12
Bobby Morrell hatte keine Chance, als sie ihn holen kamen.
Als es dunkel wurde und der Mond am Horizont erschien, saß er mit einem Becher Kaffee vor einem kleinen Feuer am Strand. Das salzverkrustete Holz brannte mit hellblauer Flamme, die Glut erhitzte die Steine um das Feuer. Fast widerstrebend, mit leisem Zischen, rollte die Brandung über den Sand. Es war eine kalte Nacht. Er und Peaches hatten draußen bei den Felsen einige gute Wellen erwischt, aber dann hatte der Wind zugenommen und Wolken herangetrieben. Ihr Rennboot, mit dem sie einen Kilometer vor der Küste ankerten, hatte sacht zu schaukeln angefangen. Fischer holten ihre Netze ein. Alles sehr malerisch. Bobby war zufrieden. Er genoss die Einsamkeit des Surfers – auf dem Snowboard einen Berg hinunter- oder auf dem Surfbrett an einer sich überschlagenden Woge entlangsausen –, nur er und sein Brett. Noch ein paar Wochen, dann musste er wieder zur Schule. Dann aufs College. Und dann? Er wusste es noch nicht. Eigentlich wollte er nur allein mit den Elementen sein. Vielleicht würde er Wirtschaft studieren und im Internet eine Sportartikelfirma aufbauen. Nach fünf Jahren konnte die dann jemand anders übernehmen. Und er würde nur noch den größten Wellen und den höchsten Bergen nachjagen.
Überall auf der Welt warteten unzählige Wellen auf ihn und sein Brett, und überall gab es schneebedeckte Hänge, die er noch nicht bezwungen hatte. Das Leben sollte nicht so kompliziert sein. Bobby war ein Teil der großen freien Natur, mit ihr fühlte er sich verbunden. Es war wie eine Symbiose – eine wechselseitige Abhängigkeit. Die Berge und das Meer brauchten ihn, und er brauchte sie.
Schule hingegen war nicht symbiotisch.
Das gefiel ihm an Max Gordon. Der hatte es auch mit der Natur. Max war cool. Er hatte sich einer Herausforderung gestellt. Eines Tages würde er ihn nach Hawaii mitnehmen und ihm auf Oahu mal richtige Wellen zeigen. Da würde er staunen. In Alaska sorgten Winterstürme für riesige Wogen, die Tausende Kilometer zurücklegten, bis sie sich an der Nordküste von Oahu brachen. Richtige Monster. Knochenbrecher. Eine echte Mutprobe für den Jungen. Diese Wellen kamen auf einen zugerast wie ein Schnellzug, zwanzig Meter hoch. Manchmal noch höher.
Das würde Max gefallen.
Er sah über die Bucht hinaus. Peaches hatte noch ein paar Wellen ausgenutzt, aber jetzt musste sie bald kommen. Er würde das Feuer anlassen. Bestimmt war ihr kalt.
Mondlicht schimmerte auf dem flachen Wasser der Bucht, aus der Ferne drang ein dumpfes Brummen – Geländefahrzeuge. Drei oder vier, die da durch die Nacht rumorten.
Nervös, weil er fürchtete, Max’ Anruf verpasst zu haben, kontrollierte er sein Handy. Nichts. Dann schob sich plötzlich jemand durch die Büsche.
Bobby erhob sich, packte ein Stück Treibholz, um sich notfalls verteidigen zu können, und trat der Gestalt entgegen, die jetzt im Lichtkreis des Lagerfeuers stand.
Der Kerl wandte sein hässliches Gesicht dem Mond zu und schnüffelte, als wollte er Witterung aufnehmen. In seinem breiten Mund waren spitze Zähne zu sehen. Speichel troff ihm von der Zunge und über sein kaum vorhandenes Kinn.
»Du musst Bobby sein«, sagte der Hai.
Max zog Bücher und Akten aus den Regalen. Irgendwo musste doch ein Hinweis zu finden sein. Sayid half ihm. Aber bis jetzt war ihre Ausbeute kaum der Rede wert, nur ein paar Karten, ein Grundriss des Châteaus und einige Jahrbücher von Forschungseinrichtungen. Max war auf die Galerie gestiegen, um die oberen Regale abzusuchen; der baskische Text an den Dachbalken interessierte ihn nicht. Die Worte waren ein Vermächtnis von Antoine d’Abbadie und ermutigten die Leser in seiner Bibliothek, durch fleißige Arbeit Weisheit zu erlangen. Es spielte keine Rolle. Max verstand sowieso kein Wort davon.
Seine Augen wurden müde. Zu lange versuchte er bei dem schlechten Licht die fremdsprachigen Buchtitel zu entziffern, und einen steifen Hals hatte er auch schon. Er schaute hin, nahm aber nichts mehr wahr. Seine Konzentration ließ nach.
Und dann fiel ihm plötzlich doch etwas ins Auge. Er trat zwei Schritte zurück. In die Kante eines Regalbretts waren Worte geritzt. Schwach, kaum sichtbar und so klein, dass man sie nur durch Zufall entdecken konnte. Es sei denn, man suchte gezielt danach.
Er brauchte Kreide, um die Buchstaben deutlicher hervorzuheben. Aber hier gab es keine Kreide. Was ging noch? Max sah zu Sayid hinunter, der am Tisch über einem Wälzer brütete. Und dann wusste er, was er brauchte. Hoffentlich war es noch drin, dachte er und stieg hastig zu Sayid hinunter.
Die alte Schreibmaschine.
»Hast du was gefunden?«, fragte Sayid, als Max sich über die altmodischen Tasten beugte.
»Kann sein«, sagte Max und hob vorsichtig die Spulen mit dem verblassten Farbband aus der Maschine. Sekunden später war er wieder oben an dem Regal. Er befeuchtete das Farbband mit Spucke und rieb damit kräftig über die Kante des Regals. Es funktionierte. Die blassen Kerben traten etwas deutlicher hervor, trotzdem konnte er nur einige wenige einzelne Wörter erkennen. Luciferi primo cum sidere frigida rurar carpamus … Da stand noch mehr, aber vollkommen unleserlich. Max las es leise vor. Luzifer! Das war’s.
Wenn er jetzt nur Mr Chaplin bei sich hätte. Der freundliche Lehrer von der Dartmoor High hatte es geschafft, Max für alte griechische und römische Geschichte zu interessieren. Die Schule stand auf dem Gelände eines ehemaligen Vorpostens der zwanzigsten römischen Legion, und daher war im Unterricht viel von Schlachten und Soldaten zu hören – und Latein hatten sie auch.
»Was hast du da?«, fragte Sayid leise und sah zu ihm hoch.
Max las es noch einmal vor. »Schon wieder was Lateinisches. Keine Ahnung. Irgendwas mit … äh … Eile … oder mit dem ersten Morgenlicht.« Er schüttelte den Kopf und zuckte hilflos mit den Schultern.
»Dummkopf«, sagte Sayid.
»Ich kann dir alle Schlachten aufzählen, die die zwanzigste Legion geschlagen hat. Aber was kann ich dafür, dass die Latein gesprochen haben?«
»Aber Luzifer steht da, oder?«, fragte Sayid.
»Luciferi. Ja.«
Max besah sich die Bücher, die unmittelbar über den eingekratzten Wörtern standen. Dahinter war eine Mappe versteckt, aber so, dass ein aufmerksames Auge sie entdecken musste. Max zog sie heraus.
Der braune Einband hatte sich abgelöst wie tote Haut. Als Max ihn aufschlug, fielen ein paar Seiten heraus. Er schob sie zusammen. Auf dem ersten Blatt war ein Kreis mit Symbolen und Ziffern um den Außenrand abgebildet; in den Kreis waren drei oder vier Dreiecke verschiedener Größe gezeichnet.
Darüber standen in kaum lesbarer Schrift drei lateinische Wörter: Lux et veritas.
»Hier ist noch mehr!«, rief Max aufgeregt, als er wieder nach unten zu Sayid kam. »Lux et veritas. Das heißt ›Licht und Wahrheit‹. So viel weiß ich immerhin.«
Er legte die Papiere auf den Tisch, aber Sayid konzentrierte sich gerade auf etwas anderes. Er hatte einen Band mit Dokumenten entdeckt.
»Verdammt«, sagte er. »Sieh dir das an, Max.«
Er legte das große Buch neben Max’ Mappe. Die aufgeschlagene Seite zeigte ein kompliziertes Diagramm aus Geraden und Zickzacklinien. Das Ganze bildete ein Muster, das aussah wie aus Diamanten und Sternen zusammengesetzt.
»Weißt du, was das ist?«
»Ja«, antwortete Sayid, ohne auch nur von der Zeichnung aufzublicken.
»Schon gut, Sayid. Lass dir Zeit. Nur keine Hektik. Du brauchst mir das Geheimnis nicht zu erklären, wenn du nicht willst.«
»Na ja, ich bin schon überrascht. In meiner Familie gab es Bücher über islamische Kunst, und da habe ich das schon mal gesehen. Erstaunlich.«
Max sah seinen Freund an, der wie gebannt auf die Zeichnung starrte. Er drehte sie nach links und nach rechts, und egal, welche Seite oben war, das Muster blieb immer gleich.
»Ich erklär’s dir ja …«, sagte Sayid und verstummte wieder.
Max seufzte und wartete.
»Das ist die göttliche Ordnung«, teilte Sayid ihm schließlich mit.
»Wie bitte?«
»Die reine Geometrie. Soweit ich weiß, haben die Araber das von den Griechen übernommen, dann aber weiter verfeinert. Es besagt, dass das Chaos des Universums kein Zufall, sondern Teil eines Plans ist. So habe ich es wenigstens verstanden. Und hier in dieser Zeichnung ist das Chaos des Universums in einer klaren Ordnung dargestellt. Ganz präzise.«
»Ich komm nicht mehr mit, Sayid.«
Max überlegte fieberhaft. Sein Dad hatte ihm auf ihren gemeinsamen Reisen so viele Dinge beigebracht, aber das alles nützte ihm jetzt nichts. Er wusste, dass die alten Griechen manches von den Ägyptern und Babyloniern gelernt hatten und dass Inder und Araber Großmeister in Astronomie und Mathematik gewesen waren, aber wie passte das mit dem hier zusammen? Hatte sein Dad ihm denn nichts erzählt, was ihm helfen könnte, dieses Rätsel zu lösen?
Der Gedanke an seinen Vater, der jetzt allein mit seiner Krankheit zu kämpfen hatte, quälte ihn. Sein Dad war ein ganz außerordentlicher Mensch. Sein starker, abenteuerlustiger, kluger Dad. Max riss sich zusammen. Es war nicht gut, zu lange solch belastenden Gedanken nachzuhängen. Er wollte lieber daran denken, was sein Vater ihm über die Griechen erzählt hatte. Die blutigen Konflikte der Antike faszinierten ihn, und er hatte mit seinem Vater einige der alten Schlachtfelder besucht. Das war zu der Zeit gewesen, als er große Schwierigkeiten gehabt hatte, sich in der Dartmoor High einzuleben. Also hatte ihm sein Vater Geschichten erzählt. Sie wanderten unter der heißen Sonne Griechenlands, wo Krieger in großen Schlachten gefallen waren, und sein Vater erklärte ihm, wie der Gebrauch der Geometrie die Menschen schon vor Jahrtausenden in die Lage versetzt hatte, Belagerungsmaschinen zu bauen. Auf die Weise half ihm sein Vater, im Unterricht aufmerksam zuzuhören. Er gab ihm etwas Handfestes, woran er sich orientieren konnte, wenn das Thema nicht Fantasie, sondern Konzentration verlangte.
Max hatte es in der Schule nicht leicht gehabt. Der Schock und die Trauer nach dem Tod seiner Mutter wirkten lange nach und oft kamen ihm die Tränen. Wenn er versuchte, auch nur die simpelsten Grundlagen der Geometrie zu begreifen – das Längenquadrat der Hypotenuse ist gleich der Summe der beiden Seitenquadrate –, machte sein Gehirn manchmal einfach nicht mehr mit. Dann erzählte ihm Dad von Pythagoras. Das war ein bedeutender griechischer Mathematiker, ein vegetarisch lebender Mystiker, der davon überzeugt war, mithilfe der Geometrie die Geheimnisse des Universums lösen zu können. Geheimnisse des Universums! Und jetzt hatte Sayid gesagt, in dieser Zeichnung gehe es auch um nichts anderes.
»Wenn es in diesem Buch ist, kann es wohl kein direkter Hinweis sein«, sagte Max. »Aber vielleicht sollten wir daraus schließen, dass Zabala etwas suchte, das mit Astrologie und Astronomie zu tun hatte, und dass er sich, um das Rätsel zu lösen, der Geometrie bediente.«
Max nahm das zweite Blatt aus der Mappe. Darauf standen fünf Reihen mit jeweils fünf Zahlen. Darüber, wie eine Überschrift, ein Wort, ein Symbol und eine Zahl: Mars = 65.
»Mars ist gleich fünfundsechzig«, sagte Max. »Was soll das bedeuten?«
»Mars ist der Kriegsgott.«
»Das weiß ich, Sayid. Aber er ist nicht fünfundsechzig Jahre alt, oder? Und er wohnt auch nicht in Haus Nummer fünfundsechzig.«
»Ich versuche nur zu helfen. Bleib locker. Ich habe dir letztes Jahr geholfen, die Matheprüfung zu bestehen, weißt du noch? Dein verrückter Mönch muss einen Grund gehabt haben, das hier abzulegen.«
»Er war nicht verrückt, da bin ich mir sicher. Er war Wissenschaftler, und das hier ist genauso ein Hinweis wie alles andere.«
Max sah sich die Zahlenreihen genauer an, sie mussten doch irgendeinen Sinn haben.
11 24 7 20 3
4 12 25 8 16
17 5 13 21 9
10 18 1 14 22
23 6 19 2 15
»Ich habe mal ein Buch über Spione im Zweiten Weltkrieg gelesen; die hatten auch so ein Codiersystem, allerdings mit Buchstaben, nicht mit Zahlen«, sagte er.
»Ich erinnere mich. Du hast mir damals endlos davon erzählt. Und?«
»Und … keine Ahnung. Hab vergessen, wie das ging.« Sayid sah ihn entsetzt an.
»Mach nicht so ein Gesicht, Sayid. Wenn ich dir so viel davon erzählt habe – warum erinnerst du dich dann nicht mehr daran?«
»Weil ich in der Zeit wahrscheinlich grade deine Matheaufgaben gemacht habe.«
Max fuhr mit einem Finger über die Zahlenreihen.
»Bei Zahlen gibt es immer irgendeine Gesetzmäßigkeit. Die haben immer was zu bedeuten«, sagte Sayid.
»Sicher«, pflichtete Max ihm bei, »sonst hätte er sie nicht da hingeschrieben. Eins kann ich dir jedenfalls sagen – alle diese Zahlenreihen, senkrecht, waagerecht und diagonal, ergeben als Summe fünfundsechzig.«
Sayid rechnete kurz nach. Max hatte recht. Die Spalten und Reihen ergaben als Summe immer fünfundsechzig.
»Gar nicht mal so schlecht.«
»Na ja, so dumm bin ich ja nun auch nicht. Hab nur ab und zu ein bisschen Schwierigkeiten mit Mathe«, erwiderte Max eingeschnappt.
Sayid nahm das Blatt in die Hand. »So was habe ich schon mal gesehen. Das nennt man ein magisches Quadrat«, sagte er nachdenklich.
»Magisch? Abrakadabra?«
»Nein, die Araber haben das bei den Indern kennengelernt. Ungefähr im siebten Jahrhundert. Und dann gab es da einen Mathematiker …« Sayid blickte auf und kramte in seinem Gedächtnis herum. »Al-Buni. So hieß er. Der hat sich um Zwölfhundert herum mit Astrologie beschäftigt und …«
Max unterbrach ihn. »Sayid, wir haben jetzt keine Zeit für Geschichtsunterricht. Erklär mir einfach, was ein magisches Quadrat ist, okay? Oder wenigstens dieses hier. Mars ist gleich fünfundsechzig – das hat was zu bedeuten. Zabala hätte sich nicht so viel Mühe gemacht, etwas zu verstecken, wenn es eine ganz banale Sache wäre.«
»Ich weiß nicht, was diese Zahlen bedeuten. Ehrlich, ich habe keine Ahnung. Aber das mit der Zahl Fünfundsechzig ist immerhin ein Anfang«, sagte Sayid, klang aber nicht sehr überzeugt.
»Das denke ich auch«, sagte Max, »nur wissen wir nicht, in welcher Richtung wir zu suchen haben. Noch nicht. Ich finde, wir sollten jetzt von hier verschwinden und das Ganze bei der Komtess genauer untersuchen.«
Sayid nickte. Er versuchte immer noch, das Durcheinander in seinem Kopf zu sortieren. »Ich werde weiter darüber nachdenken«, sagte er und faltete das Blatt vorsichtig zusammen.
»Tu das. Mit Zahlen hast du’s ja. Aber bevor wir gehen, müssen wir noch das Observatorium überprüfen. Wir kommen bestimmt nicht mehr so bald hierher zurück«, sagte Max, schob die Zeichnung mit dem Kreis in seine Hosentasche und stellte die Mappe ins Regal zurück.
Sayid räumte den Tisch ab, während Max das Farbband wieder in die Schreibmaschine einlegte.
Das Observatorium lag auf derselben Etage, und als sie dort ankamen, wies in der Bibliothek nichts mehr darauf hin, dass dort jemand etwas gesucht haben könnte.
Das Observatorium war ein schlichter, vollkommen schmuckloser Raum. Durch eins der beiden Fenster fiel ein helles Rechteck aus Mondlicht auf den dunklen Holzboden. Offenbar diente der Raum ausschließlich zum Arbeiten, hier wurde geforscht, hier wurde ausgewertet, was man in der Bibliothek zusammengetragen hatte. Ein gotischer Bogen teilte den Raum in der Mitte, links und rechts davon befanden sich alte Bücherschränke mit grauen Aktenordnern. In einer Nische unter dem Bogen stand ein altmodisches Teleskop, das fest auf eine Art Speichenrad montiert war und in einem Winkel von etwa fünfundvierzig Grad nach oben zeigte. Unter dem Apparat war ein kleiner Holzsitz auf einer Gleitschiene am Boden befestigt.
»Halte dich von den Fenstern fern, Sayid. Falls draußen doch noch jemand ist.«
Max strich über das Gehäuse des Teleskops. In dem Gewölbe darüber waren Fenster, die sich zur Beobachtung des Himmels aufschieben ließen.
»Hier legt man sich drauf«, erklärte Sayid und zeigte auf den Holzsitz, »dann schiebt man sich unter das Teleskop und beobachtet, wie die Sterne über den Meridian wandern.«
»Woher weißt du das?«
Sayid lächelte und zeigte auf ein kaum sichtbares Schildchen in dem Bogen. »Weil es da steht. Ich versuch’s gleich mal.« Und schon ließ er sich nieder.
»Sayid, wir haben keine Zeit.«
»Ach was! Komm schon, Max, mit Sternen kennst du dich doch aus. Sehen wir’s uns mal an. Der Himmel ist wolkenlos. Mach mal die Fenster da oben auf.«
Sayid hatte sich bereits unter das Okular des Teleskops geschoben. Max rüttelte an den Stäben, mit den sich die oberen Fenster öffnen ließen. »Der Mond ist zu hell, Sayid. Da sieht man nicht viel.«
»Hör auf zu meckern, Max. Tu’s einfach.«
Endlich bekam Max die alten Klappfenster auf. Seine Befürchtung, die ganze Konstruktion könnte über ihnen zusammenbrechen, traf zum Glück nicht ein.
»Sehr gut«, sagte Sayid grinsend und machte sich daran, das Okular scharf zu stellen.
Max sah sich um. Was gab es hier noch? Hatten sie jetzt alles gefunden? Er wollte sich unbedingt mit den Zeichnungen in seiner Hosentasche beschäftigen. Und um das ungestört tun zu können, mussten sie sich an einen sicheren Ort zurückziehen.
Allmählich wurde er ärgerlich. »Sayid, lass gut sein! Komm, wir müssen hier raus.«
Sayids Auge schien an dem Teleskop zu kleben; er ruckte ein wenig vor und zurück, bis er es sich bequem gemacht hatte, und hob einen Arm, um Max zum Schweigen zu bringen. Etwas Helles huschte über eine Wand. Max’ Herz machte einen Satz. Da war etwas aufgeschimmert. In diesem alten Schloss hausten Ungeheuer. Die Wasserspeier krochen von den Dächern hinab, kratzten mit ihren Krallen hungrig an den Mauern. Oder hatte ihm seine Fantasie einen Streich gespielt? Der Wind, der jetzt vom Meer her kam, verfing sich in den Zinnen. Die Wasserspeier lechzten brüllend nach Beute.
Sayid blickte auf. Das Jaulen und Heulen hatte ihn erschreckt.
»Das ist nur der Wind«, erklärte Max.
Sayid lächelte gequält und hielt sein Auge wieder an das Teleskop. Max beschloss, ihm noch eine Minute zu lassen. Das Licht, das er eben gesehen hatte, war von der anderen Seite des Raums gekommen.
Er bemerkte einen uralten Spiegel, arg verstaubt, mit grünlich angelaufenem Kupferrahmen, das Glas trüb und braun. Max trat davor und betrachtete sein Spiegelbild. Der Junge, der ihn da anstarrte, hatte keine Augen. Das Licht von oben warf dunkle Schatten auf sein Gesicht und tauchte die Augenhöhlen in Schwarz. Die dünne rote Narbe quer durch seine Augenbraue war noch zu erkennen, und in seiner hochgerutschten Jacke sah er aus, als ob er einen Buckel hätte. Er grinste, und beinahe rechnete er damit, zwischen seinen Lippen Vampirzähne zu erblicken. Um besser sehen zu können, wischte er mit einem Ärmel den Staub von der Glasfläche.
Etwas in dem Spiegelbild machte ihn stutzig.
Er drehte sich um und ging zu der Wand gegenüber. Dort hing ein altes, auf Holz gemaltes Bild. Es war etwa fünfzig Zentimeter hoch und halb so breit. Kleine Ösen aus Messing, an kaum sichtbare Nägel gehakt, hielten es an der Wand. Das Bild, blass und stumpf, hing im dunkelsten Winkel des Raums und passte gar nicht dorthin; und es war das einzige Bild hier überhaupt.
Es wirkte wie eine Malerei aus dem Mittelalter, die dargestellten Figuren flach und zweidimensional und irgendwie unwirklich. Im Hintergrund war eine Gebirgskette zu erkennen; schmutzig graue Gipfel, keine Spur mehr von Schnee. Aber das Bild war leicht zu verstehen. Ein Stern, gelblich weiß, schwebte über den Bergen. Rechts daneben, in gleicher Höhe, war noch ein Stern. Im Vordergrund lag ein Mönch auf der Erde. Sein Kopf ruhte auf einem Baumstamm oder Felsen – es war nicht deutlich zu sehen –, in einer Hand hielt er ein primitives Fernrohr. Er sah uralt aus, geradezu biblisch. Sein zotteliger Bart hing ihm bis auf die Brust und mit dem Zeigefinger seiner freien Hand wies er auf sich selbst.
Max las die französische Inschrift auf dem Messingschildchen, das unten an den Rahmen geschraubt war. Demnach war das Château dem heiligen Antonius, dem Einsiedler, geweiht. Max konzentrierte sich auf jeden einzelnen Pinselstrich. Links unten auf der Holztafel schien ein Kratzer zu sein. Ein Zeichen? Er kippte die Tafel leicht an, damit etwas mehr Licht darauf fiel. Der Kratzer war kaum zu sehen, falls man nicht gerade danach suchte. Es war ein Z.
Das Bild stammte nicht aus dem Mittelalter, nicht einmal vom Beginn des vorigen Jahrhunderts. Max nahm es von der Wand und stellte es auf den Boden; es war erstaunlich schwer. Warum der Mönch durch ein Fernrohr schaute, verstand er nicht, wohl aber, was die beiden Wörter links und rechts neben dem alten Mann bedeuteten: Lux Ferre.
Max sah sich hektisch um, als fürchte er, jemand anders könnte den Hinweis ebenfalls sehen. Sayid war mit dem Teleskop beschäftigt, im Mondlicht schwebten Staubteilchen umher, sonst bewegte sich nichts. Im Château war es totenstill.
Max kniete sich vor das Bild und starrte dem alten Mann in die Augen. Er war so gemalt, dass der Betrachter das tun konnte – ihm in die Augen sehen –, trotz des Fernrohrs vor seinem Gesicht. Es war, als sehe er Max direkt an.
Einfach Beängstigend.
Der Einsiedler zeigte auf einen winzigen Lichtfleck unter seinem Bart. Noch ein Stern. An seinem Schlüsselbein.
Max berührte den Anhänger, den er um den Hals hängen hatte.
Bobby Morrell war um sein Leben gerannt. Der Sand machte seine Schritte schwer, aber er war stark und trainiert genug, das zu ignorieren. Und die Angst trieb ihn voran, auf das Meer zu, dort wäre er in Sicherheit. Die dunklen Fluten würden ihn aufnehmen, der Neoprenanzug war die perfekte Tarnung. Und Bobby konnte sehr lange unter Wasser schwimmen.
Eine Düne hinauf und dann das letzte Stück über den mondhellen Strand. Es war Flut, er würde es schaffen, kein Problem, und später musste er Max warnen. Er würde einfach so lange im Wasser bleiben, bis diese Schlägertypen von der Bildfläche verschwanden. Dann zu der Landzunge schwimmen. Ganz einfach.
Als er losgerannt war, hatte er Peaches’ Namen in die Nacht gerufen. So laut er konnte. Hatte gebrüllt, sie solle weglaufen. Sich verstecken. Aber der Angriff hatte ihn völlig überrumpelt. Die Typen hatten sich zwischen den Büschen und Bäumen hinter den Dünen versteckt. Ihre Motocross-Maschinen jaulten einmal kurz auf, die Räder wühlten im Sand, und plötzlich sprangen sie aus der Dunkelheit, wie Wölfe, die ein schutzloses Tier anfielen.
Er war jetzt am Wasser, aber sie hatten ihn eingeholt. Ihre Räder versprühten nassen Sand und Gischt. Gut eingespielt nahmen sie ihn in die Zange, einer von links, einer von rechts. Und als er einmal kurz stehen bleiben musste, rammte ihn ein Dritter von hinten.
Bobby schlug mit dem Gesicht auf den nassen Sand. Die See war verlockend nah. Schmerz breitete sich in seinem Rücken aus. Sie hatten ihn übel erwischt, aber er war nicht zum ersten Mal auf die Nase gefallen. Wie viele Tonnen Wasser hatten ihn schon umgeworfen? Er atmete durch den Schmerz, stieß seine Füße in den saugenden Sand und richtete sich auf.
Sie ließen ihn drei, vier Schritte machen, dann jagten sie ihre Maschinen auf ihn zu. Einer schwang einen Knüppel. Bobby konzentrierte sich auf das rettende Wasser, nur dort wäre er in Sicherheit.
Der Schlag wirbelte ihn herum. Er klatschte mit dem Hinterkopf ins Wasser und ging würgend unter. Salzwasser drang ihm in Mund und Nase, klebriger Sand erstickte ihn. Und während er keuchend nach Atem rang, höhnte ihn die Ironie des Schicksals: Du wirst in knöcheltiefem Wasser ertrinken!
Jemand packte ihn, riss sein Gesicht aus dem Wasser und schüttelte ihn. Bobby spuckte und bekam etwas Luft. Das Gesicht des anderen war nicht zu sehen, nur eine Silhouette vor dem Mond, aber er kicherte hämisch.
»Wir sind noch nicht mit dir fertig«, zischte er.
Wer noch nie die Gewalt einer sechs Meter hohen Woge gespürt hat, die Wucht, mit der sie von unten nach einem schlägt, der kann nicht wissen, über welche Kräfte jemand verfügt, der jede freie Minute auf dem Wasser verbringt. Bobby warf sich herum. Er hatte einen Batzen nassen Sand gepackt, und seine Faust, schwer wie ein Stein, krachte an den Kopf des anderen, der vor Schmerz aufschrie und ihn losließ.
Wie eine Robbe, die einem Killerwal entflieht, glitt Bobby davon und stürzte sich in das tiefere Wasser. Schon konnte er schwimmen. Hierher konnten die Motorräder ihm nicht folgen. Weiter. Den Kopf unten halten, kraulen, Luft holen, kraulen, Luft holen. Weiter! Ich muss Max warnen! Muss ihn warnen!
Er drehte sich um, legte sich mit dem Rücken in die Brandung und richtete den Blick auf die Küste. Er hatte zweihundert Meter zwischen sich und diese Typen gebracht. Sie standen reglos da und sahen ihm nach.
Er lachte. Falls die darauf warteten, dass er müde wurde, hatten sie eine lange Nacht vor sich. Bobby Morrell konnte schwimmen wie ein Delfin. Er würde durch die Bucht zur Landspitze schwimmen, über die Felsen klettern und von dort zu Fuß zum Château gehen. Irgendwo hinter dem Brandungsrauschen hörte er einen Motor aufbrummen. Was war das? Ein Motorrad war es jedenfalls nicht.
Er drehte sich um.
Das Rennboot raste direkt auf ihn zu. Sie hatten das Boot in Reserve gehabt und bei dem hellen Mond brauchten sie keinen Suchscheinwerfer. Er war ein leichtes Ziel. Das Boot umkreiste ihn, und auf den schaukelnden Wellen war er sogar noch besser zu sehen. Jetzt wendeten sie und nahmen Anlauf, ihn zu überfahren.
Er zog den Kopf ein, tauchte unter und versuchte so tief wie möglich zu kommen, damit die Schraube ihn nicht zermalmte. Das Brummen des starken Außenbordmotors hallte dumpf durchs Wasser, als die Sogwelle über ihn hinwegging. Er kam nach oben, atmete tief durch und schwamm los. Das Boot wendete zum nächsten Angriff. Er durfte die Landspitze nicht aus den Augen verlieren. Aber er hatte sich verrechnet. Das Boot war so schnell herumgeschleudert, dass es schon wieder auf ihn zuraste. Aber diesmal bremste es vorher etwas ab, da es beim ersten Versuch zu schnell gewesen und daher am Ziel vorbeigeschossen war. Irgendwann würden sie ihn erwischen.
Wenn er überleben wollte, musste er das Tempo des Angriffs genau kalkulieren. Er sah das Boot kommen, wartete, holte tief Luft und als es nur noch drei Meter entfernt war, warf er sich mit aller Kraft zur Seite. Aber das reichte nicht. Das Boot streifte ihn. Seine Rippen knackten. Ein heftiger Schmerz folgte. Er stöhnte auf, schluckte Wasser, wälzte sich herum und spuckte hustend aus.
Die kalte Wirklichkeit traf ihn wie ein Keulenschlag. Er würde es nicht schaffen. Er würde sterben.
Sie umkreisten ihn langsam, den Motor im Leerlauf, und sahen gelangweilt zu, wie die finstere See ihn zu verschlingen begann.
Er sah das Boot neben sich, einen Meter entfernt.
Helft mir.
Sie beobachteten ihn. Reglos.
Helft mir. Bitte.
Hatten sie ihn gehört? Oder rief das nur die Stimme in seinem Kopf? Einer der Männer packte einen Bootshaken mit speerähnlicher Spitze und hob ihn wie eine Lanze. Die anderen grinsten. Sie würden ihn aufspießen wie einen verwundeten Fisch.
Der Mann holte aus.
Bobby spürte, wie die Spitze durch den Neoprenanzug in seinen Körper eindrang. Wasser spülte ihm übers Gesicht, er sank und kam noch einmal hoch. Jetzt sah er nur noch den strahlenden Ball, der die Nacht mit seinem Licht beglückte.
Der Mann im Mond lächelte.
Schadenfroh.