23

Fedir Tischenko massierte Aloe-vera-Creme in seine schuppige Haut ein.

Bergsteiger verwendeten Feuchtigkeitscreme, weil ihnen der Wind in großer Höhe die Gesichtshaut ausdorrte, aber für Tischenko war dies zum täglichen Ritual geworden, seit der Blitzgott ihn getroffen hatte. Kleine Partikel abgestorbener Haut lösten sich unter seinen Fingernägeln, und sein haarloser Körper glich dem eines Reptils.

War es das grausame Werk der Natur, die Ungeheuer schuf? Tischenko war das egal. Die Gesellschaft hatte die meisten der Leute, die für ihn arbeiteten, ausgestoßen. Entweder aus Dank oder aus Angst taten sie alles, was er von ihnen verlangte. Loyalität konnte man sich kaufen. Die Kerngruppe der Wissenschaftler aber bildeten Ausgestoßene wie er. Manche hatten eine körperliche Behinderung, andere hatten wegen ihres Geisteszustands eine lieblose, fast grausame Behandlung erdulden müssen. Jeder steckte in seiner ganz persönlichen Hölle der Einsamkeit, doch alle hatten ein besseres, gerechteres Leben gewollt und in Fedir Tischenko einen mächtigen Verteidiger gefunden. Als Einziger von ihnen besaß er genug Geld, den unstillbaren Wunsch nach Unsterblichkeit zu befriedigen. Er bot ihnen die Chance, es einer lieblosen Welt heimzuzahlen. Fedir Tischenko wollte sich die furchterregende Kraft des Universums in einem alles erschütternden Augenblick mit Licht und Feuer zunutze machen, und das mit einer Wucht, wie es sie seit der Entstehung der Welt nicht mehr gegeben hatte.

Dieser stille Wahnsinn hatte ihn schon vor Jahren erfasst und war immer tiefer in seine Psyche eingedrungen, bis er für ihn zur Normalität geworden war. Tischenko wollte eine neue Lebensform schaffen, und wenn man das erreichen wollte, musste man eben damit rechnen, dass viele andere sterben mussten. Er war kein wild herumtobender Verrückter mit hassverzerrtem Gesicht, der bösartige Genozide begehen wollte – nein, er sah sich als Erwählten.

Soweit es denen bekannt war, die nicht zu seinen engsten Mitarbeitern zählten, investierte Fedir Tischenko alles, was er besaß, in die Erforschung einer alternativen Energiequelle, die die geschundene Welt dringend benötigte. Jetzt stand Angelo Farentino in aller Ahnungslosigkeit vor ihm im Zimmer und erzählte ihm von der gewaltigen Katastrophe, die über große Teile Europas hereinbrechen konnte, wenn er sein Projekt weiter betrieb. Aber das konnte Tischenko nicht beeindrucken.

»Der Zusammenhang zwischen Max Gordon und Zabala ist also reiner Zufall?«, fragte er und kratzte sich Haut vom Wangenknochen.

»Ja! « Kapierte dieser Wahnsinnige denn nicht, was er eigentlich herausgefunden hatte? Das Unglück, das über sie kommen würde, wäre von Tischenko selbst herbeigeführt! Dieser Idiot würde sie alle umbringen!

Tischenko nickte. Weder der Vater dieses Jungen noch seine Wissenschaftler-Freunde bei den Umweltagenturen hatten etwas damit zu tun. Gut. Dass der Junge da war – reiner Zufall, aber er hatte Informationen, die Tischenko brauchte. Das Schicksal hatte Max Gordon auf das Gleis gestellt, auf dem ein kosmischer Zug rollte, und er würde sterben. Bis jetzt hatte sich der Junge allerdings nicht aufhalten lassen. Er hatte einen Lawinenabgang überlebt, war Tischenkos Jägern und der Polizei entwischt und hatte auch den Anschlag in d’Abbadies Château heil überstanden. Er war mit Zabalas Geheimnis geflohen und lebendig aus den engen Gassen von Marrakesch herausgekommen. Von dem Angriff auf das Tierheim in der Wüste hatte er bis jetzt noch nichts gehört, also war wohl auch diese Operation gescheitert. Vielleicht besaß dieser Max Gordon Zauberkräfte oder er wurde von einer übernatürlichen Macht beschützt.

Doch das spielte keine Rolle – nur er allein, Tischenko, war der Erwählte.

»Als ich ein Teenager war«, sagte Tischenko und schenkte sich ein großes Glas Gebirgswasser ein, »bin ich auf Reisen durch Kraminsk gekommen, eine Kleinstadt, in der zwei Brücken über den Fluss führen. Ich und meine Männer, meine Vucari, sind über die zweite Brücke gefahren, die praktisch menschenleer war. Plötzlich, Angelo, habe ich Rufe und Schreie gehört. Ein kleines Kind war stromaufwärts von der Brücke ins Wasser gefallen. Es war ein reißender Strom und das Mädchen war hilflos den Fluten ausgeliefert. Ich habe vor nichts Angst, und so bin ich einfach ins Wasser gesprungen und habe das Kind gerettet.«

Farentino schwieg. Tischenko war anscheinend sehr daran gelegen, dass er verstanden wurde.

»Ich ziehe die Kleine heraus. Und sie lebt noch. Ich komme wieder auf die Brücke zurück und die Leute jubeln vor Freude über diese Heldentat. Mir ging es dabei nicht um mein Ansehen, ich wollte keinen Beifall. Ich wollte bloß dieses unschuldige Kind retten. Aber als ich mich dann den Leuten näherte, sahen sie, wie ich aussehe. Da verwandelte sich ihr Lächeln in Abscheu, dann in Hass und in Angst. Aus dem Helden war ein Monster geworden. Es ist eine grausame Welt, Angelo, finden Sie nicht?«

Farentino nickte. Tischenkos Frage bedurfte keiner Antwort.

»Ich hab das Kind von der Brücke wieder ins Wasser geworfen, und es ist ertrunken.«

»Was?«, flüsterte Farentino.

»Vorurteile haben die Kleine umgebracht. Nicht ich.«

»Sie haben nicht verstanden, was ich Ihnen gesagt habe. Hier geht es nicht um ein sterbendes Kind, sondern um eine Erschütterung, die ein riesiges Loch in die Erdoberfläche reißen wird. Da werden Tausende umkommen. Wir auch.«

Tischenko drückte auf seine Fernbedienung und auf dem Bildschirm erschien eine dreidimensionale Ansicht der Gebirgszüge, die sie umgaben. Ein Gewirr von Linien teilte das Bild und drei besonders hervorgehobene Gitternetze verliefen vom unteren Rand aufwärts – wie die abgerissenen Ecken eines Blatt Papiers – durch Gletscher, Städte, den Genfer See und die Mitte Europas.

Der Strich, der Tischenkos Mund war, verzog sich zur Karikatur eines Lächelns.

»Nicht Tausende, Hunderttausende werden umkommen. Und in vierundzwanzig Stunden wird die Zerstörung beginnen. Eine neue Welt wird geschaffen.«

Farentino wurde mit einem Mal speiübel. Diesen Wahnsinnigen konnte niemand aufhalten.

Tischenko nickte jemandem zu, der hinter Farentino stand. Noch bevor sich Farentino umdrehen konnte, packten ihn zwei von Tischenkos Wachleuten so fest an den Armen, dass der Schmerz bis in seine Schultern hinaufschoss.

»Du wirst kein Teil unserer neuen Schöpfung sein, Angelo.

Du hast nichts zu ihr beizutragen. Dein Genpool ist so leer wie mein Glas«, sagte Tischenko und drehte sein Glas um.

»Es wird schon jemand dahinterkommen, was du hier treibst! Da draußen ist jemand, der kriegt es raus!«, schrie Farentino, und im selben Moment warfen ihn die Männer mit den starken Armen die Treppe hinunter. Der Italiener landete unsanft, zerschlug sich bei dem Aufprall das Gesicht, seine Rippen brannten vor Schmerz. Er hörte nicht, was Tischenko ihm zuletzt noch nachrief.

»Das spielt keine Rolle mehr. Niemand kann uns jetzt noch aufhalten. Es hat praktisch schon angefangen.«

 

Abdullahs Männer pumpten Diesel aus einem Tankwagen in einen alten Pick-up.

Fauvre hatte Abdullah dazu gebracht, seine Kontakte anzuzapfen und für Max ein Flugticket von Marokko in die Schweiz zu besorgen. An den französischen Flughäfen stand Max möglicherweise schon auf der Fahndungsliste.

Abdullahs Landrover war unweit der Küste aufgefunden worden. Sophie hatte das Tragflügelboot nach Spanien genommen und war von dort mit einem Schnellzug durch Europa weitergefahren. Sie hatte zwölf Stunden Vorsprung, aber Max konnte vor ihr dort sein. Und was dann? Fauvre hatte ihm einen mit Geld gefüllten Briefumschlag in die Hand gedrückt.

»Du sagst ihr, falls sie Geld will, kann sie es haben. Du sagst ihr, der Anhänger sei wertlos. Du sagst ihr das alles, ja?«

Max nickte. Er glaubte nicht, dass es Sophie nur ums Geld ging, aber vielleicht ließ sie sich ja doch kaufen und dazu bewegen, sich von Peaches und ihresgleichen fernzuhalten.

»Ich bin nicht verantwortlich für Sophie«, sagte er. »Sie ist diejenige, die in etwas hineingeraten ist. Ich muss sehen, dass ich einen Weg finde, wie ich diesen Tischenko aufhalten kann.«

»Bei CERN gibt es Leute, mit denen ich sprechen kann. Ich werde versuchen, sie zu überzeugen, dass sie alle Experimente und Forschungsarbeiten wenigstens für achtundvierzig Stunden unterbrechen. In unserer heutigen Zeit – wenn ich die vor einem möglichen Terroranschlag warne, machen sie gleich die ganze Schweiz dicht. Max, ich möchte nicht, dass meine Tochter den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringt. Wenn die Behörden sie festnehmen, werde ich ihr nicht mehr helfen können.«

»Und was ist mit mir?«, sagte Max.

»Du kannst hier nichts aufhalten. Das schaffst du einfach nicht. Sieh es ein. Gib Sophie das Geld und dann stell dich den Behörden. Ich werde für dich aussagen. Dann werden sie dir vielleicht glauben und die ganze Region gründlich durchsuchen. Überlass das den Profis, Max. Wir haben keine Zeit mehr.«

Max packte seine Sachen und zog sich um. Er flog von der Wüste in den Schnee. Wenn er aus dem Flugzeug ausstieg, war er wieder im Winter. Er war reisefertig. Jetzt musste er sich bloß noch verabschieden.

Max stand vor Aladfar. Der Tiger lag schlafend in seinem Käfig. Sein buschiges Ohr zuckte, sein Schwanz klopfte auf den Boden. Träumte er oder erkannte er ihn instinktiv wieder?, fragte sich Max.

Aladfar erwachte und richtete seinen Blick gemächlich auf Max, der reglos dicht vor den Gitterstäben stand. Vorsichtig wich der Tiger zurück. Menschen waren unberechenbar, aber diesen hier kannte er, und er spürte auch die seltsamen Schwingungen, die zwischen ihnen hin- und hergingen. Angst zeigte der Junge nicht. Der Tiger dachte an die vorige Nacht zurück. Es hatte gutgetan, wieder in Freiheit zu sein. Aber er hatte sich von diesem Jungen Befehle geben lassen. Das verwirrte ihn.

Aladfar setzte zum Sprung an, die Zähne gebleckt, der mächtige Kopf von einer gestreiften Krause umgeben, die sich beim Angriff aufstellte. Er stieß ein fauchendes Knurren aus, um sich diesem Jungen gegenüber zu behaupten, der die Gitterstäbe mit beiden Händen umfasst hielt und sich nichts anmerken ließ. Aladfar ließ den Kopf sinken und sah ihn mit seinen bernsteingelben Augen wachsam an.

Der Junge schob die Hände zwischen den Stäben durch, erst eine, dann die andere. Er sprach leise und beruhigend auf den Tiger ein und senkte dabei langsam die Lider. Der Tiger hörte ein Wort, das er verstand: »Aladfar, Aladfar.«

Er kam näher heran, beschnupperte die Hände, die sich vor ihm öffneten, und ließ zu, dass der Junge die Finger in das dichte Fell an seinem Hals grub.

»Aladfar, du bist herrlich. Das schönste Tier, das ich je gesehen habe«, sagte Max sanft – fast überwältigt vor Respekt. Er roch die Hitze des Tiers, fühlte die dicke Fellschicht, die den darunterliegenden kräftigen Muskel bedeckte. »Eines Tages komme ich wieder und besuche dich. Ich vergesse dich nicht. Niemals.«

Es war heiß. Aladfar keuchte. Er schnupperte und leckte die Hand des Jungen, während der ihm das Gesicht streichelte.

Max riss sich los. Fauvre und Abdullah warteten am Auto auf ihn. Max gab Fauvre die Hand – sie hatten sich alles Nötige bereits gesagt – und stieg in das drückend heiße Taxi.

Als der Wagen wendete, sah er noch einmal zu dem Tiger zurück.

Aladfar stand hoch aufgerichtet da, sein Körper warf einen riesigen Schatten. Seine Augen folgten Max, sahen zu, wie der Junge sich seine Freiheit nahm. Und dann stieß der Tiger ein Gebrüll aus, das rings von den Mauern der Siedlung widerhallte.

 

Angst durchfuhr Sayids zitternden Körper. Der alte Bus hatte zu kämpfen. Hoffentlich ließen die ihn jetzt nicht irgendwo stehen, das konnte er überhaupt nicht gebrauchen! Er hatte die Zahlen bestimmt ein Dutzend Mal auf das Surfbrett gekritzelt und wieder durchgestrichen und das Codewort immer noch nicht gefunden, das er brauchte, um das Zahlenquadrat zu lösen.

Eines hatte ihm die Fahrt bis jetzt wenigstens gebracht – Zeit. Zeit, in der er sich an Max’ Spionspiel erinnerte. Wenn man das Schlüsselwort erst einmal hatte, war es leicht. Leg die Buchstaben in dieselben Kästchen wie die Zahlen, nimm keine Buchstaben zweimal, benutz die Zahlen, die Max auf dem Kristall gefunden hatte – und des Rätsels Lösung war da.

Leicht.

Wenn er bloß die Buchstaben des Schlüsselworts hätte! Sayid hatte schon alle Wörter durchprobiert, die ihm bei seinem Dilemma einfielen: Hai, Château, Biarritz, Atlantik, Surfen, Äthiopien, Zabala, bedrohte Arten, Marokko – dabei musste er an Max denken. Wenn Max bloß hier bei ihm im Auto wäre! Nein, besser nicht. Ihm wäre es lieber, wenn Max und er frei wären oder wieder zu Hause. Doch je länger er daran dachte, desto mehr verflüchtigte sich sein Mut.

Der Bus hielt an. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter. Peaches und der Hai tauchten auf. Beide schauten an den vorn sitzenden Männern vorbei nach hinten zu Sayid. Er drehte das Gesicht weg, tat so, als ob er schliefe.

»Ihr fahrt weiter«, sagte der Hai, der wie immer Spucke auf den Lippen hatte. »Peaches bliebt hier, die Vans folgen euch. Wir warten hier mit den Motorrädern. Das Mädchen kommt. Bringt den Jungen dort rauf.«

Ein kalter Windstoß wehte Schneeflocken ins Auto. Das Fenster ging wieder hoch, der Hai klopfte von außen aufs Blech und der Motor wurde wieder angelassen.

Das Mädchen? Damit war Sophie gemeint. Ob sie Max mitbrachte? Wie konnte Sayid ihn warnen, dass er in eine Falle lief? Gar nicht. Noch nicht. Aber vielleicht, wenn er »dort rauf« gekommen war – aber was sollte das sein? Ein Gebäude? Ein Berg? Egal, jedenfalls war das vielleicht eine Gelegenheit, an ein Telefon zu kommen. Dass Max wegen Mordes gesucht wurde, war völlig unwichtig; jetzt musste die Polizei ihn finden, damit ein Mord verhindert werden konnte.

Es war, als spielte man mit dem Teufel Fangen. Wenn er dich kriegt, bist du erledigt.

 

Und das war die Antwort, die Sayid gesucht hatte. Versuch deinen Kopf freizubekommen, denk an etwas anderes, und schon hast du die Lösung. Der Teufel! Luzifer. Nein: Lucifer, mit C, schließlich hatte ein Franzose das Codewort erfunden.

 

Wieder waren zwei Stunden rum. Im niedrigen Gang ging es jetzt ins Gebirge hinauf. Das Quietschen von Gummi auf der Windschutzscheibe begleitete die weitere Fahrt, während die Wischerblätter gegen den Schneesturm ankämpften. Die Männer rauchten und fluchten. Sayid war schlecht vom Zigarettenqualm und der verbrauchten Luft. Die Windschutzscheibe fing an zu beschlagen, sodass die Männer das Fenster einen Spalt öffnen mussten – Gott sei Dank! Durch die frische Luft bekam Sayid wieder einen klaren Kopf. Er hatte das Zahlenquadrat noch einmal neu geschrieben und erinnerte sich inzwischen auch genau an das, was Max ihm übers Codeknacken erzählt hatte. Er musste jeweils einen Buchstaben des Codes und eine Zahl in einem Kästchen haben, durfte aber keinen Buchstaben zweimal verwenden.

Wenn man die Buchstaben verwendet hatte, musste man im Alphabet weiterrücken. Das hieß, sobald das Wort Lucifer neben den Zahlen eingetragen war, musste er mit S, T, U, V und so fort weitermachen. Das Alphabet hatte sechsundzwanzig Buchstaben, und er hatte ein Quadrat aus fünfundzwanzig Zahlen, das war das Problem. Zwei Buchstaben mussten sich also eine Zahl teilen, und falls die Geschichte von Max stimmte, nahmen die Code-Entwickler im Zweiten Weltkrieg dafür das I und das J.

Saiyd schrieb das Schlüsselwort L-U-C-I-F-E-R unter die Zahlen:

 

11 24 7 20 3

L U C I’J F

 

4 12 25 8 16

E R S T U

 

Nein, das U war verkehrt. Einen bereits vorhandenen Buchstaben durfte man nicht noch einmal verwenden. Er strich ihn aus und schrieb die Zeile noch einmal.

 

4 12 25 8 16

E R S T V

 

17 5 13 21 9

W X Y Z A

 

10 18 1 14 22

B D G H K

 

23 6 19 2 15

M N O P Q

 

Der Fahrer schaltete einen Gang runter. Der Motor fing an zu stottern und gab schließlich seinen Geist auf. Einer der Männer fluchte und hieb mit der Faust aufs Armaturenbrett. »Oh, Mann! Wir sind fast da! So ein Mist!«

Die Männer stießen die Türen auf und traten in den wirbelnden Schnee hinaus. Sie unterhielten sich in gedämpftem Ton, aber es klang so, als hätten sie genug von der Fahrerei. Sayid hörte die anderen Vans herankommen. Reifen knirschten, Türen wurden geöffnet und wieder zugeschlagen. Der Schauder, der durch seinen Körper lief, rührte nicht von der Hochgebirgsluft. Wenn der Wagen nun wirklich endgültig liegen geblieben war, würden sie ihn in eins der anderen Autos verfrachten – und dann konnte er das magische Quadrat vergessen.

Sayid schob sich auf dem Boden nach vorn zur Fahrerkabine und griff nach einer der Wasserflaschen, die die Männer zwischen die Sitze geklemmt hatten. Die Zeit lief ihm davon. Er musste das Risiko eingehen. Bobbys Kleinbus hatte hinten keine Fenster, deshalb sah er die Männer nicht mehr, sondern hörte nur ihre Stimmen. Jetzt noch mehr Stimmen, einige davon laut. Jemand stöhnte: »Ich zieh den Bus nicht da rauf. Über den Pass schaffen wir es sowieso nicht. Lassen wir es bleiben!«

Sayid schüttete sich Wasser über den Schuh und rieb den zusammengebackenen Dreck und Schneematsch weg. Die Zahlen, die Max ihm vom Kristall vorgelesen hatte, wurden sichtbar. Wenn Sayid sie der Reihe nach mit denen im Quadrat verglich, konnte er die zugehörigen Buchstaben ermitteln. Er war ein Dutzend Buchstaben von der Entdeckung von Zabalas Geheimnis entfernt. Die erste Zahl von dem Anhänger lautete 7 – da stand das C im Quadrat, sah Sayid; unter der nächsten, der 24, stand das U …

Sayids Augen flogen über das Quadrat. Die Stimmen kamen näher – er kritzelte schneller. Falls die ihn nachher, wenn sie angekommen waren, durchsuchten, musste er dafür sorgen, dass sie den entzifferten Code nicht fanden. Und wenn er einen Weg fand, Max mitzuteilen, dass er das Rätsel gelöst hatte … Konzentrier dich! Zahl, Buchstabe, Zahl …

Er musste etwas tun! Falls dieser Bus je gefunden wurde, musste klar sein, dass er noch lebte. Sayid zog die Misbaha aus seiner Hosentasche und hängte sie über die Schwanzflosse des Surfbretts.

Einer der Gangster zerrte die hintere Tür auf. Der funkelnde Schnee um ihn herum erschwerte es ihm, im Halbdunkel des Wageninnern etwas zu erkennen. Sayid schob sich den Stift in den Ärmel.

»Raus mit dir, Junge!«, rief der Mann. »Na los, Beeilung!«

Als er sich hereinbeugte, um ihn herauszuziehen, holte Sayid mit seinem Gips aus, als strenge er sich an, dem brutalen Kommando zu gehorchen. Dabei kickte er das Surfbrett aus der Halterung, sodass es flach auf dem Boden des Innenraums landete. Egal, was jetzt auch passierte, wenigstens konnte keiner dieser Kerle sehen, was er auf dem Brett notiert hatte.

Die Männer nahmen keine Rücksicht auf den in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkten Jungen. Jemand schubste ihn und er geriet ins Stolpern, doch nach einem Dutzend Schritte, die er gezerrt und durch den Schnee getreten wurde, wurde Sayid auch schon in den Laderaum des nächsten Vans bugsiert. Dort roch es nach Öl und Schmierfett. Nach Motorrädern. Die Rinnen im Boden riefen Sayid in Erinnerung, dass die Gangster in jedem Auto drei Motorräder mithatten und dass sie mit ihren Maschinen jetzt in Genf waren. Wo sie auf Sophie warteten.

Die Türen wurden zugeschlagen.

Sayid notierte sich die beiden letzten Buchstaben.

Die Botschaft. Sie ergab keinen Sinn.

 

Max hatte die Festungsstadt mit Abdullah am Steuer eines alten Pick-ups verlassen. Vor ihnen erstreckte sich eine staubige Straße bis zum Horizont.

Der Pick-up war nicht so luxuriös wie Abdullahs Landrover, und Max wurde auf den tiefen Furchen der Straße tüchtig durchgeschüttelt. Abdullah sprach lange Zeit kein Wort, doch schließlich sah er zur Seite und sagte:

»Die Männer, die uns überfallen haben, das waren Tuareg.« »Ja, Laurent hat’s mir gesagt«, sagte Max.

»Sagt dir das was?«

Max schüttelte den Kopf. »Viel weiß ich nicht. Nur, dass sie Wüstenkrieger sind.«

Abdullah nickte. »Bei denen tragen die Männer einen Schleier. Sie glauben, böse Geister könnten durch Nase und Mund in ihren Körper eindringen. Die Frauen tragen keinen Schleier. Die Tuareg-Frauen sind anders als andere Araberinnen. Sie beherrschen die Kampfkunst. Von Kindheit an bringt man ihnen das Ringen bei. Sie sind stark. Starke Frauen. So etwas gefällt nicht vielen Männern – nur den Tuareg. Die Frauen sind etwas Besonderes und sie dürfen sich die Männer aussuchen. Verstehst du? Sie suchen sie sich aus. Und die Männer akzeptieren die Wahl der Frauen.«

Abdullah verstummte wieder und wartete, als rechne er damit, dass Max von allein darauf kam, warum er ihm das alles erzählte.

»Verstehe«, sagte Max, obwohl er keine Ahnung hatte, warum Abdullah ihm Unterricht in Stammeskultur gab.

Abdullah zuckte mit den Achseln. Er musste wohl noch deutlicher werden.

»Sophies Mutter war eine Tuareg.«

Jetzt besaß Abdullah Max’ ungeteilte Aufmerksamkeit. Das Bild, wie Sophie in Marrakesch den Mann niedergerungen hatte, bekam plötzlich eine ganz neue Bedeutung für ihn.

Der Alte zuckte schon wieder mit den Achseln. Ob der Junge es jetzt endlich kapiert hatte?

»Der Überfall gestern Nacht war wegen Sophies Mutter?«, fragte Max verunsichert.

»Nein! Damit hat das nichts zu tun! Du hörst mir nicht zu.«

Max seufzte. Er hatte geglaubt, er hätte ganz genau aufgepasst. »Entschuldigung, Abdullah, was genau versuchen Sie mir zu sagen?«

Der Pick-up polterte über eine Furche, dass Max alle Knochen im Leib spürte. Abdullah ließ die Gänge krachen, fand eine leichtere Spur und lenkte den Wagen heraus.

»Sie ist eine Tuareg. Sie hat sich einen Mann genommen, der nicht verkrüppelt ist.«

»Das ist grausam«, sagte Max, der gut nachvollziehen konnte, wie lieblos es war, so verlassen zu werden.

»Es war ihre Entscheidung. Nichts zu machen. Laurent ist Franzose, danach war sein Stolz genauso gebrochen wie sein Rücken. Sophie konnte es auch nicht akzeptieren. Laurent hat versucht, dem Mädchen alle Liebe zu geben, die er noch hatte, aber sie ist eben auch anders. Seine Tochter hat auch Tuareg-Blut in den Adern, oder was meinst du?«

»Glaub schon, doch. Ja.«

»Hast du jetzt verstanden?«

»Ähm … nein, eigentlich nicht.« Max lächelte hilflos. Worauf wollte Abdullah nur hinaus?

Abdullah schüttelte den Kopf. Der Junge kapierte es einfach nicht. »Sophie will für dich kämpfen. Sie hat sich für dich entschieden.«

 

Laurent Fauvre dachte an seine Tochter, als er Max und Abdullah wegfahren sah. Geheimnisse wurden enthüllt, und womöglich schon bald würden Furcht einflößende Kräfte entfesselt. Glaubte er selber an Zabalas Vorhersagen? Er war sich nicht sicher. Aber seine Tochter war ein Teil dieses Wahnsinns. Und Max Gordon? Wie viel bedeutete ihm dieser Junge?

Die Telefonnummer, die er jetzt wählte, wusste er auswendig. Der Mann ging ran.

»Oui?«

»Wo bist du?«, fragte Fauvre.

»Marseilles.«

»Fahr nach Genf. Meine Tochter kommt in ein paar Stunden dort an, am Bahnhof. Max Gordon ist auch unterwegs, mit dem Flugzeug.«

»Wir fahren sofort los«, sagte Corentin.