9

Bei Tageslicht sah das Château auch nicht anheimelnder aus. Zwei riesige Balkone klebten bedenklich schief an dem alten Gebäude. Ein Glockenturm ragte über die mit Zinnen bewehrte Dachterrasse. Das Dach selbst war halb eingefallen, die meisten der großen Fenster mit Brettern vernagelt.

Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hatten vierhundert Männer zwölf Jahre lang an diesem Traum eines Aristokraten gebaut. Und dann hatten schlechte Zeiten, Schulden, Unglück und Vernachlässigung das Anwesen nach und nach verfallen lassen.

Max hatte schlecht geschlafen: Die Matratze war klumpig, das Zimmer zugig und die uralten Wasserleitungen rumpelten und klopften die ganze Nacht. Als er jetzt durch die Flure ging, den gedämpften Stimmen und dem Duft von Kaffee und Speck entgegen, fiel ihm auf, dass in dem Haus fast gar keine Möbel standen. Und das Wohnzimmer, das er dann betrat, machte eher den Eindruck eines Durchgangslagers. Bobby Morrell, seine zwei Surferkumpel, Peaches, Sayid und Sophie lümmelten sich, Teller mit Essen auf dem Schoß, in großen Polstermöbeln, die aussahen, als stammten sie aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Ein riesiger Esstisch, die einst glänzend polierte Oberfläche zerkratzt und angesengt von unzähligen heißen Teekannen, die im Lauf der Jahre dort abgestellt worden waren, hielt sich nur noch wacklig auf den Beinen. Es gab frisches Brot, Honig, Gelee und Marmelade, Speck, Eier, Kaffee, Obst – so ziemlich alles, worauf man Appetit haben konnte.

Peaches’ Lachen erhellte den Raum wie Sonnenschein und Bobby lachte so heftig mit, dass er fast erstickte.

»Hey, Max«, rief er. »Gut geschlafen? Bedien dich. Sieh mal, wen wir hier haben!«

»Hi, Max«, sagte Peaches und winkte ihm munter zu. Sie saß mit hochgezogenen Knien auf einem alten Sofa neben Bobby und Sophie.

Max nickte ihr lächelnd zu. Die anderen interessierten sich nicht weiter für ihn. Bobby und seine Freunde hatten nur Augen und Ohren für Sophie und Peaches, die sich kichernd unterhielten.

Dann humpelte Sayid, ein zermanschtes Spiegelei-Sandwich in der Hand, grinsend auf ihn zu und umarmte ihn.

»Du hättest dich ruhig melden können, als du letzte Nacht gekommen bist«, sagte er und passte auf, dass er Max nicht mit dem Eigelb bekleckerte, das ihm durch die Finger troff.

»Ich wollte ja, aber du hast geschnarcht wie ein ganzes Sägewerk. Wie sieht’s denn aus?«

Sayid hinkte zum Tisch. »Ist das nicht toll? Jede Menge Fressalien, Max, und dann das Meer«, er zeigte über den großen Balkon hinaus, dessen Türen geschlossen waren, »gleich vor der Haustür. Aber versuch bloß nicht, auf den Balkon zu gehen, der ist hinüber. Der bricht schon ab, wenn du ein Brötchen darauffallen lässt. Das ganze Haus geht aus dem Leim«, sagte er leise und fuhr dann munterer fort: »Zum Meer sind es nur zweihundert Meter den Weg da hinunter. Tolle Wellen zum Surfen. Peaches ist gestern hier angekommen, und sie, Bobby und seine Freunde waren den ganzen Tag auf dem Wasser. Mich haben sie im Rollstuhl an den Strand gebracht. Hab solange unter einem großen Sonnenschirm gesessen. Die Komtess sorgt dafür, dass immer genug zu essen da ist. Ich lese den ganzen Tag Comics. Bobby hat eine Riesensammlung davon in seinem Zimmer. Er kommt schon seit seiner Kindheit regelmäßig hierher. Unglaublich, dass seine Oma eine französische Gräfin ist. Die ist übrigens ziemlich in Ordnung. Bisschen komisch. Aber du weißt ja, diese Adligen sind halt anders als wir, stimmt’s? Und du musst unbedingt diese Croissants probieren und die Marmelade. Alles selbst gemacht, fast so gut wie die Ataifs von meiner Mutter«, sagte Sayid. Er meinte diese köstlichen kleinen Pfannkuchen, die mit Nüssen oder Käse gefüllt und mit Sirup übergossen werden.

»Danke für die kurze Einführung, Sayid. Hauptsache, du musst keinen Hunger leiden. Schön zu wissen, dass du dir meinetwegen mir keine Sorgen gemacht hast.«

»Max, wenn ich mein halbes Leben damit verbringen würde, mir wegen dir Sorgen zu machen, wäre ich längst mit den Nerven am Ende. Sophie hat gesagt, sie hat dich auf einem Berg getroffen.«

»Ach ja? Ich weiß gar nicht viel über sie«, sagte Max und nahm sich etwas von dem frischen Obst.

»Sie hat uns von Paris erzählt, von einem Zirkus und von ihrem Dad. Dann haben die Mädchen sich nur noch miteinander unterhalten. Das Übliche. Wie die sich einbilden können, irgendwer könnte sich wirklich für diese Sachen interessieren, ist mir ein Rätsel. Ich meine, sieh dir die beiden mal an.«

Sie sahen zu Sophie und Peaches hinüber.

»Jungen und Shopping. Total langweilig. Also, auf welchem Berg warst du denn nun?«, fragte Sayid und nahm sich noch etwas zu essen.

»Was macht dein Fuß?«, fragte Max zurück und sah sich vorsichtig um, ob irgendjemand ihr Gespräch belauschen konnte.

»Besser. Was für ein Berg? Erzähl schon.«

»Wo der alte Mönch gelebt hat«, sagte Max leise. »Seine Hütte war völlig verwüstet. Wahrscheinlich hat es dort einen schlimmen Kampf gegeben, das kann nur vor der Lawine gewesen sein. Die müssen was gesucht haben, du weißt schon, was.«

Sayid machte ein verständnisloses Gesicht.

Max starrte ihn an.

»Ach so. Ja. Natürlich. Das … ja. Dieses Ding«, sagte Sayid, dem jetzt der Anhänger einfiel. »Verdammt, Max. Die Sache wird immer gefährlicher, oder?«

»Allerdings. Vielleicht solltest du besser nach England zurückfahren.«

Sehr überzeugend klang das nicht. Max lag daran, dass Sayid noch eine Weile bei ihm blieb. Sein Freund verstand es meisterhaft, komplizierte Probleme zu lösen, und wenn Max noch mehr Hinweise fand, wäre ihm Sayids Hilfe sehr willkommen.

Sayid zögerte. Auch er wollte tiefer in diese geheimnisvolle Geschichte eindringen, empfand aber schon ein nervöses Kribbeln in seinem gut gefüllten Magen. Wer wusste schon, auf was sie sich da einließen.

»Können wir das später besprechen?«, fragte er, um erst einmal Zeit zu gewinnen.

»Okay«, sagte Max, schon zufrieden damit, dass Sayid bereit war, noch eine Weile zu bleiben. »Am Ende des Gangs ist ein Bibliothekszimmer. Vielleicht kannst du bei Gelegenheit mal nachsehen, ob es dort Bücher über alte Abteien hier in der Gegend gibt. Ich möchte nicht, dass mich dort jemand sieht und unangenehme Fragen stellt.«

Sayid nickte lächelnd. In Büchern stöbern war nicht gefährlich. Das war zu schaffen.

Max wies mit dem Kopf in Sophies Richtung. »Was hältst du von ihr?«, fragte er, bevor er ein Glas frischen Orangensaft austrank.

»Sophie? Keine Ahnung. Was hatte sie da oben überhaupt zu suchen?«

»Weiß ich nicht. Warten wir’s ab.«

Max zweifelte immer noch, ob er Sophie trauen konnte. Hoffentlich irrte er sich und sie hatte nicht so viel mit Zabalas Tod zu tun, wie er befürchtete. Aber er hatte nun mal etwas gegen auffällig viele Zufälle.

Geirrt hatte er sich jedenfalls, was die Hexe betraf, die ihm gestern Nacht die Kehle durchschneiden wollte. Komtess Isadora Villeneuve war eine zierliche kleine Frau. Nur das Mondlicht hatte sie so hässlich erscheinen lassen. Ihre fein geschnittenen Züge, die markanten Wangenknochen und die smaragdgrünen Augen ließen erkennen, dass sie in jüngeren Jahren eine sehr schöne Frau gewesen sein musste. Jetzt sah die runzlige, von der Sonne gegerbte Haut aus wie altes Leder, derb wie der Riemen, mit dem sie ihr Haar im Nacken zusammengebunden hatte. Auch heute trug sie einen Kaftan, aber dieser war mit schillernd bunten Fäden durchwirkt. Sie hatte Arthritis, wie man an den geschwollenen Gelenken ihrer knochigen Finger sehen konnte, und sie rauchte. Auch nicht grade gut für ihre Haut, dachte Max, als sie ins Zimmer kam. Sie ließ sich von Bobby, ihrem Enkel, einen Teller geben und fragte, ob Sophie genug gegessen habe, dann wandte sie sich Max zu.

Max wurde sehr verlegen.

»Ich muss mich für gestern Abend bei dir entschuldigen, junger Mann«, sagte sie und trat zu ihm. »Ich besitze nichts mehr, was ich meinen Gläubigern noch geben könnte. Die haben mein Haus geplündert und mir mein Land weggenommen. Ich habe dich für einen von diesen Leuten gehalten, die manchmal hier herumschleichen und einer alten Dame Angst zu machen versuchen.«

»Ich bin es, der sich zu entschuldigen hat«, bekam Max schließlich heraus, sehr um höfliches Benehmen bemüht. »Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen.«

Sie lächelte. Ein Rest ihrer ehemaligen Schönheit schimmerte auf. »Ich denke, Angst hatte gestern jemand anderes. N’est-ce pas?«

Sie sagte das, wenngleich spöttisch, in einem so freundlichen Ton, dass Max ihr Lächeln nur erwidern konnte. »Ich hatte furchtbare Angst«, gab er zu.

Sie hielt den Kopf schief und sah nach dem Abdruck des Küchenmessers, das sie ihm an die Kehle gesetzt hatte. »Habe ich dir wehgetan?«

»Nein. Nur ein bisschen. Wie ein Wespenstich. Ist schon wieder gut. Wirklich.«

Sie betrachtete ihn kurz. »Nach dem, was mein Enkel mir erzählt hat, bist du nicht so leicht zu erschrecken. Das gefällt mir an einem Jungen. Robert«, sagte sie und sah zu Bobby hinüber, der mit den Beinen über der Sofalehne hing wie eine alte Stoffpuppe, »ist mutig, wenn es um das Meer und die Berge geht, während du eine ganz andere Art von Mut hast, denke ich.« Ihr Lächeln verschwand. Max war das alles peinlich. »Und du hast eine dunkle Seite. Habe ich Recht? Verstehst du, ich kann das sehen. In deinen Augen. Es ist immer in den Augen. Robert ist anders. Aber du …«

Ihr Lächeln kehrte zurück. »Greif ruhig zu. Wenn es darum geht, meinen Enkel und seine Freunde durchzufüttern, ist immer genug Geld im Haus.« Sie lachte. »Du glaubst doch nicht, dass ich wirklich arm bin?«

Sie entschwebte – so jedenfalls kam es Max vor, als er sie über die Holzdielen und Läufer davongleiten sah.

Bobby, unrasiert und anscheinend noch gar nicht richtig wach, reckte sich über den Tisch und nahm noch ein Brötchen. »Heute Morgen ist die Alte ganz gut beieinander. Manchmal hat sie, na ja, Erscheinungen. Dann sieht sie Gespenster und so was.«

»Geister?«, fragte Sayid leise.

»Ja. Nachts wandert sie durchs Haus und sieht nach, ob sie alle ruhig sind. Angeblich sind das ihre toten Freunde. Und Opa.«

»Du meinst, sie ist verrückt?«, fragte Max.

»Ich meine, sie trinkt die falschen Sachen«, sagte Bobby und biss in sein Brötchen. »Was soll’s – jetzt gehen wir surfen.«

 

Die Welle stieg auf. Der ablandige Wind blies feine Gischt von ihrem Kamm, als Max das Segel des Surfbretts in den Wind drehte und knatternd über die weißen Schaumkronen glitt. Einer von Bobbys Surfkumpels hatte ihm einen Neoprenanzug geliehen, knallblau, mit einer geschwungenen gelben Linie auf dem Rücken. Das Ding sah gut aus, passte aber nicht richtig. Max spannte die Schultern an und fing den Aufprall einer harten Woge mit den Knien ab, hatte aber den böigen Wind falsch eingeschätzt und klatschte in den kalten Atlantik.

»Das hat er in North Devon gelernt«, erklärte Sayid Bobby. Die beiden sahen vom Strand aus zu.

»Unter Wasser schwimmen? Eigentlich sollte man oben bleiben«, sagte Bobby lachend, während Max mit dem Surfbrett an Land kam.

»So ein Mist«, keuchte Max und ließ sich auf den Grasstreifen am Strand fallen.

»Die Stelle ist zum Windsurfen nicht besonders geeignet. Ich werd’s mal ohne Segel versuchen. Bis später, Leute«, sagte Bobby und stürzte sich mit seinem Surfbrett unterm Arm in die Fluten. Peaches und die anderen sausten bereits über die Wellen.

»Wir können hier nicht den ganzen Tag abhängen«, sagte Max. »Ich wollte bloß nicht einfach wieder verschwinden. Bobby hat nichts dagegen, dass wir hier sind, aber ich muss diese Abtei finden, Sayid, und zwar möglichst, bevor Sophie wieder auftaucht.«

Sophie war am Morgen nach Biarritz gefahren, um den Mietwagen zurückzubringen. Sie hatte sich ziemlich ausweichend verhalten, aber gesagt, sie werde zum Château zurückkommen, wenn er das wolle.

Sie und Max trauten einander immer noch nicht wirklich über den Weg – beide ahnten, dass der andere mehr mit Zabala zu tun hatte, als er bisher zugegeben hatte. Sie waren durch gegenseitiges Misstrauen miteinander verbunden.

»Ich habe mir alle alten Reiseführer im Château angesehen, und die einzige Abtei, die ich gefunden habe, liegt ein paar Hundert Kilometer nördlich von hier«, sagte Sayid.

Max trocknete sich ab. Der Wind ließ nach; bald würde das Wetter sich verschlechtern und dann würden Bobby und seine Freunde zum Snowboarden in die Schweiz weiterfahren. Er musste Bobbys Kenntnisse nutzen, solange es noch ging. Das Dumme war nur, dass Bobby Morrells Ortskenntnisse sich mehr oder weniger auf Surfbedingungen und Mädchen beschränkten, was zu jeder anderen Zeit von Vorteil gewesen wäre, aber nicht jetzt. Max sah über die Dünen zum Château.

Die Komtess stand am Fenster. Als Max in ihre Richtung blickte, wandte sie sich ab. Es war kein Atlantikwasser, was Max jetzt kalt über den Rücken lief.

Zeit, ein weiteres Risiko einzugehen.

 

Der schwarze Audi glitt durch die frühmorgendlichen Straßen wie eine Raubkatze auf der Suche nach Beute. Biarritz war noch wie ausgestorben. Die Bürgersteige waren mit Autos vollgestellt – das Parken war wie in allen Städten ein Albtraum. In zwei Stunden würden die schmalen Straßen im Verkehr ersticken, und dann würden Corentin und Thierry niemals die kleine Seitenstraße finden, nach der sie suchten.

Sie hatten das Mädchen verloren und der Junge war ihnen in Pau entwischt. Dann aber hatte das Mädchen ein Auto gemietet, und mit etwas Glück würde es es heute zurückgeben. Die beiden Killer waren von Norden in die Stadt gekommen und dann die Avenue de l’Impératrice hinunter zum Hôtel de Palais gelangt, wo reiche Leute sich vom Fünf-Sterne-Luxus verwöhnen ließen. Auf dem Parkplatz des Hotels war so ziemlich jedes Spitzenmodell vertreten, stellte Corentin fest, als sie daran vorbeirollten. Thierry studierte den Stadtplan und fluchte leise, weil er sich in dem Einbahnstraßensystem nicht zurechtfand. Corentin empfand keinen Neid auf die Reichen und ihr Leben. Sein Weg war schon bestimmt worden, als er ein kleiner Junge war. Und als Mann hatte er den Erwartungen entsprochen und die sinnlose Gewalt seiner Kindheit aufgegeben. Die Fremdenlegion hatte seine Aggressivität kanalisiert und ihn Denken und Benimm gelehrt. Er hielt an einer Reihe von Werten fest, die ihm wichtig schienen, und es war bekannt, dass er, wenn ein Auftrag gewisse Instinkte in seinem Innern berührte, auch schon mal ohne Bezahlung arbeitete. Einen Menschen zu töten, der wirklich böse war, war für ihn ein Akt der Nächstenliebe, ein Beitrag für die Gesellschaft.

Nach einigem Hin und Her bogen sie schließlich in eine schmale Straße ein. Die Läden hatten noch geschlossen. Thierry zeigte auf eine Gasse hinter dem Marktplatz. Ein kleines Schild: Simones Autos. Ein Torbogen führte auf einen Hof, auf dem einige ältere Autos standen.

Corentin und Thierry hielten an und warteten auf Sophie.

 

Komtess Villeneuve saß mit dem Rücken zur Tür vor einem kleinen, mit grünem Tuch bespannten Kartentisch am Fenster. Mit bedächtigen Bewegungen legte sie ungewöhnlich große Karten aus, neben ihr glomm eine Zigarette. Nachdem Max sie eine Zeit lang beobachtet hatte, aber noch bevor er anklopfen konnte, hob sie die Zigarette an die Lippen und sagte, ohne sich umzudrehen, mit leiser Stimme: »Steh nicht den ganzen Tag da herum, junger Mann. Ich habe schon auf dich gewartet.«

Max, dem schon der Mut sank, weil sie ihn bemerkt hatte, trat zu ihr. Durchs Fenster sah er Sayid wieder unter dem Schirm liegen, der ihn aber eher vor der feuchten Seeluft als vor der schwachen Sonne schützte. Er lag auf der Erde und benutzte den Rollstuhl als Fußstütze. Bobby hatte gerade eine gute Welle erwischt – weit vorgebeugt stand er auf dem Board, seine nassen Haare flatterten wie Seetang im Wind –, ein herrliches Schauspiel, das er sich nicht entgehen lassen wollte.

»Wie meinen Sie das, Komtess?«, fragte Max und drehte sich zu ihr um.

»Du bist anders als die anderen Jungen. Du bist nicht so unbekümmert. Du denkst nach. Dein Gehirn – es ist in Bewegung. Ich weiß nicht, was dich bewegt, aber du schaust dir alles an, du siehst Dinge, die die anderen Jungen nicht sehen. Du überlegst dir, was du sagst. Du hast Geheimnisse. Du weißt nicht, ob du dem Mädchen trauen kannst. Nun, daran tust du wohl nicht Unrecht. Manche Mädchen, wie Mademoiselle Fauvre, sind … kompliziert. Du beobachtest sie, du beobachtest mich. Du hast viele Fragen, die auf Antwort warten. N’est-ce pas ?«

»Ich hätte nicht gedacht, dass man mir das ansehen kann.«

»Mein lieber Max, ich bin eine alte Frau. Im Alter steht man wie auf einem hohen Berg. Man hat einen wunderbaren Überblick über alles, bevor man dann abstürzt, versteht sich.« Sie lachte über ihre Sterblichkeit und sein ernstes Gesicht. »Rück schon raus damit, Max. Was hast du?«

Vertraue niemandem! Aber was sollte er machen? Ihm lief die Zeit davon.

»Ich suche eine baskische Abtei und habe keine Ahnung, wo sie sein könnte. Jedenfalls nehme ich an, dass es eine baskische Abtei ist.« Das Gefühl der Hilflosigkeit deprimierte ihn, trotzdem versuchte er sich in dem Chaos seiner Unwissenheit zurechtzufinden.

»Die Basken! Ja, die sind ein seltsames und einzigartiges Volk. Das hier sind ihre Berge, sie reichen bis ans Meer und sind von Geheimnissen umwittert. Die Basken haben uraltes Blut in ihren Adern. Weißt du, dass sie vor Tausenden von Jahren aus Finnland hierhergekommen sind? Dass sie durch ganz Europa gewandert sind, dass sie ihren Glauben mitgenommen haben und fest entschlossen waren, ein neues Land für sich zu entdecken? Es gibt nur wenige schriftliche Zeugnisse über sie. Und es sind nur noch wenige übrig, die ihre Sprache beherrschen. Nein. Das hast du natürlich nicht gewusst. Woher denn auch?«

Sie unterbrach sich und sah an dem verfallenden Gemäuer vorbei aufs Meer hinaus. Als sie sich wieder zu ihm umdrehte, hatte Max das Gefühl, dass sie seine tiefsten Geheimnisse kannte. Vielleicht war sie ja doch so eine Art Hexe.

»Mein verstorbener Gatte war Soldat in Diensten Frankreichs. Wo immer wir hingingen, beschäftigte er sich intensiv mit Land und Leuten, als ob er überall einen Hinterhalt vermutete. Genau wie du.« Sie lachte. »Du bist hier in Sicherheit, aber du tust Recht daran, Vorsicht walten zu lassen.«

»Auch Ihnen gegenüber?«, wagte Max zu fragen.

Sie überlegte kurz. »Ja. Du hast mir Informationen gegeben und ich weiß jetzt, wonach du suchst. Ja, Vorsicht. Immer.«

Sie begann die Karten zu mischen, als sei das Gespräch damit beendet.

»Es ist wirklich sehr wichtig, dass ich diese Abtei finde. Sie hat irgendetwas mit einer Schlange und einem Krokodil zu tun.«

Die Komtess ließ die Hände mit den Karten sinken. Max’ Herz machte einen Satz. Sie wusste Bescheid. Sie sah ihn an. Er hielt ihrem Blick stand, versuchte sie zu zwingen, es ihm zu sagen. Aber sie schaute ihm ruhig ins Gesicht – beinahe verträumt. Wieso interessierte sich dieser Junge für einen Ort voll exotischem Wissen, geschaffen von einem ganz außerordentlichen Mann? Von einem Iren, der eine baskische Mutter und einen irischen Vater hatte. Basken und Kelten, zwei Völker, die viele Mythen und Legenden kannten. Was hatte dieser Junge vor? Warum fühlte sie sich plötzlich so unbehaglich? Dieser Max Gordon besaß eine ganze besondere Art von Energie. Etwas Urtümliches, das geweckt werden konnte.

»Setz dich«, sagte sie.

Max zog einen Rattanstuhl heran und nahm Platz. Sie winkte ihn näher heran. Er rutschte ein paar Zentimeter vor.

»Gib mir deine Hand.«

Er tat wie geheißen und sie umschloss seine Hand mit beiden Händen. Ihre schwieligen Fingerkuppen zogen die Falten und Linien seiner Handfläche nach und strichen über seine Knöchel. Schließlich hielt sie inne. Sie hatte Trauer und Verlust in seiner Hand gespürt.

»Deine Mutter.« Sie schüttelte sanft den Kopf. »Du warst sehr jung, als sie starb.«

Max schwieg, er dachte daran, wie sein Vater ihn damals mit Tränen in den Augen in die Arme genommen hatte. Bis dahin hatte er seinen Vater noch niemals weinen sehen – und später dann auch nie mehr.

Die Komtess wartete, sie fühlte die Kraft und Entschlossenheit, die wie eine feine Strahlung von diesem Jungen ausging. Nichts Böses. Aber eine dunkle Macht, die spürbar in ihm lauerte.

»Die Energie deines Vaters strömt in dir. Du trauerst um ihn. Aber er ist nicht tot.«

»Ja«, antwortete Max und sah seinen Vater deutlich vor sich. Die Komtess flüsterte eine Wahrheit, die er noch keinem zu sagen gewagt hatte.

»Du machst dir Vorwürfe. Etwas Schlimmes ist geschehen. Und du fühlst dich schuldig.«

Max schluckte, er hatte einen ganz trockenen Mund. Die Erinnerung an die verzweifelten Bemühungen, seinen Vater aus der Gefangenschaft in Afrika zu befreien, nagte noch immer schrecklich an ihm. Hätte er seinen Dad früher gefunden, wäre ihm die Folter vielleicht erspart geblieben. Und dann läge sein Geist jetzt nicht in Scherben wie ein zerbrochener Spiegel.

Die Komtess kam zu dem Schluss, dass der Junge gute Gründe für seine Suche hatte.

»Was du suchst, ist keine Abtei, Max. Das Anwesen wurde im neunzehnten Jahrhundert von einem Forscher erbaut. Es ist nach ihm benannt. Das Château d’Antoine d’Abbadie.« Sie lächelte.

»Eine Touristenattraktion.«

»Was?«

»Viel Reklame wird nicht dafür gemacht, aber ganz unbekannt ist es nicht.«

»Wo?«

»In Hendaye, an der spanischen Grenze. Ungefähr eine Stunde von hier.«

Er hatte Zabalas verzweifelte Schreie kurz vor seinem Tod falsch verstanden. Was er als »abbaye« gehört hatte, war der Name Abbadie gewesen.

»Können Sie das für sich behalten?«, fragte Max die Komtess.

»Eine Touristenattraktion? Wohl kaum«, entgegnete sie lächelnd.

»Dass Sie mir das gesagt haben. Bitte. Sagen Sie Sophie nichts davon. Ich muss mir das erst allein ansehen.«

»Also gut. Ich bin schließlich eine Vertraute von Königen und Königinnen gewesen.«

Max hob verwundert die Augenbrauen.

»Nicht in diesem Leben«, erklärte sie ruhig und ohne die Spur eines Lächelns. Offenbar scherzte sie diesmal nicht. »Ich gebe dir mein Wort.«

Max wandte sich zum Gehen. Jetzt brauchte er Bobbys Auto und Sayids Gehirn.

Als er das Zimmer verließ, legte die Komtess gerade ihre Karten aus. Es waren Tarotkarten, von denen manche Leute glauben, dass sie Aufschluss über die Lebensreise eines Menschen und seinen Kampf mit den elementaren Mächten geben können. Sie deckte vier Karten auf – und was sie sah, erfüllte sie mit Angst.

Zuerst die Hohepriesterin – die Macht des Unbewussten. Geheimnis.

Dann folgte das Skelett – Zerstörung und Erneuerung. Sterblichkeit.

Schließlich ein Turm, in den der Blitz einschlägt – ein Schicksalsschlag. Katastrophe.

Die letzte Karte zeigte einen jungen Mann mit einem Stab auf der Schulter – ein Junge auf Wanderschaft, auf der Suche. Sprung ins Unbekannte.

Max Gordon war in Lebensgefahr.