, neben ihm zwei Teenager, die Max vom Wettkampf her kannte. Die Gendarmen verstanden keinen Spaß, wenn es um Trinken in der Öffentlichkeit ging, und da niemand Lust hatte, Strafe zu zahlen oder Schwierigkeiten mit der Polizei zu bekommen, tranken Bobby und seine Freunde nur heißen Kaffee und aßen selbst gemachte Hotdogs dazu.

»Hey«, sagte der Amerikaner mit breitem Grinsen, als er Max sah. »Hab deine Nachricht erhalten. Dachte, du musst eine Weile im Krankenhaus bleiben – und jetzt sieh dich an. Ich hab dir deinen Rucksack mitgebracht.«

Max grüßte mit einem Nicken und nahm dankbar einen Becher Kaffee. »Mir geht’s gut. Das Essen im Krankenhaus ist mies, und stell dir vor, die haben doch tatsächlich meine Jacke zersäbelt.« Er verschlang bereits einen Hotdog – eine klitschige Wurst mit massenhaft Ketchup. Eine köstliche Schweinerei, wenn man solchen Hunger hatte.

»Ja? Macht nichts«, sagte Bobby und gab einem seiner Kumpels einen Wink. Der Junge verschwand im Wagen, um gleich darauf mit einer coolen Snowboarderjacke wieder aufzutauchen. »Probier die mal an. Die hat einer zusammen mit seiner ganzen Ausrüstung bei mir liegen lassen. Müsste ungefähr deine Größe sein. Nimm dir alles, was du brauchst; er kommt erst in zwei Wochen zurück.«

Die Jacke passte. Max bedankte sich. »Wo ist Peaches ?«

Bobby zuckte mit den Schultern, stieß ein Grunzen aus und biss in seinen Hotdog. »Abgehauen. Schlechte Verliererin. Wir treffen uns in Biarritz bei meinen Großeltern. Typisch Mädchen, oder?«

»Ja«, sagte Max. »Typisch Mädchen.« Er wünschte, er hätte Bobbys Erfahrung gehabt.

Er schluckte den ganzen Brei in seinem Mund auf einmal runter, spürte, wie er beinahe in seiner Luftröhre stecken blieb, und bekam dann endlich wieder Luft.

»Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich bei dir zu bedanken, Bobby. Wenn du nicht die Pistenpatrouille alarmiert hättest, würde ich immer noch da oben liegen, tiefgefroren wie ein Eiswürfel.«

Sie sprachen beide mit vollem Mund, konnten das Essen gar nicht schnell genug in sich hineinstopfen.

Bobby sprühten Krümel aus dem Mund. »Ach, das war doch nichts. Eigentlich hab ich gedacht, so eine Lawine kannst du gar nicht überleben. Aber du hast es geschafft. Cool. Manchmal hat man wirklich Glück. Ich hab dich übrigens nicht besucht, weil wir eine spitzenmäßige Party hatten und den frischen Schnee zum Skilaufen nutzen wollten. Hätte ja sowieso nichts geholfen, wenn ich dir hier die Hand gehalten hätte.«

»Ja, man darf keine gute Piste auslassen«, bestätigte Max. Er spülte den letzten Schluck mit etwas Kaffee runter. »Du hast gesagt, du könntest uns für ein paar Tage unterbringen?«

»Klar. Meine verrückte Großmutter hat ein Haus in Biarritz. Da wollen wir surfen und anschließend fahren wir in die Alpen. Dort wird guter Schnee erwartet, und wenn wir in den Chalets Arbeit finden, haben wir Unterkunft, Verpflegung und Skipässe gratis.«

Max schwieg. Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. Die Küste war keine zwei Stunden entfernt, wenn man die Autobahn nahm; auf der Landstraße dauerte es etwa doppelt so lange. In seinem Rucksack hatte er alles, was er für ein paar Tage in den Bergen brauchte, aber vorher wollte er sich noch vergewissern, dass Sayid bis zu seiner Rückkehr gut versorgt war.

Den Ärzten wäre es wahrscheinlich am liebsten, wenn Sayid und Max spätestens morgen in einem Flugzeug nach England säßen. Aber Max wollte nicht zurück. Noch nicht. Der Angriff auf ihn im Kajak war offensichtlich als Rache dafür gedacht gewesen, dass er Sophie am Abend zuvor aus der Patsche geholfen hatte. Wenn diese Gangster, die mit vom Aussterben bedrohten Tieren handelten, die Tiere über die Berge in spanische Häfen und von dort weiter nach Frankreich und ins übrige Europa brachten, dann war Max hier genau am Brennpunkt des Geschehens.

Auch wenn die Tierschmuggler offenbar annahmen, dass er und Sophie etwas miteinander zu tun hatten, schien ihm das wirkliche Geheimnis ganz woanders zu liegen. Verfolgt und angeschossen hatte Zabala sich noch unmittelbar vor seinem Tod enorme Mühe gegeben, sich den Rosenkranz und den Anhänger vom Hals zu reißen. Noch immer hörte Max die verzweifelte Stimme des Mannes, mit der er ihn, bevor er in den Tod stürzte, so eindringlich anflehte, eine Abtei aufzusuchen und dort irgendetwas mit einem Krokodil und einer Schlange herauszufinden. Warum? Es musste etwas so Wichtiges sein, dass der Mann seinen letzten Atemzug dafür hergab, es ihm zusammen mit einer letzten Warnung vor Luzifer ans Herz zu legen. Der gefallene Engel – gehörte der auch zu der rätselhaften Botschaft des Mönchs? Max wusste, was sein Vater in dieser Situation tun würde. Er würde den letzten Wunsch des Sterbenden erfüllen und sein Geheimnis zu ergründen versuchen. Käme die Polizei dazu, ginge der ganze Schwung bei den schwerfälligen Ermittlungen verloren; also war es besser, die aus dem Spiel zu lassen – vorläufig jedenfalls. Bleiben und mehr über den Mönch in Erfahrung bringen, oder nach Hause gehen und die ganze Sache vergessen? Ich habe gar keine Wahl, stimmt’s, Dad?

Bruchstücke von Hinweisen, Splitter von Informationen – wie ein zerbrochener Spiegel. Wie soll man das alles wieder zusammensetzen?, fragte er sich.

»Nehmt Sayid mit. Ich habe hier noch etwas zu erledigen. Es ist wichtig, Bobby. Aber du musst mir vertrauen, ich kann jetzt noch nicht darüber reden.«

»Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«, sagte Bobby grinsend. »Wie kann ich dir helfen?«

Max erklärte rasch seinen Plan. Kaum war er damit fertig, erblickte er in der Ferne die blau getönten Scheinwerfer eines Autos, das sich von der Straße her dem Krankenhaus näherte. Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren.

Es war ein schwarzer Audi.

 

Bobbys Kleinbus näherte sich schlingernd dem Eingang des Krankenhauses und plötzlich gab der Motor seinen Geist auf. Laute Musik dröhnte durch die Nacht, als die Snowboarder ausstiegen und den Wagen anzuschieben versuchten.

Sofort kamen zwei Diensthabende von der Nachtschicht nach draußen und verlangten, sie sollten die Musik abstellen. Die Patienten brauchten ihren Schlaf! Die beiden gestikulierten wütend, bis Bobby endlich begriff, dass die Musik ihnen entweder nicht gefiel oder einfach zu laut war. Also stellte er sie aus, murmelte eine Entschuldigung und sagte, er habe sich verfahren. Er sei aus Amerika und kenne sich hier nicht aus; die Stadt sei ja wirklich sehr schön, aber in diesen vielen Einbahnstraßen könne sich doch kein Mensch zurechtfinden! Das alles brachte er in ziemlich schlechtem Französisch hervor, obwohl er die Sprache in Wirklichkeit fließend beherrschte.

Schließlich beruhigte sich alles. Bobby schaffte es, gerade in dem Moment den Motor wieder anzulassen, als er Max an dem jetzt unbesetzten Empfang vorbei durch den Eingang huschen und im Aufzug verschwinden sah.

Die Korridore waren still und in Halbdunkel getaucht. Irgendwo hörte Max Stimmen flüstern. Ein Rollwagen klapperte, eine Tür fiel ächzend ins Schloss, ein Aufzug fuhr brummend in den Keller. Max schlich vorsichtig weiter. Um in der Abteilung hier oben nicht bemerkt zu werden, hielt er sich dicht an der Wand, wo die Schatten am tiefsten waren. Sein Vater hatte ihn gelehrt, wie man sich im Dschungel an Tiere anschleicht, um sie besser fotografieren zu können. Wenn man beim Gehen möglichst wenig Geräusche machen will, muss man auf den Kanten der Schuhe gehen, und genau das tat Max jetzt. Und er ging schnell.

Sechs Stockwerke tiefer lag der Parkplatz, und als Max durch die Korridorfenster nach unten spähte, sah er die glänzenden Lederjacken der beiden Männer, die jetzt gerade aus dem Audi stiegen. Max erkannte sie sofort: Es waren dieselben, die er auf der Bergstraße oberhalb der Stromschnellen gesehen hatte. Sie blickten sich auf dem fast leeren Parkplatz um. Einer nickte dem anderen zu, dann teilten sie sich auf. Der Größere der beiden begab sich zum Empfang, der andere verschwand zur Rückseite des Gebäudes.

Wer waren diese Kerle?

Ein Stuhl scharrte. Jemand bewegte sich. Max drückte sich an die Wand und spähte um die Ecke in ein Bereitschaftszimmer. Eine Nachtschwester hatte ihren Stuhl vom Schreibtisch zurückgeschoben. Wenn sie auf den Korridor kam, lief sie direkt in ihn hinein. Max konnte den Raum in den Spiegelungen der Korridorfenster sehen. Die Schwester schob eine Handvoll Patientenakten ordentlich zusammen, klemmte sie unter einen Arm und ging zur Tür. Egal was Max für eine Erklärung einfallen mochte, sie würde Verdacht schöpfen und die Sicherheitsleute rufen. Was für einen Grund sollte er haben, nachts hier durch die Flure zu schleichen?

Max griff in seine Tasche und fand zum Glück eine Münze. Er warf sie sachte in hohem Bogen über die Tür und sah sie auf der Kante landen und gegen einen Aktenschrank rollen. Die Schwester hörte etwas klimpern, ging dem Geräusch nach, erblickte die Münze und hob sie vom Boden auf. Bis dahin war Max längst an der offenen Tür vorbeigehuscht.

Er kam an ein paar Privatzimmern vorbei und wurde plötzlich unsicher. War das der richtige Flur? Er konnte sich an das Zimmer nicht erinnern, nachts sah alles anders aus. Aber dann hörte er ein Geräusch, das ihn sicher zum Ziel führte.

Gleich darauf öffnete er die Tür von Sayids Zimmer. Sein bester Freund lag im Bett und schnarchte mit offenem Mund, wie ein glückliches Schwein im Stroh. Max schüttelte ihn sanft. Sayid warf sich stöhnend auf die Seite und schnarchte noch lauter. Max schüttelte ihn etwas heftiger, aber er rührte sich nicht. Er hielt ihm mit einer Hand den Mund zu, vielleicht half das ja. Das Schnarchen verstummte und sein Freund begann sich zu winden. Max nahm die Hand weg, und als Sayid nun keuchend Luft holte, kippte er ihm das Glas Wasser von seinem Nachttisch ins Gesicht.

Sayid würgte. Max nahm sein Gesicht in beide Hände und flüsterte: »Sayid! Ruhig! Ich bin’s!«

Sayid machte zögernd die Augen auf, er hustete jetzt nicht mehr. Er sah Max verschlafen an und murmelte: »Max … hey, ich hatte … große Schmerzen …« Er lachte benommen. »Es hat funktioniert. Haha … es hat geholfen.«

Sayid schlief fast wieder ein. Max schüttelte ihn. Sein Freund machte die Augen wieder auf. »Max. Hi. Habe eben geträumt, du … hättest mir Wasser … ins Gesicht … hey, was machst du eigentlich hier … ?«

Er war total von der Rolle. Für lange Erklärungen blieb Max keine Zeit. Er schüttelte ihn noch einmal. »Sayid, hör zu. Wir müssen hier raus. Nicht wieder einschlafen!«, sagte er und tätschelte seine Wange.

Sayid riss sich zusammen. »Ja, ja. Schon gut, Max. Wohin soll’s denn gehen?«

»Erkläre ich dir später.« Max hob ihn aus dem Bett und setzte ihn in den Rollstuhl, klappte die Beinstütze hoch und legte eine Decke über ihn. Sayids Kopf sank müde auf seine Brust. Max zog ihn an den Haaren. Der Kopf ruckte wieder hoch.

»Ist ja gut! Ich bin wach!«, murmelte er.

Max machte den Schrank auf und warf Sayids Kleider und Schuhe aufs Bett. Er wickelte alles in die dünne Bettdecke und legte das Bündel auf Sayids Schoß. Wenn Sayid jetzt wieder einschlief, würde er aus dem Rollstuhl rutschten. Also riss er einen Streifen vom Laken ab, zog ihn unter Sayids Achseln durch und knotete ihn hinten fest zusammen.

Max hörte den Aufzug brummen. Da kam jemand.

Er nahm die beiden Krücken, schob eine unter den Lakenstreifen und hängte die andere mit dem Griff an Sayids Arm.

»Sayid, hör mir zu. Du musst wach bleiben und mit der Krücke die Türen aufstoßen, denn sonst knallt dein Fuß dagegen, und das wäre gar nicht gut. Fertig?«

Sayid nickte und leckte sich die trockenen Lippen. »Wasser«, krächzte er.

Max hielt ihm die Karaffe an den Mund und ließ ihn ein paar Schlucke nehmen. »Das reicht. Du bist schließlich kein Kamel, und wir können unterwegs nicht haltmachen, um aufs Klo zu gehen.«

Er sah kurz nach, ob draußen die Luft rein war. Dann schob er den Rollstuhl auf den Korridor, aber nicht zum Hauptlift, sondern in die andere Richtung, direkt auf die linke Hälfte einer breiten Schwingtür zu. Der Lift hielt und machte »Ping«.

»Los geht’s! Halt dich fest.«

Sayid packte die Krücke, die als Rammbock dienen sollte, und stieß die Tür auf. Dahinter gelangten sie in einen Versorgungsbereich, wo sie zwischen herumstehenden Rollstühlen und Rollwagen hindurchmanövrieren und schließlich nach links um die Ecke biegen mussten. Aber Max kam nicht um die Ecke herum. Jemand hatte mitten im Gang einen Reinigungswagen mit Putzmitteln und Wischmopps abgestellt, und daran kamen sie nicht vorbei. Max war dem Hinweisschild zum Lastenaufzug gefolgt, aber dieser Fluchtweg war ihnen versperrt.

Max blickte über die Schulter. Wer auch immer hier heraufgekommen war, musste inzwischen in der Nähe von Sayids Zimmer sein.

»Warte mal kurz, Sayid.«

Max lief zu der Doppeltür zurück, spähte durch den schmalen Spalt in der Mitte und sah einen Mann mit Stoppelbart auf sich zukommen. So wie der aussah, passte er ganz und gar nicht in die sterile Atmosphäre eines Krankenhauses. Max nahm an, dass er die Angestellten überredet hatte, ihn reinzulassen. Vielleicht hatte er ihnen erzählt, er sei ein Verwandter. Aber egal, welchen Trick er angewendet hatte, jetzt war er hier. Die Nachtschwester begleitete ihn, und Max hörte sie sagen: »Der Junge hat sich schon selbst entlassen … aber sein Freund ist noch hier.« Der Mann blieb im Flur, als die Schwester in Sayids Zimmer trat.

Der Mann wartete. Max hielt den Atem an. Er hörte das leise Knarren der Lederjacke, die sich um die Muskeln des Mannes spannte. Der Mann drehte sein finsteres Gesicht und blickte jetzt genau in Richtung Schwingtür. Max kauerte an einer Stelle, die noch dunkler war als der übrige Flur, aber er wusste, wenn er jetzt seiner instinktiven Angst vor Entdeckung nachgab, dann würde genau das passieren. Wenn du gejagt wirst, beweg dich nicht. Jede Bewegung kann dich verraten. Die Worte seines Vaters hallten in seinem Kopf. Max verdrängte seine Angst. Bleib ruhig, sagte er sich. Du musst das aushalten. Wenn du der Versuchung nachgibst, ändert sich die Verteilung von Licht und Schatten. Und jeder, der ein geübtes Jägerauge hatte, würde das sofort bemerken. Und Max wusste, der Mann da vor ihm im Korridor war mehr als ein Jäger. Der sah aus wie ein abgebrühter Killer.

Max bewegte sich nicht.

Der Mann kam jetzt direkt auf ihn zu. Max machte sich bereit. Er konnte nur hoffen, dass es ihm gelang, die Tür mit der Schulter so heftig zu rammen, dass es den Mann von den Beinen riss. Zwei zu null für die Realität. Jemand mit einem solchen Körpergewicht würde sich nicht so ohne Weiteres zu Fall bringen lassen, selbst wenn er überrumpelt wurde. Aber ihm blieb nichts anderes übrig. Der Mann war kein halbes Dutzend Schritte mehr entfernt. Max hielt die Luft an. Er wappnete sich für einen Stoß, der härter war als alles, was man beim Rugby auszuhalten hatte.

»Monsieur!«, flüsterte die Krankenschwester.

Der Mann blieb stehen und drehte sich zu ihr um.

»Er ist nicht da. Vielleicht im Bad? Da hinten. Ich geh mal nachsehen«, sagte sie leise.

Die Lichtkegel von oben ließen das Gesicht des Mannes noch dunkler erscheinen, aber seine Augen durchdrangen selbst die Schatten. Max hielt immer noch die Luft an, das Herz schlug ihm laut in der Brust. Es ging um Bruchteile von Sekunden – würde der Mann noch die letzten Schritte machen und die Tür aufstoßen? Aber dann drehte er sich unvermittelt um und folgte der Schwester.

Max stöhnte, so leise er konnte.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als Sayid mitsamt dem Rollstuhl die Treppe ins nächste Stockwerk hinunterzutragen, eine langwierige und anstrengende Angelegenheit, und als sie endlich unten ankamen, klebte ihm sein T-Shirt durchgeschwitzt am Rücken. Er betete, dass er das nicht bis zum Erdgeschoss durchhalten musste. Er bog um die Ecke, wich einem weiteren Reinigungswagen aus, und diesmal hatte er Glück: Die Tür des Lastenaufzugs stand bereits offen. Max bedankte sich im Stillen bei den Putzfrauen, die als Letzte auf dieser Etage ausgestiegen waren.

Er schob Sayid in den geräumigen Lift. Sein Finger schwebte über den Aufzugknöpfen. Wohin war der zweite Mann gegangen? Sehr wahrscheinlich zur Rückseite des Krankenhauses. Am sichersten wären Max und Sayid im Keller. Dort könnten sie sich bestimmt für eine Weile verstecken, bevor sie einen Weg nach draußen fanden. Max drückte auf den Knopf.

Die Aufzugtüren glitten zu und der Lift fuhr ächzend abwärts. Unten angekommen, standen Max und Sayid vor einem Labyrinth von Korridoren. Über ihnen an der Betondecke verliefen Lüftungsrohre und rote, grüne und blaue Elektrokabel. Sie mussten sich entscheiden.

»Was meinst du, Sayid? Eigentlich müsste es hier doch irgendwo eine Tiefgarage für die Krankenwagen geben … Links, rechts oder geradeaus?«

Wieder sank seinem Freund der Kopf auf die Brust.

»Das soll dann wohl ›Ja‹ bedeuten – ich versuch’s einfach mal«, sagte Max.

Er schob den Rollstuhl geradeaus, dem dunklen Ende eines Korridors entgegen, der eher wie ein Tunnel aussah. Immerhin hatte er Auspuffgase gerochen und meinte, der Geruch käme aus dieser Richtung.

Kaum hatte er diese Entscheidung getroffen, hörte er, wie ein paar Stockwerke weiter oben jemand den Riegel einer Brandschutztür bewegte. Er horchte. Nichts. Dann das kaum hörbare Anschlagen einer Gummisohle an die Kante einer Treppenstufe. Jemand schlich die Feuertreppe hinunter. Max war nur ein Dutzend Schritte von der ersten Treppenwendung entfernt. Jeder, der dort plötzlich herumbog, würde ihn und Sayid auf der Stelle bemerken.

Max legte Sayid eine Hand auf den Mund. Sein Freund riss die Augen auf.

»Wir müssen uns verstecken. Da kommt jemand«, flüsterte Max.

Jetzt war Sayid endlich wach. Angst pumpte Adrenalin in sein Blut. Er hielt die Krücke gerade nach vorne, als Max ihn auf die nächstbeste Tür zuschob. Vorsichtig glitten sie hindurch und gelangten in einen älter aussehenden Korridor. Der Boden war mit Linoleum ausgelegt, an der Decke flackerte knisternd eine Neonröhre. Und es roch hier auch anders. Nicht nach Desinfektionsmitteln. Was war das nur? Max kam nicht drauf. Langsam, damit sie der Luftzug nicht verraten konnte, ließ er die Tür hinter sich zuschwingen. Denn wer auch immer da die Treppe nach unten schlich, achtete bestimmt auf jede winzige Kleinigkeit.

Es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Vor ihnen stand eine doppelstöckige Rollbahre, auf der ordentlich gefaltet ein Laken und eine Gummidecke lagen. Auf der anderen Seite befand sich eine verriegelte Tür mit Oberlicht. Auf einem kleinen Schild daneben stand: Leichenhalle.

»Warte kurz«, flüsterte Max.

Er zog geräuschlos den Riegel auf. Eine Wand des Raums bestand aus Kühlfächern mit Edelstahltüren, groß genug, dass man einen Toten hineinschieben konnte. Auch hier stand eine Rollbahre. Offenbar brachte man damit verstorbene Patienten von den Stationen hierher, vielleicht auch, hoffte Max, aus der Tiefgarage am Ende dieses anderen Korridors, wo Krankenwagen mit Unfallopfern eintrafen.

Max kniete sich neben Sayid und flüsterte ihm ins Ohr: »Wir gehen da rein. Es ist ziemlich finster, und es gibt eine Bahre wie die hier, auf der wir uns verstecken können. Du legst dich unten rein, ich oben, ich zieh eine Decke über mich. Wahrscheinlich werden diese Leute nicht unbedingt in einer Leichenhalle herumschnüffeln wollen. Ich kann lang genug die Luft anhalten, um sie zu täuschen.«

Sayid schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage.«

»Das ist jetzt nicht der richtige Augenblick, zimperlich zu sein. Da kommt jemand die Treppe runter, und das ist garantiert keine Schwester, die dich ins Bett bringen will.«

»Nein. Ich kann da nicht rein, Max. Ich kann nicht«, flüsterte Sayid.

»Die tun dir doch nichts. Die sind alle tot«, versuchte Max ihn zu beruhigen. Sayid kniff die Augen zu und schüttelte hartnäckig den Kopf.

Für Diskussionen war jetzt keine Zeit. Jemand hatte auf der Etage über ihnen eine Schwingtür aufgestoßen. Offenbar durchsuchten diese Leute systematisch alle Flure.

»Also wirklich Sayid, manchmal kannst du einem das Leben ganz schön schwer machen.«

»Ich?«, zischte Sayid vorwurfsvoll.

Über ihnen fiel eine Tür zu. Sie blickten auf, versuchten sich vorzustellen, wie der Eindringling zur Treppe zurückging. Max packte Sayids Arm.

»Der Rollstuhl bleibt hier, du kletterst auf diese Bahre hier. Ich geh da rein«, sagte er und wies mit dem Kopf Richtung Leichenraum.

Sayid schob sich auf die untere Etage der Rollbahre, während Max das Laken so darüberlegte, dass es rundum bis zum Boden hinabreichte.

Er sah noch einmal zu Sayid hinein. »Bleib totenstill liegen, bis ich dich holen komme!«

»Wie kannst du jetzt solche Witze machen, Max?«

»Mach ich ja gar nicht. Falls er hier reinkommt – du darfst dich auf keinen Fall bewegen«, sagte Max.

Sayid umklammerte das Bündel auf seiner Brust und blieb stocksteif liegen. Max verzog sich in den Nebenraum.

Im Leichenraum lehnte er die Tür nur an, sodass sie nicht ins Schloss fiel, und kletterte dann wie Sayid unten auf die Bahre. Das Laken war kürzer als das andere. Er konnte damit weder sich selbst noch die ganze Bahre bedecken. Max zog Schuhe und Strümpfe aus und krempelte seine Cargohose bis zu den Knien hoch. Dann klemmte er sich unter jede Achsel einen Schuh und legte sich oben auf die Bahre. Er zog das Laken über seinen Kopf und streckte sich lang aus, fest entschlossen, sich nicht zu bewegen. Schon begann er an den nackten Füßen zu frieren. Er legte die Fersen dicht zusammen und ließ die Füße in natürlicher Haltung nach links und rechts wegsinken. Kaum hatte sich sein Atem beruhigt, hörte er die Schwingtür leise aufklappen.

Max betete, dass Sayid nicht die Nerven verlor.