17

Lärm und Gerüche. Stimmengebrabbel. Hände zupften an Max herum. Farben blendeten ihn. Rauch und Weihrauch brannten ihm in den Augen.

Marrakesch. Marokko.

Auf dem Souk, den Marktgassen der Altstadt, wimmelte es von Menschen. Tausende Stimmen schwollen an zu einer gigantischen Kakofonie. Händler wetteiferten um Aufmerksamkeit, Finger zupften Max am Ärmel, Männer sprangen mit einem Satz vor ihn hin und hielten ihm alle möglichen Waren unter die Nase: Seidenstoffe und Gewürze, Schmuck, Kleidung, kupfernes Kochgeschirr, Perlenketten und glimmende Weihrauchstäbchen.

»Anji! Anji! – Hier! Hier!«, riefen die Ladenbesitzer und ihre Laufburschen.

Stechende Gerüche hingen in der Luft. Wortwechsel eskalierten zu Streit; Männer schrien sich an. Motorroller, hoch beladene Esel und Menschen kämpften sich gleichermaßen durch die engen, verstopften Gassen.

Sophie war ihm zehn Schritt voraus, manchmal von der drängenden Menge verdeckt, doch sie schaute sich öfters nach ihm um und schob sich, zufrieden, dass er ihr immer noch folgte, weiter durch die Wand der Leiber.

Plötzlich sah Max sie nicht mehr. Fliegen und Schweiß reizten seine Augen und die Gerüche überwältigten ihn. Nur einen Augenblick lang war er unkonzentriert gewesen, und schon hatte das Meer der Gesichter sie verschlungen. Max hätte am liebsten Sophies Namen gerufen, doch der wäre im Lärm der Gassen untergegangen. Dann fasste ihn jemand an der Schulter. Sophie. Sie stand in einem dämmrigen Durchgang.

»Hier entlang«, sagte sie und drehte sich in das kühle Halbdunkel, wo ein mageres Kätzchen vor ihren Füßen herumsprang.

Kurz darauf schob sie mit der Schulter eine schwere Holztür auf und Max folgte ihr in eine Oase der Ruhe. Ein Innenhof, gedämpftes Licht in verschiedenen Blautönen, die sich in den Mosaikkacheln spiegelten. Ein Springbrunnen im Zentrum des gepflasterten Hofs versprühte Wasser.

Und es war still. So als habe jemand die Tür zu der draußen herrschenden Kakofonie geschlossen.

Sophie stellte ihren Rucksack ab. »Wir bleiben über Nacht hier«, sagte sie zu Max. Dann rief sie: »Abdullah! «

»Was ist das für ein Haus? Wohnst du hier?«, fragte Max. »Das ist ein Riad, ein traditionelles Haus«, erklärte Sophie. »Ich weiß, was ein Riad ist.«

»Entschuldige, ich wollte dich nicht belehren«, sagte Sophie kleinlaut.

Sie ging zum Eingang und rief noch einmal den Namen des Mannes. Max verspürte einen Stich in seiner Brust. Er hätte keinen so arroganten Ton anzuschlagen brauchen, aber er wollte ihr und sich selbst beweisen, dass er der Situation nicht vollends ausgeliefert war.

Max ließ den Blick über den schmiedeeisernen Balkon schweifen, der sich mit seinem Muster aus kunstvollen Spiralen über den ganzen ersten Stock zog. Auf der gegenüberliegenden Hofseite führte ein Durchgang in einen zweiten umschlossenen Hof, in dem ein Swimmingpool darauf wartete, dass jemand hineinsprang und die glatte Wasseroberfläche zerteilte.

Die Anlage war wie ein Zipfelchen vom Paradies.

»Das ist ein Privathotel. Acht Zimmer, zwei Suiten und sehr teuer«, teilte Sophie ihm mit.

»Und hier willst du eine Übernachtung bezahlen?«, fragte Max, zog seine Stiefel und Socken aus und ließ seine Füße auf dem Steinboden abkühlen. Das fühlte sich großartig an. Der feine Sprühnebel des Springbrunnens wehte über sein Gesicht wie eine kühlende Massage.

Bevor Sophie etwas antworten konnte, erschien ein Mann. Er war groß und kräftig und hatte einen Oberkörper wie ein Fass. Sein braunes Gesicht war über und über mit Stoppeln bedeckt, und sein Haar war millimeterkurz geschnitten. Das verlieh seinem Schädel etwas von einer rasierten Kokosnuss. Der Mann trug die traditionelle Kleidung der Berber, eine Djellaba, und Ledersandalen. Er breitete grinsend die Arme aus und umarmte Sophie.

»Sophie! Gut, gut! Es ist mir eine Ehre, dich wieder in meinem Haus zu begrüßen. Meine Angestellten haben deine Anweisungen erhalten und zwei Zimmer hergerichtet, wie du es gewünscht hast.«

Sophie hatte am Flughafen ein Handy gekauft und Max hatte sie damit telefonieren sehen. Hier hatte sie also angerufen, wurde ihm jetzt klar. Konnte sie auch noch jemand anderen angerufen haben? Er musste sich entscheiden: Sollte er ihr vertrauen oder nicht?

»Max, das ist Abdullah Boulkoumit. Das Haus hier gehört ihm. Abdullah, das ist Max Gordon, ein Freund von mir«, sagte Sophie und trat mit dem Mann vor Max hin.

Abdullahs Blick war von Sophie zu Max’ Gesicht gewandert und ruhte ununterbrochen auf ihm. Es war, als forsche er nach den Ereignissen im Leben des Jungen, die ihn in sein Haus im Herzen der alten Stadt geführt hatten. Für einen Augenblick war Max verlegen. Barfuß, seine Stiefel in der Hand, stand er mitten in diesem Luxushotel. Er war schmutzig, ungekämmt, fühlte sich zerknautscht nach der langen Reise und bemerkte außerdem gerade, dass eine seiner Socken in dem aus dem Springbrunnen überlaufenden Wasser quer über den Hof schwamm.

»Seien Sie in meinem Haus willkommen, Mister Gordon. Wie ich sehe, ist Ihnen unser Brauch, die Schuhe vor dem Betreten eines Hauses auszuziehen, bereits bekannt. Das ehrt mich«, sagte Abdullah sanft und half seinem Gast auf diese taktvolle Art über seine Verlegenheit hinweg.

Abdullah reichte Max die Hand und küsste anschließend, wie es der Brauch verlangte, seine eigenen Fingerspitzen.

Zwei Angestellte warteten im kühlen Innern des Hauses auf sie; einer nahm Max jetzt seinen Rucksack ab und ging ihm durch den Korridor voraus. Sophie folgte ihnen.

»Wir fahren morgen zu meinem Vater. Abdullah besorgt uns eine Transportmöglichkeit. Mach dich erst mal frisch, wir treffen uns dann in zwei Stunden«, sagte sie.

»Ich brauch bloß ein paar Minuten zum Duschen«, erwiderte Max, als sie vor einer eisenbeschlagenen Tür anhielten, die, als sie geöffnet wurde, den Blick auf ein luxuriöses Zimmer freigab. Daran könnte er sich gewöhnen, dachte Max.

»Ich brauche aber länger, und deshalb, Max Gordon, schalte einmal in deinem Leben einen Gang runter und hab Geduld.«

Sophie folgte dem anderen Angestellten und verschwand in einem Korridor.

Max trat in das Zimmer. Hinter dem riesigen Doppelbett stieg Dampf aus einer in den Boden eingelassenen Badewanne. Rosenblätter schwammen auf dem Wasser und ein leicht fauliger Geruch von Sandelholz wehte ihm jetzt entgegen.

»Ist das für mich?«, fragte Max.

Der Mann nickte.

»Wenn ich da reinsteige, rieche ich ja wie ein Hundesalon«, sagte Max, der nicht zugeben wollte, dass Sandelholz eigentlich ganz gut roch. Außerdem war die Badewanne so groß wie das Tauchbecken in einem Football-Club. Gar nicht mal so übel, wenn er es sich genau überlegte. Da drin konnte er sogar Tiefseetauchen üben.

»Bitte«, sagte der Angestellte und deponierte Max’ Rucksack auf dem Kofferständer.

Max ging ein Stück weiter in das Zimmer hinein. Es kam ihm vor wie in einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht. Hinter dem Bad befanden sich Jalousien, die ihn vor unliebsamen Blicken schützten, ihm jedoch einen herrlichen Blick über die Dächer der Altstadt erlaubten. Über dem Horizont der Stadt ragten schneebedeckte, von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne golden getönte Berggipfel in den Himmel. Das Atlasgebirge. Wie weit mochte es entfernt sein? Ein paar Autostunden? Irgendwo dahinter lebte Sophies Vater, und dorthin musste er Zabalas Hinweisen zufolge gehen, da war er sich sicher.

Die Hinweise aus dem Château – wie hing das alles zusammen, Sophies Vater und Zabala und die bedrohten Tierarten? Da musste es eine Verbindung geben. Über Marokko wusste Max so gut wie nichts. Aus seiner Kindheit erinnerte er sich an ein paar der berühmtesten Geschichten: Ali Baba und die vierzig Räuber, Aladin und die Wunderlampe, Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Doch im Unterschied dazu befand er sich jetzt ganz konkret in diesem Teil der Welt, den er mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören konnte, der Gerüche aufwies, so exotisch, dass man meinte, sie könnten einen mit sich fortreißen wie eine …

Hier gebot Max seinen Gedanken Einhalt, denn ihm war gerade das Wort Lawine eingefallen. Und bei dieser Vorstellung lief es ihm plötzlich eiskalt den Rücken hinunter. Der Hotelangestellte schlug das Bett auf. Er entnahm der Minibar eine Flasche gekühltes Wasser, schraubte sie auf, goss die Hälfte in ein Glas und stellte es auf einen Untersetzer aus perlengroßen, mit feinem Draht zusammengehaltenen Steinen, einer kunstvollen Arbeit hiesiger Handwerker. Dann zeigte er auf die Lampen, klatschte sacht in die Hände und lächelte, als das Licht anging.

Das war ja cool. Das gefiel Max.

Der Mann, erfreut, dass er seinen Gast amüsiert hatte, verbeugte sich und ging hinaus.

Max sah sich im Zimmer um. Das Bett war riesig: Darauf konnte man mit einem halben Dutzend seiner Kumpels eine Mitternachtsfete feiern. Es gab einen CD-Spieler mit einer Musikauswahl, eine Obstschale, ein Telefon, Computeranschlüsse und eine Minibar, gefüllt mit kohlen säurehaltigen Getränken und Fruchtsäften. Hier konnte er gut etwa eine Woche überleben, rechnete er sich aus.

Er griff zu dem Telefon auf dem Nachttisch, nahm den Hörer ab, bekam eine Leitung nach außen und wählte Sayids Handynummer, hörte aber kurz darauf nur die Standardansage der Mailbox. Er hinterließ eine kurze Nachricht, wobei er seinem Freund jedoch vorsichtshalber nicht mitteilte, wo er war. Konnte ja sein, dass Sayid von der Polizei geschnappt worden war. Max legte auf. Sayid müsste jetzt eigentlich schon zu Hause sein und an sein Telefon kommen. Aber Max war realistisch genug zu wissen, dass er weiter nichts ausrichten konnte. Sayid würde den Behörden nicht mehr als das Allernötigste sagen.

Nachdem Max nun alles getan hatte, was er tun musste, konnte er sich entspannen. Er kramte in seinem Rucksack und zog eine kleine Tube Superkleber heraus, unschlagbar, wenn etwas schnell repariert werden musste. Nach einer Viertelstunde konzentrierter Arbeit an seinen abgeschabten und ramponierten Turnschuhen – die ausklappbare Klinge des Korkenziehers aus der Minibar leistete ihm dabei gute Dienste – war er fertig und hatte sogar das kleine Wunder vollbracht, sich nicht die Finger zu verkleben.

Er ließ seine Klamotten fallen, wo er stand, und legte eine CD ein. Machte eine Dose auf, griff sich eine Mango und eine Tüte Chips und ging in das feuchte Bad. Rosenblätter hin oder her, er würde sich erst mal ausgiebig in die Wanne legen. Auf einmal war er sehr müde.

Alles, was er brauchte, in den Händen balancierend, stieg er über den breiten Rand der Badewanne und ließ sich in die samtige Wärme des tiefen Wassers gleiten. Er schälte die Mango und grub die Zähne in das gelbe Fruchtfleisch. Es schmeckte nach Sonne. Der Saft tropfte und spritzte – eine Riesensauerei, aber Max war ja am idealen Platz, um so etwas zu essen. Die Tüte mit den Chips gleich hinterher und mit Cola runtergespült. Nicht gut für die Zähne, aber das war ihm egal. Eine innere Stimme sagte ihm, er habe es verdient, sich mal eine Weile gehenzulassen.

Er klatschte in die Hände.

Das Licht ging aus.

Er klatschte noch einmal.

Die Musik wurde lauter.

Er klatschte zum dritten Mal. Nur so für sich.

Fedir Tischenko mochte noch so viel Geld besitzen, gegen den Nebel, der die Atlantikküste von Frankreich und Nordspanien einhüllte und den Luftverkehr zum Erliegen gebracht hatte, konnte auch er nichts ausrichten.

Der Hai wartete in einem Privatjet in Biarritz. Sein Ziel war ein stillgelegter Militärflugplatz südlich von Marrakesch, von dem aus er die Jagd nach Max koordinieren sollte. Doch die Maschine stand auf dem Rollfeld, von der Natur zum Ausharren verurteilt. Den Job mussten jetzt andere übernehmen. Andere Killer würden Max aufspüren.

Hunderte von Kilometern entfernt fuhren die Fahrzeuge des Hais zusammen mit Bobbys Kleinbus langsam durch Frankreich auf die schweizerische Grenze zu. Sayid und Bobby lagen immer noch als verschnürte Bündel darin. Sayids Tränen waren getrocknet, und Bobby nickte ihm tröstend zu. Sayid hatte nicht wegen der Angst geweint, die diese Killer ihm eingejagt hatten, obwohl die Nachricht vom Tod der Komtess ihn tief getroffen hatte. Nein, Sayid weinte, weil er ihnen verraten hatte, dass Max in Marokko war. Das üble Gefühl, seinen besten Freund ausgeliefert zu haben, wühlte in seinen Eingeweiden wie ein stumpfes Schwert.

Wie groß war die Gefahr, in die Max dadurch geraten war? Sayid wusste kaum etwas über Max’ Pläne, aber sein Freund hatte ihm genug mitgeteilt, dass seine Feinde jetzt eine klarere Vorstellung davon hatten, was Max herausgefunden hatte.

Max hatte von Zabala einen Anhänger aus Kristall bekommen und dann etwas in d’Abbadies Château entdeckt, wo die Deutschen und die Gang des Hais sie überfallen hatten. Aber mehr wusste Sayid nicht. Nur, dass Max nach Marokko gefahren war.

Der Hai hatte den Winkelschneider an Sayids Gips gehalten und langsam und bedächtig zu schneiden begonnen. Weißer Staub sprühte auf. Nur noch ein paar Millimeter und …

Sayid hatte den Hai angebrüllt. Hatte ihm alles gesagt, was er wusste. Und wie bereitwillig! Nur, damit dieser Horror aufhörte.

Als er jetzt in dem Bus lag, dachte er daran, wie oft er sich in seiner Fantasie als Helden gesehen hatte. Als Helden, der wie Max Menschen retten konnte und jede Situation bewältigte, wie beängstigend sie auch sein mochte.

Das Leben hatte ihn eines Besseren belehrt und ihm deutlich gezeigt, wie sehr Realität und Fantasie auseinanderklaffen konnten.

Bevor Max’ Vater Sayids Familie im Nahen Osten gerettet hatte, hatte Sayids Vater dafür gearbeitet, dieser Region Frieden zu bringen. Die Terroristen waren nachts gekommen und hatten ihn getötet. Sayid erinnerte sich, wie das Feuer der Waffen die Luft zerriss, roch noch das Schießpulver und hörte noch die Schreie seiner Mutter. Und seine eigenen. Nur Augenblicke später hatten Fackeln die Dunkelheit und den Rauch durchdrungen und britische Soldaten ihr Haus gestürmt. Gewehrfeuer blitzte auf und hallte wider. Noch mehr Männer starben – die Angreifer. Und dann hatten Soldaten Sayid und seine Mutter in einen Hubschrauber getragen. Ein Engländer, ein Mann, der Arabisch sprach, tröstete sie. Es war ein Freund von ihnen. Der Mann, den sein Vater Bruder genannt hatte. Sein Name war Tom Gordon, und er hatte ihnen versprochen, sich um sie zu kümmern, zu Ehren von Sayids Vater – einem tapferen, großen Mann.

So war Sayid schließlich mit Tom Gordons Sohn an der Dartmoor High gelandet. Und jetzt zeigten die Lawine, der Kampf im Château und seine Entführung bloß, wie viel Angst Sayid hatte. Er hatte nicht nur seinen besten Freund verraten, sondern auch das Vermächtnis seines Vaters.

Der Bus holperte über ein Schlagloch. Sayid blickte zu den vorn sitzenden Gangstern. Gelbe Autobahnlichter zogen über die Windschutzscheibe. Er sah zu Bobby hinüber, der seine Augen geschlossen hatte.

Was Sayid seinen Peinigern nicht gegeben hatte, war die Information auf dem Blatt Papier. Er sah die Zahlen im Geiste vor sich. Nach vorn greifend, kratzte er sich den getrockneten Schlamm von der Sohle seines Schuhs. Die Zahlen waren ein Teil des Geheimnisses, und sie waren wichtig.

Sayid sprach sich selbst Trost zu. Etwas konnte er immerhin noch tun, um Max zu helfen. Den Code lösen. Max die Information zukommen lassen. Aber wie? Er hatte keine Ahnung. Er wusste in seinem tiefsten Innern nur, dass sein Freund ihn finden würde.

 

Abdullah verstaute Max’ Pass in seinem privaten Safe und fragte ihn, ob er seinen Anhänger ebenfalls dort deponieren wolle. Max lehnte ab. Er bemerkte Abdullahs Blick: ein flüchtiger Moment, in dem ihm klar wurde, dass Abdullah wissen konnte, wie bedeutsam der Anhänger war.

»Ein Glücksbringer«, sagte der Besitzer des Riads. »Er soll dich beschützen, ja?«

»Ja, das kommt ungefähr hin.«

»Wenn er wertvoll ist, solltest du ihn in meinen Safe legen. Hast du vor, auf den Hauptmarkt zu gehen?«

»Ja. Auf den Djeemaa el Fna«, erwiderte Max.

»Der Platz der Gehenkten«, sagte Abdullah nüchtern. Wollte der Mann ihm Angst machen? Max wartete einen Augenblick und hielt Abdullahs Blick stand.

»Der soll ziemlich belebt sein, hab ich gehört«, sagte er. Abdullah nickte. »Ich muss beschämt gestehen, dass es in meiner Stadt auch Diebe gibt.«

Max dachte einen Moment nach und griff nach dem Anhänger; der Mann streckte schon die Hand danach aus. Aber Max nahm nur das Ende des Lederbands, drehte es, wie er es beim Binden seines Schulschlipses machte, und verkürzte es, bis die Schlaufe enger an seinem Hals anlag.

»Der ist nicht wertvoll, bloß ein Geschenk eines Freundes«, sagte er beiläufig. »So.« Er schob zwei Finger zwischen das Band und seinen Hals; es lag dicht an, ohne ihm die Kehle abzuschnüren. »Jetzt kann es niemand mehr abreißen.«

»Es sei denn, sie schneiden dir die Kehle durch«, bemerkte Abdullah, ohne zu lächeln.

 

Auf dem Djeemaa el Fna, dem weitläufigen Platz im Zentrum von Marrakesch, loderten Dutzende Kochfeuer. Bunte Laternen warfen ihr Licht in die tanzenden Schatten; die Bewegungen der dahinschlurfenden Menschenmassen wirkten abgehackt, wie in einem schwach beleuchteten Nachtclub. Männer in traditioneller Kleidung posierten mit angeketteten kleinen Meerkatzen für die Touristen, die mehr oder weniger nervös beobachteten, wie die Tiere schnatternd auf den Armen der Männer saßen.

Max krampfte sich das Herz zusammen. Die kleinen Äffchen schlugen Purzelbäume, saßen dann wieder geduckt da und starrten zu den höheren Primaten, die ein paar Münzen in den umgedrehten Hut warfen. Ein Ruck an der Kette, ein kehliges Kommando und die Affen wiederholten ihre Vorführung. »Für die Affen! Für die Affen!«, rief der Dresseur und drängte die Umstehenden, noch mehr Münzen in den Hut zu werfen.

Max und Sophie schoben sich weiter auf den Platz vor und bahnten sich mühsam einen Weg durch das Gedränge. Münzen gingen von Hand zu Hand. Fettige Finger griffen nach zerknitterten Scheinen, für die Einheimische und Touristen heißen Lammkebab und gebratenes Gemüse kauften. Auf diesem Platz strömten die Einheimischen zum Essen aus den umliegenden schmalen Gassen zusammen. Wie eine Decke aus Watte lag der Rauch über dem Markt. Er brannte Max in den Augen, aber das hinderte ihn nicht, fasziniert zu beobachten, was um ihn herum geschah.

Gruppen von vier oder fünf Männern, die Flöte, Trillerpfeife und Zimbel spielten oder mit gebogenen Stöcken auf Trommeln schlugen, wanden sich durch das Gedränge. Ganga-Trommeln und Haejuj-Basslauten kämpften um die Vorherrschaft. Frauen mit feinen Henna-Tätowierungen im Gesicht und auf den Armen saßen auf der Erde. Ein alter Mann, seinem kleinen Schild nach ein Arzt, saß im Schneidersitz inmitten von Flaschen voller Kräuter und untersuchte die geschwollene Hand einer Frau.

Max und Sophie machten vor einem halben Dutzend Garküchen Station und ließen es sich schmecken. Max aß zu gern aus der Hand – da brauchte man sich wenigstens nicht um Tischsitten zu kümmern. Es war fast so gut wie beim Camping, nur, dass das ganze Essen hier extra für einen gekocht wurde.

Am Rand des Marktplatzes gab es Cafés, die Pfefferminztee und Obstsaft anboten.

»Hierher kommen alle zum Essen. Jeden Abend. Das geht bis spät in die Nacht«, sagte Sophie.

»Wie ein Straßenfest«, rief Max zurück. Man musste immer schreien, um den Lärmpegel zu übertönen.

»Du siehst übrigens gut aus«, rief Sophie. »Steht dir.«

Max zupfte an der baumwollenen Djellaba, die er anhatte. Für einen Augenblick war er fast in Panik gewesen, als er bemerkte, dass die Angestellten im Riad seine Sachen zum Waschen abgeholt und ihm dafür traditionelle Kleidung hingelegt hatten. Zum Glück hatten sie ihm seine Turnschuhe gelassen, und die lugten jetzt unter dem langen, fließenden Gewand hervor. Im ersten Moment war es ihm zwar ein bisschen so vorgekommen, als ob er ein Kleid anzöge, doch gleich nachdem er sich die Djellaba ganz über den Kopf gezogen hatte, erkannte er, wie praktisch dieses locker sitzende Gewand war. Es war angenehm kühl auf der Haut und man konnte sich herrlich frei darin bewegen.

Max bahnte sich den Weg durch einen Pulk von Menschen und zog Sophie hinter sich her. Sie hielt seine Hand umklammert, als würde sie, wenn sie den Kontakt zu ihm verlöre, von diesem Menschenmeer fortgetragen. Sie beobachtete, wie Max eine Schneise durch die Menschen schlug. Max war hier fremd. Ihm drohten Gefahren, weil nichts hier ihm vertraut war. Und er war auf der Flucht vor Killern, die zu allem entschlossen waren. Sein Griff, das spürte sie, war stark. Er vermittelte Zuversicht und Schutz. Doch wie wenig dieser Junge von den hier lauernden Gefahren wusste, wo ein Menschenleben manchmal schon für den Preis einer Mahlzeit verkauft wurde.

Max wunderte sich, wie jemand in diesem Gedränge überhaupt vorankam. Standbesitzer hatten ihre Waren aufgebaut. Berge von Orangen, zu Pyramiden aufgeschichtet, wurden zerteilt und gepresst. Tanzgruppen gesellten sich zu den Musikern, und Wahrsager wischten mit einer Handbewegung das Elend der Menschen beiseite.

Max blieb neben einem Schlangenbeschwörer stehen, der auf einem zerschlissenen Teppich saß und eine Kobra tanzen ließ. Zum lockenden Flötenspiel des alten Mannes sanft hin- und herschaukelnd, schraubte sich das Tier in die Höhe.

Die Brillenzeichnung der Schlange blitzte, in den schwarzen Augen des Tiers spiegelten sich Lichtpunkte. Die Kobra richtete sich schwankend auf. Sie schien Max direkt ins Herz zu sehen. Bannte ihn mit vorgetäuschter Gelassenheit. Bewegte sich gemächlich, hypnotisierend. Verführte ihr Opfer, seine Vorsicht aufzugeben.

Dann schlug die Kobra zu. Sie entblößte ihre Giftzähne, zischte – wie vor Hass.

Mit der gesammelten Kraft des hoch aufgerichteten Körpers schoss das Tier an dem Alten vorbei direkt auf Max und Sophie zu. Max zuckte zurück, hielt schützend den Arm vor Sophie, doch der runzlige Alte, der aussah, als sei er bereits halb blind, fuhr einfach mit der Hand hinter den Kopf des Tiers, drehte sein Handgelenk und ließ die Schlange sich um seinen Unterarm winden. Dann hob er sich die vorschnellende Zunge der Kobra an die Lippen und küsste die Schlange.

Beifälliges Gemurmel ertönte aus der Menge, es wurde laut applaudiert, Münzen fielen klimpernd in den umgedrehten Hut.

Max rang sich ein verlegenes Lächeln ab. Vielleicht war er übereilt zurückgewichen. Aber konnte man zu schnell sein, wenn eine Kobra im Begriff war zuzuschlagen? Sophie berührte ihn an der Schulter. Sie wusste nur zu gut, wie schnell Max reagiert hatte – eine tapfere, instinktive Regung. Ein Kobra- Angriff, das war ein alter Schlangenbeschwörer-Trick. Aber das konnte Max nicht wissen.

Die wenigen Sekunden des Reagierens hatten Max’ Sinne geschärft. Da war noch eine andere Gefahr. Er spürte es ganz deutlich. Seine Instinkte schlugen Alarm und forderten seine Aufmerksamkeit. Aber wo war die Bedrohung? Von wo kam sie? Max suchte die ihn direkt Umstehenden mit den Augen ab. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ein Mann erwiderte seinen forschenden Blick und wandte sich rasch ab. Da waren zwei Männergesichter, die Max schon früher gesehen hatte. Er hatte aufs Geratewohl an irgendwelchen Ständen haltgemacht und sich etwas zu essen geben lassen, also war es unwahrscheinlich, dass er denselben Gesichtern zweimal begegnete.

Max zeigte über die Köpfe der Menge hinweg. »Geh an den Rand, Sophie!«, rief er.

Sophie nickte. Sosehr ihn die brodelnde Menge auf dem Marktplatz auch faszinierte, hier, das wurde ihm klar, bot er ein viel leichteres Ziel als in der freien Natur. In freiem Gelände sah man den Feind schon von Weitem, während er hier womöglich nur einen Atemhauch entfernt und doch nicht auszumachen war. Aber warum sollte er so denken? Warum sollte Sophie ihn hierherbringen, wenn sie es seit ihrer Abfahrt aus Biarritz jederzeit hätte einrichten können, dass Max angegriffen wurde?

Paranoia. Furcht. Befrei dich davon, redete Max sich zu – diese Gefühle rührten von diesen Menschenmengen her. Hier ging es schließlich zu wie im Wembley Stadion, nur, dass es doppelt so laut war.

Die erdrückende Menge schien jetzt undurchdringlich. Max zog Sophie näher zu sich heran. Er wollte sie direkt neben sich haben, höchstens einen Schritt entfernt. Wie ein Schaudern lief eine Welle der Energie durch die aneinandergepressten Leiber; Hände reckten sich, krallten sich in ihn. Max spürte, wie jemand ihm das Handgelenk umdrehte. Sophie war nur eine Armeslänge von ihm entfernt. Zwei Männer standen zwischen ihnen, verdeckten Sophies Gesicht mit ihren Hinterköpfen. Noch hielt Sophies Griff, aber Max spürte schon, wie ihre Hand ins Rutschen geriet. Vor seinem geistigen Auge blitzte auf, wie Zabala ihm aus der Hand glitt. Sophies Mund formte seinen Namen. Rief ihn. Einer der Männer drehte sich um. Dasselbe Gesicht wie vorhin. Stumpfsinnige Augen, ungerührt, vermutlich unter Drogen. Urplötzlich grapschte der Mann nach Max’ Anhänger. Max wehrte den Arm ab, aber dabei musste er Sophie loslassen.

Andere Hände versuchten sich jetzt in sein Gesicht zu krallen. Begleitet von Geschrei und Geschnatter scharrten flinke Finger über Max’ Kopf. Jemand hatte ihm einen angeketteten Affen auf die Schulter gesetzt und dessen kleine Nägel kratzten über sein Gesicht und sein Haar. Und dann spürte Max einen Ruck – jemand zog an dem Lederband um seinen Hals.

Max riss den Arm hoch, bekam den Affen an seinem weichen Fell zu fassen, stieß jedoch unwillkürlich einen gellenden Schrei aus, als dieser ihn in den Oberarm biss. Er schleuderte das Tier von sich fort und griff energisch nach seiner Kette. Er wollte den Mann, der an ihrem Ende stand, doch im selben Moment trat ihm jemand die Beine weg und Max ging hart zu Boden. Sandalen und schmutzige Füße, Abfall und Essensreste wirbelten um sein Gesicht. Max rollte umher, versuchte sich taumelnd wieder aufzurichten. Es war fast wie eine neuerliche Lawine.

»Sophie!«, schrie er und stieß mit den Ellbogen alle von sich fort, die ihn niederhalten wollten.

Jemand ächzte. Ein Mann schrie vor Schmerz auf, als Max’ Schlag ihn am Wangenknochen traf. Max wurde von einer Seite zur anderen gezerrt und konnte sich nicht richtig verteidigen. Ein halbes Dutzend kleinerer Jungen, zehn oder elf Jahre alt, die aussahen wie Straßendiebe, fielen jetzt über ihn her, doch auch sie hatten mit dem wogenden Gedränge zu kämpfen.

Erdrückende Angst überkam ihn – war der Hai hier? Er schaute sich verzweifelt um, doch von dem jungen Mann mit der markanten Mundpartie war nichts zu sehen.

Leute schwankten und stürzten. Max sah, wie Sophie einen Mann, der doppelt so schwer war wie sie, zu Boden warf. Es war ein regelrechter Nahkampf. Sophies Blick flog über die wirbelnde Menge, suchte ihn. Doch ehe sie etwas sagen konnte, legte sich von hinten ein Arm um ihren Hals. Sie zappelte und verschwand aus seinem Blickfeld, während er einen wütenden Schrei ausstieß. Max hatte nicht bemerkt, dass plötzlich eine andere Art von Unruhe Besitz von der Menge ergriff. Ein Wogen ging durch sie hindurch wie eine Schockwelle. Stimmen erhoben sich protestierend und verstummten wieder. Max duckte sich unter das Meer aus Beinen und kroch in Sophies Richtung. Die Jungen grapschten immer noch nach ihm, doch er wühlte sich weiter wie durchs Getümmel eines Rugbyspiels.

Fünf Meter weiter gelang es ihm endlich, sich an die Oberfläche zu stemmen. Menschen stießen einer an den anderen, als ein Hüne von Mann die Menge wie ein großes Schlachtschiff teilte: Abdullah. In seinem Gefolge wie zwei Zerstörer: die beiden Männer aus seinem Riad. Sie näherten sich geräuschlos, riefen keine Drohungen, sondern schritten wortlos durch die wogende Menge. Beide Männer trugen Laternen, wodurch es so aussah, als habe Abdullah zwei mächtige Flügel aus Licht am Rücken.

Ein Engel der Nacht.

»Abdullah!«, rief Sophie, und der massige Körper steuerte direkt auf sie zu.

Max war nur wenige Meter von ihr entfernt, doch Abdullah hatte schon mit einem stabil aussehenden Stock ausgeholt, und einer der Angreifer ging zu Boden. Abdullah und seine Lichtträger trampelten über ihn hinweg. Das gab vermutlich einige gebrochene Rippen, dachte Max. Die Jungen zerstreuten sich, als der zweite Angreifer törichterweise versuchte, die Hand gegen die unaufhaltsame Kraft dieses Hünen zu erheben. Ein Lichtträger neigte die Laterne über Abdullahs Schulter, der Mann schob unwillkürlich die Hände schützend vor die Augen, und schon krachte Abdullahs Faust wie ein Hammerschlag an seinen Kopf. Auch er sank zu Boden.

Max war fast im selben Augenblick bei Sophie angelangt wie Abdullah. Der große, kräftige Mann lächelte nicht, sondern gab nur einen kurzen Befehl.

»Wir müssen gehen!«, sagte er.

Er machte kehrt, Sophie und Max eilten ihm nach, und die Menge teilte sich wie das Rote Meer vor Moses. Fürs Erste waren sie gerettet.

Aber Max wusste jetzt, dass die Killer ihn gefunden hatten.