1
Zum Sterben war dieser Tag viel zu schön.
Max Gordon sah zu den Bergspitzen hinauf, die in den kristallklaren Himmel ragten. Im Tal gegenüber wallten Nebelschwaden an den Hängen empor und verschwanden über den Gipfeln. Schnee wirbelte von den Felsen wie weiße Schmetterlinge von einer Wiese. Aber dies war keine sanfte englische Sommerlandschaft. Max befand sich in eisigen zweitausend Metern Höhe, das Wetter war unberechenbar, und niemand wusste, dass er und Sayid Khalif, sein bester Freund, hier oben waren.
Ein Schneebrett, groß wie ein Fußballfeld, hing bedrohlich an der Felswand hundert Meter über ihm. Ein kräftiger Windstoß, ein einziges Zucken der überladenen Bäume und er und sein verletzter Freund würden von tausend Tonnen Schnee zerschmettert werden.
Fünfzig Meter entfernt lag Sayid und krümmte sich vor Schmerzen und Angst. Max musste ihn unbedingt erreichen und von dem Hang weg in Sicherheit bringen. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Eine Ladung locker gepappten Schnees krachte herunter und rumpelte hinter Sayid zu Tal.
»Nicht bewegen!«, schrie Max und streckte dem Jungen warnend einen Arm entgegen, während er sich ihm vorsichtig näherte. Vor jedem Schritt stocherte er mit seinem Snowboard prüfend in den Schnee.
Sein Atem dampfte, als er keuchend vor Anstrengung neben Sayid auf die Knie sank. Mit den Zähnen zog er einen Skihandschuh aus und tastete behutsam das Bein seines Freundes ab.
Sayid schrie auf. Er kniff vor Schmerz die Augen zu.
»Entschuldige«, sagte Max und warf einen besorgten Blick nach oben zu der losen Schneefläche, die jederzeit auf sie niederstürzen konnte.
»Das Bein ist gebrochen«, flüsterte Sayid.
»Nein, ist es nicht. Wahrscheinlich bist du nur mit dem Fuß umgeknickt.«
»Meinst du?«
»Ja«, log Max. »Geschieht dir recht, wenn du dich von der Piste entfernst. Wir wollten doch auf sicheren Hängen bleiben.« Er half Sayid, sich aufzusetzen, richtete das krumme Bein und wischte ihm den Schnee aus dem Gesicht.
Eine blöde Idee: Sayid auf Skiern gegen Max auf dem Snowboard – wer zuerst unten ankommt! Aber Sayid war etwas weiter oben vom Kurs abgewichen und in diese gefährliche Spalte geraten. Ein trügerisches Schneefeld, das eine schnelle Abfahrt zu verheißen schien. Max hatte ihn gewarnt, aber vergeblich. Als Sayid an den vom Schnee bedeckten umgestürzten Baumstamm geprallt war, war er noch zehn Meter weiter gestürzt. Immerhin hatte er sich nicht das Genick gebrochen.
Max nahm sich den zerbrochenen Ski vor. Er zog die Zugschnur aus Sayids Skijacke und band eins der Bruchstücke mit dem heilen Ski zu einem Kreuz zusammen.
»Willst du damit mein Bein schienen?«, fragte Sayid.
Max schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig, Dummkopf. Das brauchst du, um hier rauszukommen.«
»Machst du Witze? Ich habe wahnsinnige Schmerzen. Ich brauche einen Hubschrauber.«
Max machte den letzten Knoten. »Du brauchst bald gar nichts mehr, wenn das Zeug von da oben runterkommt«, sagte er und zeigte auf das Schneefeld.
Ein unheilvolles Knirschen unterstrich seine Warnung und dann ging weiter hinten am Hang eine Lawine ab. Sie rauschte mit lautem Krachen und beängstigender Wucht in die Tiefe.
»Max! Was machen wir denn jetzt?«
»Wir müssen hier weg, Sayid! Halt dich an dem Querholz fest.« Max legte Sayids Hände auf das abgebrochene Stück Ski, das als Lenkstange dienen sollte. »Setz dich auf den Ski, und dann gut festhalten und einfach nach unten fahren.«
Sayid wühlte in seiner Tasche. »Warte. Einen Moment noch!« Er zog eine Kette mit kleinen schwarzen Perlen hervor, wickelte sie sich um die Faust, küsste sie und nickte Max nervös zu. »Okay. Los geht’s!«, sagte er.
Sayids Lebenswille überwand den stechenden Schmerz in seinem Fuß, als Max ihn anschob. Wie ein Kind auf einem Dreirad, dem die Füße von den Pedalen gerutscht sind, sauste er durch den Schnee.
Max hatte gerade seine Stiefel auf dem Snowboard eingeklinkt, als der Schnee oben in Bewegung geriet. Die ungeheure Masse kam in Zeitlupe auf ihn zu und in diesem Augenblick erkannte er, dass es vor etwas so Gewaltigem kein Entrinnen gab. Der Boden unter seinen Füßen erzitterte. Max beugte die Knie und jagte los, als zweihundert Meter rechts von ihm die stäubende Masse die Bäume niederwalzte. Dichte Schneewolken hüllten ihn ein und der von der Lawine ausgelöste Luftstrom schlug ihm in den Rücken. Er warf sich nach vorn und glitt mit engen Schwüngen, so schnell er konnte, den Berg hinunter. Die Lawine raste neben ihm her, ein knurrendes Monster auf verzweifelter Jagd nach Beute.
Ein Adrenalinstoß überschwemmte seinen Körper. Die tödliche Gefahr, die mit einem Ritt am Rand dieser furchtbaren Woge einherging, war auf einmal vergessen und eine wilde Freude erfasste ihn. Er lachte laut auf. Komm schon! Komm schon! Ich kann dich schlagen! Ich kann gewinnen!
Ein mächtiger Schneeblock löste sich aus der Lawine und stürzte auf ihn zu. Eins zu null für die Realität. Max beugte sich vor, schwenkte in dem wirbelnden Chaos zur Seite und spürte, wie die Ausläufer seine Knie streiften. Nicht stürzen! Jetzt nicht!
Und dann war es plötzlich vorbei. Nur wenige Meter von ihm entfernt krachten die Schneemassen auf die felsigen Flächen an der Baumgrenze.
Weißen Pulverschnee versprühend stellte Max das Snowboard quer und hielt an. Er drehte sich um und sah, dass weiter oben, wo eben noch er und Sayid gewesen waren, alles unter Schnee begraben lag.
Die Stille war fast so beängstigend wie zuvor das Gebrüll der Lawine. Sayid war unter den schneebeladenen Bäumen hindurch unten auf die andere Seite gelangt. Er war in Sicherheit. Max sog die eisige Luft ein. Die Stimme in seinem Kopf lachte noch immer ihr triumphierendes Lachen, aber Max gab sich keinen Illusionen hin. Wäre die Lawine nur ein wenig näher in seine Richtung gekommen, hätte sie ihn lebendig begraben und in den Tod gerissen.
Die kleine Notfallklinik in dem Skiort Mont la Croix diente nur als Durchgangsstation, wo Patienten Gipsverbände bekamen und so weit versorgt wurden, dass sie in ein größeres Krankenhaus transportiert werden konnten. Meist waren es Erwachsene, die dort vor Schmerzen schreiend eingeliefert wurden.
Leute, die sich einbildeten, jeder Idiot könne Ski laufen, ohne fit zu sein und ohne hinreichend zu üben. Und meist waren es dann solche Idioten, die sich die Beine brachen.
Max sah zu, wie Sayid aus der Notaufnahme geschoben wurde. Die Schiene, die sein Bein vom Fuß bis zum Knie umhüllte, fixierte es und schützte es vor Stößen beim Transport.
»Gebrochen, wie ich gesagt habe«, stöhnte Sayid.
»Ist es schlimm?«, fragte Max die junge französische Krankenschwester.
Sie lächelte und antwortete dann mit melodischem Akzent: »Nichts Ernstes. Er hat sich einen Fußknochen angeknackst. Wir können hier aber nur die Notversorgung leisten. Wir bringen ihn ins Krankenhaus nach Pau. Die Fahrt dauert nur zwei Stunden und dort wird man ihm einen Gips anlegen.«
»Mit dem Hubschrauber?«, fragte Sayid erwartungsvoll.
»Nein, nein. Dazu ist die Verletzung nicht schlimm genug«, sagte sie und lächelte wieder.
»Ich kann’s gern noch etwas schlimmer machen«, schlug Max scherzend vor.
»So witzig ist das nicht«, erwiderte sie mit freundlichem Tadel. »Ihr beide habt heute großes Glück gehabt. Es ist ein Wunder, dass die Lawine euch nicht erfasst hat. Die Nebenpisten sind sofort gesperrt worden.«
Max hatte schon Gewissensbisse, weil er Sayid in diese Situation gebracht hatte. Er hatte Sayids Mutter, die bei ihnen an der Schule als Lehrerin arbeitete, das Versprechen gegeben, ihren einzigen Sohn im Auge zu behalten. »Darf ich ihn ins Krankenhaus begleiten?«
Bevor die Schwester antworten konnte, sagte Sayid: »Nein. Denk an dein Finale morgen. Wenn die Straßen vereisen, schaffst du es nicht mehr rechtzeitig zurück. Ist schon gut, Max. Ich pack das schon. Du bist so kurz vor dem Ziel. Du kannst diese Meisterschaft gewinnen.«
Sayid hatte Recht. Dass er bei dem Junioren-X-trem-Wettkampf so weit gekommen war, grenzte an ein Wunder. Sein Vater hatte ihn zwar unterstützt, dennoch waren Max’ Mittel begrenzt. Er hatte jeden Aushilfsjob angenommen, um etwas Geld dazuzuverdienen. Für die optimale Ausrüstung reichte es zwar immer noch nicht, aber wenigstens half es, einen Teil der Kosten zu decken, die für die Reise in die französischen Pyrenäen und das Startgeld aufzuwenden waren.
Zwei Jahre lang hatte Max für diesen Wettkampf trainiert und seine Lehrer hatten ihm die ganze Zeit Mut gemacht. Die Dartmoor High war keine normale Oberschule. Am Nordrand des Dartmoor National Parks wie eine kleine mittelalterliche Festung in den Felsen gebaut, vermittelte sie ihren Schülern eine solide Ausbildung und legte besonderen Wert darauf, dass sie Selbstvertrauen entwickelten. Das oft trügerische Moorland stellte nicht nur die Jungen der Dartmoor High auf die Probe, es diente auch als Trainingsgelände für britische Soldaten und Marines.
Verschneite Hänge aber hatte Dartmoor nicht zu bieten, also hatte Max nur mit dem Skateboard trainieren können. Ein asphaltiertes Straßenstück, das bergab ging und am unteren Ende von Baumwurzeln stark aufgewölbt war, hatte ihm als Rampe für seine Sprünge gedient. Das dichte Heidekraut hatte seine Stürze abgefedert, und gestürzt war er reichlich, aber dort und auf der Trockenskipiste in Plymouth hatte er manches von dem gelernt, was er für die Teilnahme an dem Wettkampf brauchte. Zwei Disziplinen standen noch aus und morgen fiel die Entscheidung.
Die Schwester bemerkte Max’ Unruhe.
»Vielleicht kann ich helfen«, sagte sie. »Die Straßen sind vereist, also wird der Krankenwagen wahrscheinlich nicht rechtzeitig aus Pau zurückkommen und ihn erst morgen abholen können. Ich denke, wir könnten ihn über Nacht hierbehalten.«
»Das ist eine gute Idee, Max«, sagte Sayid. »Du wirst mich ja wohl nicht die drei Treppen in der Jugendherberge hochtragen wollen.«
»Dein Zimmer liegt oben?«, sagte sie. »Nein, dann bekommst du besser hier bei uns ein Bett. Warte kurz. Ich organisiere das gleich.«
Sie ließ die beiden Jungen allein und ging zu einem Schreibtisch, wo sie zuerst einige Papiere durchsah und dann eine Tabelle studierte.
Sayid lächelte Max zu. Die Betten in der Jugendherberge hatten Lattenroste aus Holz und harte Matratzen und die Duschen fingen meist genau dann an zu stottern, wenn man sich gerade eingeseift hatte. Ein bequemes Krankenhausbett mit persönlicher Bedienung war wie ein Kurzurlaub. Ein kleiner Ausgleich für die Schmerzen.
Max sah aus dem Fenster. Er hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Es war schon spät. Zwischen den Lichtflecken der Straßenlaternen kauerten die durcheinandergewürfelten Häuser des Dorfes in tiefen Schatten. Das ganze sah aus wie ein perfektes Postkartenidyll, aber nur von außen betrachtet. Es hätte ihn viel Mühe gekostet, Sayid durch diese steilen Straßen zu schleppen, ihn mit einer warmen Mahlzeit zu versorgen und ins Bett zu bringen.
»Also gut, Sayid, du Glückspilz. Ich komm dich nach dem Wettkampf in Pau besuchen. Okay?«, sagte Max.
Sayid nickte. Aber als Max sich zum Gehen wandte, hielt er ihn am Arm fest und sah ihn verzweifelt an.
»Was ist?«, fragte Max leise.
Sayid zögerte und schüttelte dann traurig den Kopf. »Max, ich habe Dads Perlenkette verloren.«
»Wo?«
»Als ich durchs Unterholz gerauscht bin.«
Max erinnerte sich, wie Sayid auf der Flucht vor der Lawine den Berg hinabgeschlittert war. Die Kette bedeutete Sayid sehr viel.
Unwillkürlich berührte Max die Edelstahluhr an seinem Handgelenk. Die hatte sein Dad getragen, als er vor zwanzig Jahren den Mount Everest bestiegen hatte. Er hatte sie ihm zum zwölften Geburtstag geschenkt. Für Max. Nichts ist unmöglich. In Liebe, Dad, stand auf der Rückseite eingraviert.
Vor zwei Jahren hatte Max’ Vater im Nahen Osten Sayid und seine Mutter vor Mördern gerettet, aber Sayids Vater war damals erschossen worden. Die Perlenkette – die Misbaha seines Vaters – war, wie Max’ Uhr, eines der wenigen Dinge, die er von seinem Vater noch besaß.
Eine Misbaha, eine Kette mit entweder dreiunddreißig oder neunundneunzig Perlen, half ihrem Besitzer, Stress abzubauen. Man konnte sie zum Beten oder Meditieren verwenden, weshalb sie auch Gebetsketten hießen.
Die Perlen waren zwar nur aus Ebenholz, für Sayid als Erinnerung an seinen toten Vater jedoch beinahe von unschätzbarem Wert.
Max’ Vater hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt, um Sayids Familie zu retten – und was hatte Max getan? Er hatte Sayids Leben mit diesem blöden Wettlauf in Gefahr gebracht. Sicher, Sayid selbst war es gewesen, der sich von der sicheren Piste entfernt hatte, aber Max fühlte sich einfach verantwortlich für ihn. Genau wie sein Dad.
»Nach dem Wettkampf gehe ich die Kette suchen«, sagte Max.
»Nein. Es ist zu gefährlich da oben«, erwiderte Sayid. »Dafür brauchst du nicht dein Leben zu riskieren.«
Schnee und Eis knirschten unter seinen Schuhen, als Max durch die schlecht beleuchteten Straßen zur Jugendherberge am Rand der Stadt ging. Die alten Gemäuer warfen finstere Schatten. Der hoch in den Pyrenäen gelegene Ort hatte die Entwicklung der modernen Welt verschlafen, und die fünfzig Jahre alten Straßenlaternen mochten ja ganz malerisch sein, aber viel Licht spendeten sie nicht.
Er trug sein Snowboard und die Überreste von Sayids Skiern auf der Schulter und sehnte sich nach einer Pizza und einem Becher heißer Schokolade. Der Tag auf dem Berg war anstrengend gewesen, und der Gedanke an den Wettkampf morgen machte ihn nervös. Von all dem abgelenkt, übersah Max den Schatten, der neben ihm über die Straße gehuscht war. Dann aber hörte er ein Ächzen, und als er aufblickte, sah er jemanden von einer niedrigen Mauer hechten. Die Gestalt fing sich an einem parkenden Auto, rollte sich ab und lief mit weiten Sätzen weiter, alles in einer einzigen fließenden Bewegung. Parkour, dachte Max sofort. So nannte man diesen Sport, der von Franzosen erfunden worden war und inzwischen in vielen Städten überall auf der Welt begeisterte Anhänger gefunden hatte. Es ging darum, sich auf einer bestimmten Strecke von nichts aufhalten zu lassen – Häuser, Autos, Brücken und alle möglichen anderen Hindernisse, die vor einem liegen mochten, mussten auf direktem Weg überwunden werden. Die schwarz gekleidete Gestalt verschwand außer Sicht, aber nur für wenige Sekunden. Plötzlich dröhnte das Geknatter von Motorrädern durch die Stille. Ihre Scheinwerfer holten den Läufer aus der Dunkelheit ins gleißende Licht, als sie aus verschiedenen Gassen auf die Straße einbogen. Sekunden später hatten die Biker ihre Maschinen zu einem geschlossenen Kreis formiert. Mit ihren Spikereifen hatten sie guten Halt auf der vereisten Oberfläche und schwenkten hin und her. Der eingekesselte Läufer konnte kaum noch einen Schritt machen, ohne angestoßen zu werden. Die Motorräder schienen miteinander zu wetteifern, wer den größten Krach machen konnte, und die Auspuffgase warfen einen unheimlichen Schleier über die Szene, die sich rasch zu einer brutalen Attacke entwickelte.
Vier der sechs Biker blockierten jeden möglichen Fluchtweg, während die anderen beiden ihre Maschinen aufheulen ließen und den Läufer in die Zange nahmen. Die Schreie des verzweifelten Opfers gingen in dem Lärm unter. Er stürzte, rollte sich ab und entging den Rädern des einen Motorrads nur knapp. Und kaum stand er wieder, wurde er von dem anderen umgestoßen.
Plötzlich erkannte Max, dass diese Leute ihr wehrloses Opfer ernsthaft verletzen oder gar töten wollten. Er reagierte instinktiv. Sein Snowboard kratzte über das Eis, schnell glitt er dahin und hatte schon gut zwanzig Meter hinter sich gebracht. Er musste eine Lücke zwischen den Motorrädern finden und so viele wie möglich von ihnen zu Fall bringen.
Er ging in die Knie, beugte sich nach vorn und wurde noch schneller. Der Läufer lag auf der Straße, außer Atem, vielleicht sogar verletzt, und die Motorräder schickten sich an, ihn zu überfahren.
Max hob Sayids heilen Ski, hielt ihn quer vor sich und sauste zwischen zwei der stehenden Motorräder hindurch. Der Ski ging zu Bruch, als er die beiden nichts ahnenden Biker traf, die zur Seite kippten und die anderen neben sich mit umrissen. Plötzlich herrschte Chaos. Motorräder und Fahrer purzelten übereinander, einige Motoren erstarben und eine Maschine brach unkontrolliert aus. Max’ Blitzüberfall hatte sie alle überrumpelt.
Im Licht der Scheinwerfer erkannte Max, dass die Biker etwa in seinem Alter waren. Einer der Angreifer kam schnell wieder auf die Beine. Noch ein wenig benommen starrte er Max wütend in die Augen. Er mochte zwei Jahre älter sein als er. Max starrte zurück. Der Kopf des Jungen hatte eine ungewöhnliche Form. Wangenknochen und Nase ragten nach vorn, während das Kinn stark zurückwich. Als er keuchend nach Luft rang, waren seine kaputten Zähne zu sehen. Max konnte sich nicht sofort erinnern, wo er so ein Gesicht schon einmal gesehen hatte. Aber dann fiel es ihm plötzlich ein.
Sein Vater hatte ihn einmal zum Tauchen vor Aliwal Shoal in der südafrikanischen Provinz Kwa-Zulu-Natal mitgenommen. Die schlammigen Flüsse, die dort ins Meer fließen, sind ein Paradies für Sambesihaie. Das Riff lag fünf Kilometer vor der Küste, und unter Wasser war gute Sicht, aber als sie nach oben kamen, stieß der örtliche Tauchführer einen Warnruf aus: »Johnny One-Eye! « Denn so nannte man diese Mörderfische da unten.
Und dieser Junge hier erinnerte ihn an jene gefühllosen Wesen mit den kalten Augen. Ein schmaler weißer Strich – eine alte Stichwunde – lief von seinem Ohr bis zum Hals hinunter. Die Narbe bewies, dass er ein draufgängerischer Kämpfer war. Max war größer als die anderen, von diesem Hai einmal abgesehen, aber zahlenmäßig waren sie ihm überlegen. Sie konnten ihn mühelos überwältigen, zu Boden werfen und auf ihn eintreten, bis er sich ergab. Oder noch schlimmer.
Max löste die Bindung seines Snowboards und half dem leicht gebauten Läufer auf die Beine. Zeit, zu gehen. Die schwarze Skimütze hatte der Läufer bei dem Gerangel verloren; lange kastanienbraune Haare fielen ihm ins Gesicht.
Der Läufer war eine Läuferin.
Die leeren Straßen verschwanden hinter den beschlagenen Scheiben des Cafés. Max und das Mädchen aßen Pizza und tranken heiße Schokolade. Ab und zu fuhr draußen knirschend ein Auto vorbei und einmal hörten sie ein Motorrad aufjaulen. Max horchte gespannt, aber es fuhr, ohne anzuhalten, vorbei. Das Mädchen fasste kurz seine Hand – eine Beruhigungsgeste. Max gefiel die Wärme der Berührung, trotzdem zog er seine Hand schnell zurück und aß weiter. Französinnen waren offener als die Mädchen, die er von zu Hause kannte, und schienen keine Scheu zu haben, ihre Gefühle zu zeigen. Max konzentrierte sich auf seine Pizza.
Das Mädchen hieß Sophie Fauvre. Sie war schlank und zart gebaut und konnte ebenso gut vierzehn wie achtzehn Jahre alt sein. Bis vor zwei Jahren hatte sie in Paris gelebt, und Max hatte Recht gehabt, sie machte tatsächlich Parkour – ihr älterer Bruder Adrien hatte sie mit diesem städtischen Sport bekannt gemacht. Aber diese Jungen, die sie eingekesselt hatten – die hatte jemand mit Vorsatz losgeschickt, um sie zu verletzen oder gar zu töten.
»Jemand hat diese Kerle geschickt? Ich meine, woher weißt du, dass das nicht bloß irgendwelche Rüpel waren, die sich austoben wollten?«
»Rüpel?«, fragte sie stirnrunzelnd.
»Äh …« Er suchte nach dem französischen Wort dafür. »Loubards .«
»Nein, nein. Die werden dafür bezahlt, dass sie mich aufhalten sollen. Sicher, das sind noch Kinder, aber sie sind wie wilde Tiere. Die Männer mit dem Geld kaufen ihnen alles, was sie haben wollen, und dafür tun sie, was man ihnen sagt. Wenn mir heute Abend was passiert wäre, hätte die Polizei das einem bösen Zufall zugeschrieben.«
»Und warum sollten diese Leute, die Straßenkinder mit teuren Motorrädern ausrüsten, dir unbedingt Schaden zufügen wollen?«
Sie zögerte. Hatte sie ihm nicht schon genug erzählt? Er war ein gänzlich Unbeteiligter, der sich in Gefahr begeben hatte, um ihr zu helfen.
»Habe ich Essen im Gesicht?«, fragte Max.
»Was?«
»Weil du mich so anstarrst.«
»Entschuldige. Ich habe nachgedacht. Pass auf, du kannst das nicht verstehen. Mein Bruder ist verschwunden. Er hat uns noch aus Oloron-Sainte-Marie angerufen, das ist ein Dorf wenige Kilometer weiter unten im Tal. Und dann war er plötzlich weg. Ich dachte, ich könnte ihn finden. Einige Leute, mit denen ich gesprochen habe, erinnern sich an ihn, aber niemand weiß, wo er steckt. Und jetzt muss ich nach Hause zurück. Vielleicht gibt es da inzwischen Neuigkeiten.«
»Nach Paris?«
»Nein. Nach Marokko.«
»Ah. Habe ich das mit Marokko irgendwie nicht ganz mitbekommen?«
Sie lachte. Er gefiel ihr. Das war nicht so günstig. Das würde ihr nicht gerade helfen, ihre Aufgabe zu beenden. Er hatte so eine Art, sich übers Haar zu streichen und dann mit schüchternem Lächeln den Blick abzuwenden. Und hübsche Augen. Blau oder blaugrau, das konnte sie bei dem Dämmerlicht im Café nicht erkennen.
»Jetzt starrst du mich an«, sagte sie.
Verlegen riss Max sich zusammen und legte einen Finger an seine Lippen.
»Du hast Käse zwischen den Zähnen.«
Und kaum hatte er das gesagt, hätte er vor Scham im Boden versinken mögen.
Er begleitete sie durch die gewundenen Straßen zu ihrem Hotel zurück. Sie hielten sich immer in der Mitte, wo es am hellsten war, und fern von den dunklen Nebengassen. Die kalte Nachtluft drang jetzt sogar durch seine dick gefütterte Jacke.
Die Kälte tat weh, aber er achtete nicht darauf, sondern konzentrierte sich ausschließlich auf irgendwelche verdächtigen Bewegungen in den Schatten. Die Angst hielt den Kreislauf in Schwung und wärmte besser als jede Jacke.
Sophie erzählte ihm, ihr Vater habe früher den Cirque de Paris geleitet, sich aber mit der Zeit immer intensiver für den Tierschutz engagiert. Als ihre marokkanische Mutter vor ein paar Jahren erkrankte, war die Familie in ihre Heimat zurückgekehrt und nach ihrem Tod hatte ihr Vater dort eine Organisation zum Schutz gefährdeter Arten gegründet. Wie andere Tierschützer, die gegen den illegalen Handel mit Tieren kämpften, wurde auch er häufig bedroht und tätlich angegriffen. Die Händler verdienten sehr viel Geld. Leute wie ihr Vater waren schlecht fürs Geschäft.
»Mein Bruder Adrien fand heraus, dass eine der Routen durch Spanien und über die Pyrenäen führte. Seit es keine Zollposten mehr gibt, fahren täglich Tausende Lastwagen von den südspanischen Häfen aus durchs Land.«
»Und dein Bruder hat dann ein illegal exportiertes Tier entdeckt?«
Sie nickte und blies in ihre Hände, um sie zu wärmen. Dabei krümmte sie frierend den Rücken. Max fragte sich eine Nanosekunde lang, ob er ihr einen Arm um die Schultern legen sollte.
»Es ging um einen vom Aussterben bedrohten südamerikanischen Bären, der aus Venezuela über Spanien nach Frankreich gebracht wurde«, sagte sie. »Für solche Tiere werden von den Käufern enorme Summen bezahlt.«
»Aber warum? Haben diese Leute private Zoos?«
Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht begriff Max Gordon wirklich nicht, wie grausam die Welt jenseits seiner Snowboard-Träume war.
»Trophäensammler. Sie töten die Tiere. Erschießen sie. Und eines Tages wird einer dieser Killer der glücklichste Jäger von allen sein, wenn er sagen kann, dass er das allerletzte Exemplar seiner Art getötet hat.«
Sie erreichten das kleine Hotel, in dem sie ein Zimmer hatte. Hinter ihnen kroch langsam ein Auto die Straße entlang; der Auspuff brummte, die Spikereifen knirschten über Schnee und Eis. Max zog Sophie in den Schatten des Gebäudes. Es war ein schwarzer Audi A6 Quattro – starker Motor, Vierradantrieb, schnell, wendig und teuer. An der Kreuzung hielt der Wagen an. Ein getöntes Fenster surrte auf. Zwei Männer saßen in dem Auto: der Fahrer und ein Begleiter. Sie trugen schwarze Lederjacken über schwarzen Rollkragenpullovern. Große, starke Männer. Dunkle, kurz geschorene Haare, Dreitagebart – Designerstoppel oder Schlägertypen? Max vermutete das Letztere. Sie starrten mit kalten Augen durch ihn hindurch.
Das Fenster glitt wieder zu und das Auto fuhr langsam weiter. Vielleicht waren es bloß Touristen, die so spät am Abend ihr Hotel suchten, aber sie hatten keine Skiträger auf dem Dach und sahen auch nicht so aus, als stünden sie auf Schneeballschlachten.
»Kennst du diese Männer?«, fragte er.
»Nein. Die habe ich noch nie gesehen.«
»Hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten«, sagte Max lächelnd, um sie zu beruhigen, obwohl sein sechster Sinn ihm deutlich Gefahr signalisierte.
Nach dem dritten Klingeln kam der Nachtportier endlich angeschlurft.
»Wenn du willst, bestell ich dir noch was Heißes zu trinken, bevor du gehst«, sagte sie.
»Nein danke. Ich muss zurück. Wichtiger Tag morgen.« »Ja, klar. Ich wünsch dir viel Glück.«
Der blasse Portier wartete schweigend.
Sie senkte die Stimme. »Danke, Max. Falls meine Familie einmal irgendetwas für dich tun kann, wird es meinem Vater eine Ehre sein.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihm eine Hand auf die Schulter und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Max drehte vorsichtig den Kopf ihren Lippen entgegen und ließ vor Nervosität das Snowboard fallen. Siedend heiß stieg ihm das Blut ins Gesicht.
Der Portier beobachtete ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Langeweile.
Sie trat durch die Tür. Fragte noch einmal lächelnd: »Du willst wirklich nicht noch etwas trinken?«
»Nein. Ehrlich. Danke. Ich … ich muss noch bügeln«, murmelte er.
Sie nickte schweigend, drehte sich um und ging in den schlecht beleuchteten Empfangsbereich, während der Portier ihm nun mit unverhohlener Verachtung die Tür vor der Nase zumachte und abschloss.
Käse zwischen den Zähnen. Bügeln. Was für ein Reinfall!
Er musste tatsächlich noch bügeln, aber das hatte nichts mit seiner Kleidung zu tun.
Das Snowboard lag quer auf den Holzrahmen der beiden Einzelbetten in dem Jugendherbergszimmer, das er mit Sayid teilte. Die Matratzen hatte Max herausgehoben und zur Seite gelegt. Unter dem Board hatte er ein Handtuch und eine Zeitung ausgebreitet, und jetzt hielt er ein Stück Wachs an die Spitze eines heißen Bügeleisens und ließ die schmelzenden Tropfen auf das Board fallen, das vorhin auf der Straße schlimme Kratzer abbekommen hatte.
Die Hitze öffnete die Poren des Holzes und ließ das flüssige Wachs eindringen. Als es zwanzig Minuten später abgekühlt war, schabte er das überschüssige Wachs ab und polierte die Oberfläche mit der Rückseite eines Topfreinigers.
Seine Ausrüstung war bereit. Jetzt musste er sich bloß morgen Früh beim Wildwasserkajak-Rennen einen Platz unter den ersten drei sichern, dann konnte er beim Finale im Freestyle-Snowboard antreten.
Er kontrollierte den Wecker.
Nur noch drei Stunden.
Max sank angezogen auf die Matratze am Boden. Er zog die Bettdecke über sich und schlief sofort ein.
Und dann – zwei Minuten später, so kam es ihm zumindest vor – riss ihn das Rasseln des Weckers wieder aus dem Schlaf.