18

Angelo Farentino hatte einmal gewusst, was Mut ist. Mut war für ihn so selbstverständlich gewesen wie seine teuren Anzüge. Viele Jahre lang hatte er Menschen verteidigt und beschützt, die die ganze Welt bereisten und über Machenschaften berichteten, die eine Gefahr für die Umwelt darstellten.

Und dann war er eines Nachts aufgewacht – voller Angst. Er konnte die Demütigungen und Drohungen dieser Zerstörer nicht mehr ertragen. Und dann kam die Erkenntnis, wie er überleben konnte, in Sicherheit und Wohlstand – er brauchte nur die zu verraten, die ihm bedingungslos vertrauten.

Wie bei einer schleichenden Krankheit war die Saat des Verrats schon vor Monaten, vielleicht vor Jahren aufgegangen. Der Auslöser war, wie er später begriff, Schmerz gewesen, nagende Eifersucht. Dass ihm etwas versagt blieb, das er nicht haben konnte. Eine Frau. Sein Zorn hatte ihm, wie ein klauenbesetztes Ungeheuer, etwas aus dem Herzen gerissen. Und ihn dadurch geschwächt.

Zu seinem Mut hatte er nie zurückgefunden, aber sein Überlebenswille war intakt. Deswegen hatte er sich mit Tischenko gestritten. Nicht direkt gestritten, genau genommen hatte er ihn angefleht. Denn was Tischenko von Farentino verlangte, konnte ihn das Leben kosten.

»Sie wollen, dass ich nach England fahre und mit Tom Gordon spreche?«

Tischenko hatte keine Lippen, die hatte ihm in seiner Kindheit ein Blitz weggebrannt, doch die Öffnung, die sein Mund war, weitete sich zu einem Grinsen. »Wir wissen, wo er ist. Und sein Geist ist so zerbrechlich wie ein Drachen bei Sturm, das wissen wir auch.«

Farentino nippte an dem Drink, den Tischenko ihm in die Hand gedrückt hatte. Trinkend zuzuhören erlaubte es ihm, den Blick so oft wie möglich abzuwenden. Für einen Menschen, der die Kunst und die Schönheit so sehr verehrte wie er, war Tischenkos groteskes Äußeres eine Beleidigung fürs Auge.

Tischenko nahm sein Getränk durch einen Strohhalm zu sich. »Seinen Sohn, diesen Max, kennst du ja. Der ist in eine ziemlich große Sache hineingeraten. Er ist meinen Leuten entwischt und hat Informationen gesammelt, die mir schaden könnten, wenn jemand genug Grips und Wissen hätte, sich die mal genauer anzusehen«, sagte er ruhig.

Farentino hatte Tom Gordon in Afrika töten lassen wollen, und schon bei diesem Anschlagsversuch war ihm Max in die Quere gekommen. Er kannte den Jungen ganz genau. Er wusste, wie verdammt eigensinnig der sein konnte.

»Wieso hat denn Max Gordon überhaupt damit zu tun?«, fragte er jetzt.

»Ich bin mir nicht sicher, ob er bloß zufällig über die Information gestolpert ist, die ich brauche, oder ob sein Vater etwas damit zu tun hat.«

»Tom Gordon würde seinen Sohn niemals absichtlich einer Gefahr aussetzen. Das ist lächerlich«, protestierte Farentino.

»Es hat aber Kontakte zwischen Vater und Sohn gegeben. Wenn Tom Gordon etwas über meine Pläne weiß, könnte er mir Schwierigkeiten machen. Er könnte alles vereiteln. Ich lasse mir aber bei meinem Vorhaben weder von einem Teenager noch von einem Mann, der den Verstand verloren hat, einen Strich durch die Rechnung machen.«

»Und ich soll bei Tom Gordon reinmarschieren und ihn fragen, ob er etwas damit zu tun hat? Der würde mich umbringen. Auf der Stelle. Der würde mich glatt töten!«

Tischenko sah zu, wie hinter den Alpen die Sonne aufging. Der feurige Ball schleuderte Lichtspeere zwischen den schroffen Bergspitzen hindurch. Dieser Feuerball schenkte Leben, doch er würde bis zur Bedeutungslosigkeit verblassen, wenn er, Tischenko, mit seinen Plänen Erfolg hatte.

»Tom Gordon weiß die meiste Zeit nicht einmal, wer er ist. Seine Erinnerung ist stark lückenhaft. Aber wenn er eine Untersuchung in Gang gesetzt hat und seinen Sohn als inoffizielle Informationsquelle benutzt, hieße das, er wäre im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte – zumindest was die neuesten Ereignisse betrifft. Es ist mir egal, wie Sie das machen, Farentino. Fahren Sie hin, sprechen Sie mit ihm. Überzeugen Sie ihn davon, dass Sie immer noch sein Freund sind.«

Tischenko drehte sich um und sah den bedrückten Farentino an. Sein entstelltes Gesicht lächelte schief.

»Und dann können Sie wieder den Verrat genießen.«

 

Nach einer Stunde Fahrt war Abdullah an einem Berghang in ein enges Tal eingebogen. Die Dunkelheit hüllte den Landrover ein. Er wollte sichergehen, dass sie nicht verfolgt wurden. Wenn die Kunde von ihrer Flucht erst aus der Stadt herausgedrungen war, konnten sie in einen Hinterhalt geraten. Überleben hieß, Vorsicht walten zu lassen. Außerdem war es dem Freund von Sophie schlecht. Abdullah hatte zweimal angehalten, damit der Junge sich übergeben konnte. Die Übelkeit rührte wohl von dem Affenbiss her. Jetzt schlief Max tief und fest, sein Gesicht mit Schweißtropfen bedeckt. Abdullah wollte nicht zu viel Zeit verlieren – der Junge musste medizinisch versorgt werden.

Während Max schlief, kletterte Sophie auf den Rücksitz und benutzte den Verbandskasten aus dem Auto, um die Wunde an Max’ Arm zu säubern und zu verbinden. Die nächtliche Kühle der Wüste lag noch in dem Landrover, und so zog sie einen Teppich über Max und sich. Abdullah und sein Mann würden auf der Hut bleiben.

Als es Tag wurde, fühlte sich Max ein wenig besser. Er hatte sich fast die ganze Nacht hindurch nicht bewegt. Die Aufregung der letzten Wochen war dafür verantwortlich, dass sich die Bisswunde so schnell entzündet hatte, das war klar. Die Lymphdrüsen an seinem Hals und unter dem Arm waren geschwollen und seine Bauchmuskeln taten immer noch weh, aber wenigstens die Benommenheit war verschwunden. Sein Arm war jedoch steif und fühlte sich taub an. Er betrachtete den Verband und erkannte, dass Sophie ihn versorgt hatte. Sie lag mit dem Kopf an ihn gelehnt und schlief noch. Max trank in großen Schlucken aus der Wasserflasche, die Abdullahs Mann ihm anbot. Das Erbrechen hatte ihn ausgetrocknet und da es ein heißer Tag werden würde, brauchte er Flüssigkeit im Augenblick noch dringender als feste Nahrung.

Sophie regte sich. Unsicher, was er machen sollte, beschloss Max, sie nicht zu wecken.

Als die aufgehende Sonne ihr Licht über die Landschaft aussandte, überraschten Max die Schönheit und Üppigkeit der Berge und Täler. In westlicher und in südöstlicher Richtung breitete sich bis zum Horizont eine mit Steinen übersäte Wüste aus – eine schimmernde Warnung, dass raueres Territorium nicht weit entfernt war.

Der Landrover erklomm mit sicherem Halt den unbefestigten Weg durch die wild zerklüfteten Berge mit ihren schneebedeckten Gipfeln.

Plötzlich geriet der Allradwagen in eine tiefe Furche, machte einen Satz und kam wieder ins Gleichgewicht. Im Nu war Sophie hellwach. Sie sah Max an, schaute durch die Windschutzscheibe und befeuchtete sich die trockenen Lippen. Max reichte ihr die Wasserflasche. Sophie trank gierig daraus und gab sie ihm zurück.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie.

Er nickte. »Danke, dass du meinen Arm verbunden hast.«

Sophie zuckte mit den Achseln. »Es musste gemacht werden. Mein Vater wird sich das genauer ansehen. Er kennt sich mit solchen Sachen aus.«

»Wahrscheinlich gibt es kein Tier auf Gottes Erde, das Laurent Fauvre nicht gebissen hat«, sagte Abdullah.

Max sah seinen Augen im Rückspiegel an, dass er lächelte.

»Und vermutlich sind sie alle an Blutvergiftung gestorben«, ergänzte Sophie und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Sophie, mach dich nicht über deinen Vater lustig. Erweis ihm ein bisschen mehr Respekt, ja? Er hat es schwer genug in seinem Leben«, sagte Abdullah sanft.

»Und die anderen mit ihm auch«, entgegnete sie, an niemanden speziell gerichtet.

Abdullah zuckte mit den Achseln. Er wusste von den Reibereien zwischen Vater und Tochter. Max spürte die Spannung geradezu. Sophie und ihr Dad hatten Probleme, das war nicht zu übersehen. Worauf ließ er sich hier ein?

»Ist es noch weit?«, fragte er.

Sophie deutete mit dem Kopf nach vorn.

»Da ist es.«

Max spähte durch die staubverschmierte Windschutzscheibe. Das schwache Morgenlicht verzerrte die Konturen. Auf der hinteren Seite des kahlen Tals lag etwas, das wie Reihen behauener Sandsteinblöcke aussah, starr nebeneinanderstehend wie Dominosteine. Sie hoben sich kaum von den dahinter aufragenden Bergen ab, die mit ihren zerklüfteten Rändern Licht und Schatten über die raue Landschaft streuten.

Als Max genauer hinschaute, sah er die Spitzen von Dattelpalmen und für einen kurzen Augenblick einen glitzernden Widerschein, als die Sonne einen schmalen Wasserfall an einem der Hänge aufblitzen ließ.

»Sieht aus wie eine Stadt«, sagte Max.

»Du hast Recht. Sie heißt Les Larmes des Anges«, erklärte Abdullah. »Früher war das einmal das stärkste Bollwerk der Berber in diesen Bergen. Als wir gegen die Franzosen kämpften, haben sie dann die Festung über Jahre gehalten – ich rede hier von der Zeit zwischen den Weltkriegen, von den Zwanzigerjahren. In dieser Gegend gab es damals schwere Kämpfe. Keine Seite dachte daran, sich zu ergeben. Das ist die einzige von einer Mauer umringte Stadt hier. Während des letzten Kampfes fegte ein Gewitter über den Berg. Die Regentropfen leuchteten in den letzten Sonnenstrahlen hell auf. Les Larmes des Anges – die Tränen der Engel. Die haben die Verteidiger geblendet. Die Franzosen aus der Garnison sind an Ort und Stelle gestorben. Und noch heute sagt man, wenn der Wind von den Bergen herunterkommt, könne man die Schreie der Sterbenden hören.«

Der Geländewagen ließ eine Staubfahne hinter sich, als Abdullah mit beschleunigtem Tempo auf die alte Stadt zufuhr. Ihre Mauern mussten dreißig, vierzig Meter hoch sein. Die Flügel eines riesigen schmiedeeisernen Tores öffneten sich, als der Geländewagen näher kam. Max fragte sich, was ihn wohl erwartete, als sie unter dem Torbogen hindurch in die Stadt hineinrollten, die die Franzosen Engelstränen genannt hatten.

Genau genommen war von der Stadt nicht mehr viel übrig; sie bestand zum größten Teil aus Befestigungsmauern und vereinzelten anderen Bauwerken. Das ganze Innere erinnerte an einen riesigen Zoo. Große ausgehobene Erdlöcher, manche davon mit Wasser gefüllt, dienten als Tränken. Andere bildeten natürliche Einfriedungen für die verschiedensten Tiere. Die Mauern waren mindestens fünf Meter dick und erstreckten sich, so weit Max’ Auge reichte, bis sie schließlich an die dünnen Ausläufer der Berge stießen, die die alte Festungsstadt beinahe berührten.

Auf einer Seite der Stadtmauer erkannte Max höhlenartige Öffnungen, darunter so etwas wie tiefe Krater. Er drehte sich auf seinem Sitz so weit es ging nach hinten und erhaschte einen Blick auf orangegelbe und dunkle Streifen. Ein Tiger kletterte gerade seelenruhig an einem Baumstamm hinauf, der an der Felswand lehnte und ihm so einen bequemen Zugang zu seiner Lagerstatt bot. Fell und Muskeln des Tiers schimmerten, als die Großkatze, die eine tote Ziege im Maul trug, die letzten Meter springend überwand und in der Dunkelheit ihrer Höhle verschwand. Noch Respekt gebietender war allerdings der zweite Tiger, der das Geschehen verfolgte. Ein großes Männchen, das auf einem Felsvorsprung lagerte, ohne vom Tun des Weibchens groß Notiz zu nehmen. Das massige Tier mit dem großen Kopf richtete seine Aufmerksamkeit vielmehr auf Max. Bernsteingelbe Augen folgten ihm reglos und wachsam zugleich.

»Habt ihr den Tiger gesehen?«, sprudelte Max heraus. »Der war ja riesig. Was ist das hier? Das sieht ja fast so aus wie ein Safaripark.«

Abdullah steuerte den Geländewagen um einen Kraterrand herum. Von Menschen errichtete Hindernisse wie bei einem Hindernisparcours, vermischt mit Felsblöcken und abgestorbenen Bäumen, waren darin zu erkennen – der perfekte Lebensraum für Affen.

»Das ist der beste Ausdruck dafür, Mister Gordon«, sagte Abdullah und steuerte den Wagen auf ein offeneres Gebiet zu, wo ein riesiges Eisengerüst in den Himmel ragte. »Diese tiefen Löcher, das sind Bombenkrater. Die sind für viele Tiere hier einfach perfekt. Schließlich gehören etliche zu den geschützten und bedrohten Arten. Durch einen glücklichen Umstand haben Krieg und Zerstörung diesen Tieren einen neuen Lebensraum eröffnet. Die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht, die Mauern konnten sie aber nicht niederreißen. Sophies Vater hat das Wasser aus den Bergen umgeleitet und auf diese Weise natürliche Wasserstellen geschaffen. Hier sind die Tiere so weit geschützt und in Sicherheit, wie nur irgend möglich. Ah, da ist ja Laurent.«

Im Schutz der Mauern war es schon heiß. Max stieg aus dem Wagen aus. Sie hatten vor dem Eisengerüst gehalten, das wie eine Trapezplattform gebaut war, die in großer Höhe über einen der Krater ragte. Die Stahlträger erhoben sich fünfundzwanzig Meter oder mehr in die Höhe, und Max schaute gebannt zu der Gestalt, die sich, an eine Trapezstange geklammert, über den freien Raum schwang.

Es war kein junger Mann, der dort über ihnen hing – das Sonnenlicht fing sich in seinem grauen Haar. Doch trotz seines Alters zeichneten sich durch seinen Gymnastikanzug hindurch deutlich die kräftigen Muskeln seines Oberkörpers ab. Ein junger Araber in kurzer weißer Hose und T-Shirt stand auf der gegenüberliegenden Plattform und schwenkte eine zweite Trapezstange über den Abgrund. Max sah, wie sich der Bizeps des Mannes vor Anstrengung spannte, als er Absprungstellung einnahm, seinen Körper verdrehte und mitten in der Luft losließ.

Einen Augenblick lang hing er reglos in der Luft. Wenn er sich nicht rechtzeitig umdrehte, würde er das ihm entgegenschwebende Trapez verfehlen. Der Mann warf sich herum und seine Hände bekamen die auf ihn zuschwingende Stange genau im richtigen Moment zu fassen. Mit geübter Leichtigkeit schwang er sich zu dem Jungen hinüber, der das Trapez festhielt.

Laurent Fauvre saß auf der Plattform, bestäubte sich die Hände mit Talkumpuder, ergriff ein Seil und ließ sich zum Fundament des Gerüsts herabgleiten.

Abdullah stupste Max an und deutete mit dem Kopf zum Fuß des Trapezes, einem ausgehöhlten Krater wie die anderen, jedoch mit scharfkantigen Steinen gefüllt.

»Kein Sicherheitsnetz«, flüsterte er. »Wenn er stürzt, stirbt er.«

Max folgte Abdullah, der sich zu dem Gerüst aufmachte. Schlimm genug, dass Laurent Fauvre jedes Mal, wenn er sich aufs Trapez schwang, sein Leben riskierte, doch jetzt sah Max auch noch, dass er sich vom Seil in einen Rollstuhl herabließ.

Fauvre tupfte sich das Gesicht mit einem Handtuch ab, das er sich dann um die Schultern schlang. Abdullah beugte sich vor, küsste seinem Freund die Wangen, schüttelte ihm die Hand und hielt sie einen Augenblick freundschaftlich fest.

»Allah, der Barmherzige, gewährt dir seinen Schutz, mein Freund«, sagte er.

»Offenbar hast du ein gutes Wort für mich eingelegt.« Der Franzose grinste breit.

Laurent Fauvre sah zu Sophie herüber. Max hielt sich zurück. Sophies Vater hatte bereits in seine Richtung geblickt, ihn aber wohl als unwichtig eingestuft.

»Sophie«, sagte Fauvre jetzt, und die Liebe, die er für seine Tochter empfand, war nicht zu übersehen. Die in sein ledriges Gesicht eingegrabenen Falten verzogen sich zu einem Lächeln. Sophie küsste ihn.

»Papa.«

Sie lächelte, aber Max sah, dass es nicht echt war. Und Fauvre spürte es auch. Ein Schatten von Traurigkeit umwölkte sein Gesicht, zog aber so schnell vorüber, wie er gekommen war. Er nickte.

»Gott sei Dank bist du in Sicherheit«, sagte er. »Du bereitest mir mehr Sorgen als die Tiere hier, um die ich mich kümmere.«

»Nicht, bitte, Papa«, sagte Sophie leise.

Ihr Vater wollte schon weitersprechen, überlegte es sich aber anders. Er sah Max an.

»Und das ist der Junge, der dir geholfen hat?« Laurent Fauvre streckte Max die Hand entgegen, sein Griff war fest, aber ohne jede übertriebene Demonstration von Stärke.

»Sei mir willkommen.«

»Vielen Dank, Monsieur Fauvre. Ich glaube allerdings, jetzt bin ich es, der Ihre Hilfe benötigt.«

Fauvre nickte, ließ seinen Blick noch einen Moment auf Max ruhen und drückte dann auf diverse Knöpfe an seinem Rollstuhl.

»Wenn ihr euch eingerichtet habt, frühstücken wir. Abdullah, lass uns reden. Sophie, zeig dem jungen Herrn Gordon sein Zimmer.«

Der Rollstuhl schnurrte davon, und erst da fiel Max auf, dass sich ein Fahrweg rings um die Tierpferche schlängelte. Laurent Fauvre konnte in seiner ummauerten Stadt fahren, wohin er wollte.

Max sah ihm nach. Als Fauvre und Abdullah einen Eisenkäfig passierten, der eine oberhalb einer Rinne errichtete Plattform umschloss, sprang ein Löwenmännchen gegen das Gitter. Bei seinem zähnebleckenden, tiefen Knurren fingen die Affen erschreckt zu schreien an und Abdullah machte, eine Hand auf der Brust, einen Satz rückwärts. Fauvre war bei dem Überraschungsangriff nicht einmal zusammengezuckt.

»Lass das sein! Du hast Abdullah erschreckt!«, fuhr er den Löwen an. Dann griff er durch die Stäbe und kraulte sein Kinn. Der Löwe ließ sich stöhnend auf den Bauch plumpsen wie eine Hauskatze, die sich über ein wenig Aufmerksamkeit freut.

Eine Autotür schlug zu. Max drehte sich um. Sophie hatte ihre Rucksäcke geholt.

»Versuch so etwas gar nicht erst. Dieser Löwe ist ein Killer. Das sind alle Großkatzen hier, bloß will mein Vater das nicht glauben. Eines Tages werden sie ihn sich holen. Und jetzt komm, ich zeig dir dein Zelt.«

Max nahm seinen Rucksack und folgte ihr. Er würde jetzt in einem Zelt schlafen? Da wollte er mal hoffen, dass Laurent Fauvre die Katzen nicht über Nacht herausließ, wie man es mit Stubentigern zu Hause in England machte.

Max betrachtete die alten Befestigungsanlagen. Es würde einige Stunden dauern, dieses Heiligtum zu erkunden. Und wer töricht genug war, hier uneingeladen einzudringen, konnte als Frühstück für mindestens ein Dutzend wilder Tiere enden. Ein Vorsicht-bissiger-Hund-Schild am Eingang wäre hier unangebracht, Vorsicht, bissige Katze käme schon eher hin.

Max wollte sich den Rest des Tages ein wenig ausruhen und dann später Laurent Fauvre befragen. Hinter diesen mächtigen Mauern fühlte er sich zum ersten Mal seit Ewigkeiten sicher. Einer nach dem anderen schossen ihm jetzt die Gedanken durch den Kopf. Ihm wurde klar, dass die Freundschaft und die geschäftliche Verbindung zwischen Zabala und Laurent Fauvre das alles entscheidende Bindeglied bei diesem Rätsel war. Als Max das gezeichnete Dreieck auf den Atlas gelegt hatte, war es, als wiese die längere Seite ihm den Weg zu diesem verlassenen Ort. Zabala hätte den Erben seines Geheimnisses bestimmt nicht ohne Grund hier ans Ende der Welt geführt. Es musste dieses Ende der Welt sein. Und Max hoffte, Laurent Fauvre war der Grund.

 

Hinter einem verfallenen Teil der Stadt hatte man über die Jahre Gärten angelegt, in denen nach maurischer Tradition Wasser plätscherte, was der Anlage etwas Heiteres verlieh. Hier standen im Schatten von Palmengruppen drei oder vier Zelte. Max ließ den Anblick auf sich wirken. Es war eine richtige Oase. Mit den Zelten von Rucksacktouristen hatte das nichts zu tun. Das waren Beduinenzelte, kleinen Zirkuszelten vergleichbar … Nichts Luxuriöses, aber die diversen Stoffschichten, das spitze Dach, die Teppiche auf dem Boden – das alles erinnerte ein bisschen an Lawrence von Arabien. Fehlten bloß noch ein Kamel und ein …

Ein heftiges Schnaufen brachte Max’ Träumereien zu einem abrupten Ende. Er drehte sich um. Keine zehn Meter entfernt stand hinter einem Dornbusch ein Kamel und streckte ihm seine spuckeglänzende Zunge entgegen. Max wollte das Kompliment schon erwidern, als Sophie den Eingang eines Zeltes zurückschlug.

»Das ist deins, Max.«

Er trat ein. Das Berberzelt war aus Kamelhaar, Ziegenwolle und Leinwand gemacht, und wie in den anderen Zelten lagen auch hier handgewebte Teppiche, baumwollene Kissen und Sitzpolster über den Boden verstreut. Die Kühle im Innern war sofort zu spüren. Max ließ seinen Rucksack aufs Bett fallen.

»Es ist einfach, aber ich hoffe, du fühlst dich wohl. Zur Toilette und Dusche geht’s hier durch. Mein Vater hat nicht viele Angestellte und die sind vor allem fürs Füttern und für die Versorgung der Tiere zuständig, du musst also jemanden bitten, wenn du etwas gewaschen haben möchtest.«

»Das ist Luxus, verglichen mit den Zelten, in denen ich normalerweise schlafe«, sagte Max. »Und ich brauche kein Waschzeug, danke.«

»Gut.«

Sophie stand ziemlich dicht vor ihm und streckte die Hand aus, um ihm die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Instinktiv zog Max den Kopf zurück. Was machte sie da?

Sophie seufzte. »Herrgott, Max. Sei nicht kindisch.« Sie legte ihm die flache Hand auf die Stirn. »Du hast immer noch leichtes Fieber. Ich sag’s Papa.«

»Mach keine Umstände. Ich komm schon wieder in Ordnung.«

Max wandte sich ab, weil ihm plötzlich ganz heiß wurde und sein Herz schneller zu schlagen begann. Er fühlte sich wirklich krank, aber was er jetzt fühlte, hatte mit Fieber nichts zu tun. Er packte seine Sachen zum Wechseln aus. Die Angestellten im Riad hatten alles gewaschen und gebügelt. Eins anziehen, das andere in der Zwischenzeit waschen, das war Max’ Devise. Es war Zeit, wieder Shorts und Hemd anzuziehen. Zeit für Small Talk.

»Hast du auch ein eigenes Zelt?« Er bereute die Worte bereits, kaum dass sie ihm über die Lippen gekommen waren. Es hörte sich an, als wolle er sich selber einladen.

Sophie zog eine Augenbraue hoch und lächelte. »Ich hab ein Zimmer in einem der alten Häuser. Ich brauch ein bisschen mehr Beständigkeit, als ein Zelt sie vermittelt.«

Jetzt stand sie wieder dicht vor ihm. Max bemühte sich, ein ernstes, konzentriertes Gesicht zu machen. Er musste seine Shorts unbedingt auf dem Bett ausbreiten. Sophie berührte ihn an der Schulter.

Tapfer lächeln, Max! Cool! Lass dich nicht nervös machen. Sie ist bloß ein Mädchen.

»Was ist das?«, fragte Sophie und berührte den Anhänger.

Wie eine Raubkatze, die von einem Napf mit Fressen angelockt wird, den ein freundlicher Mensch ihr anbietet, war Max weiter auf der Hut. Wenn das Raubtier fraß, dann trotzdem mit einem wachsamen Auge auf die Person, die ihr das Futter gab, immer auf dem Sprung, einer eventuellen Falle zu entgehen. Max spürte die Gefahr, es lief ihm kalt den Rücken herunter.

»Den hab ich unterwegs gekriegt. Ein Freund hat ihn mir geschenkt«, sagte er so beiläufig wie möglich.

»Aber der ist sehr ungewöhnlich«, sagte Sophie und ließ den Anhänger nicht aus den Augen. Sie hatte ihn sich schon ansehen wollen, als Max im Geländewagen schlief, aber da war er unter Max’ Gewand gerutscht.

»Ach, das ist bestimmt nichts Besonderes.« Max versuchte zu bluffen.

»Darf ich mal sehen?«

»Klar.« Er nestelte an dem Band herum, doch der Schweiß hatte den Knoten fester zusammenkleben lassen. Max bekam ihn nicht auf und konnte die Kette nicht über den Kopf ziehen. »Tja, anscheinend doch nicht.«

»Schon gut. Ich war bloß neugierig.« Sophie sah Max mit einem Lächeln an, mit dem sie einen Affen vom Baum hätte locken können.

Aber Max ließ sich davon nicht beeindrucken.

»Bis nachher draußen, wenn du fertig bist. Papa sieht sich deinen Arm an und dann können wir essen«, sagte sie.

Die Zeltklappe fiel zu und Max war allein. Als er seinen Arm beugte, kroch ihm der Schmerz in die Schulter. Die Übelkeit war immer noch da, aber die konnte er sicher überwinden. Musste er ja auch. Auf einmal kann ihm dieser sichere Ort wie ein Käfig vor.

 

»Genäht zu werden braucht es nicht«, sagte Fauvre, als er den Affenbiss an Max’ Arm auswusch. Die Wunde sah schlimm aus, bläuliche Fäden rankten sich wie Adern unterhalb der Haut zur Schulter hinauf.

Fauvre trug jetzt ein locker sitzendes weißes Hemd und seine verhutzelten Beine waren von einer weißen Hose bedeckt. Mit den Sachen sah er aus wie ein Arzt, dachte Max, aber besonders tröstlich war der Gedanke nicht.

»Tut’s weh?«, fragte Fauvre, als er die Wunde dehnte.

»Ein bisschen«, sagte Max. Die tastenden Finger und das brennende Antiseptikum, dieses Ziehen und Drücken konnten langsam mal aufhören.

»Die Entzündung steckt noch drin, du hast eine leichte Blutvergiftung. Möglicherweise breitet die sich noch weiter aus. Ich kann das nicht mit Sicherheit sagen, es sind die roten Linien, die hier deinen Arm hinaufgehen. Wann hast du deine letzte Tetanusimpfung bekommen?«

»Vor ein paar Jahren, glaub ich. «

»Gut. Dann Tetanus und Penizillin für dich. Und ich geb dir auch noch eine Multivitaminspritze. Die baut dich wieder auf. Diese Spritzen sind wesentlich unangenehmer als die anderen, sie fühlen sich an, als würde einem Suppe injiziert. Ich hasse sie, aber ich geb mir ab und zu selber eine.«

»Dann nehme ich lieber eine Tablette.«

Sie waren in einem kleinen Untersuchungszimmer, in dem Fauvre sonst wahrscheinlich seine Tiere behandelte. Fauvre drehte sich mit dem Rollstuhl zur Seite und griff nach einem kleinen Kühlschrank. Die Schränke, fiel Max jetzt auf, waren alle ziemlich niedrig angebracht, um dem behinderten Mann sein Leben etwas zu erleichtern.

»Natürlich würdest du lieber eine Tablette nehmen. Das ist die einfache Variante, aber unter diesen Umständen ungefähr so nützlich, wie ein Bonbon zu lutschen. Außerdem macht Tabletten austeilen viel weniger Spaß«, sagte Fauvre lächelnd. »Wenigstens mir.«

Er entnahm dem Kühlschrank zwei kleine Glasflaschen mit Arznei und zog das Serum auf Spritzen auf.

»Tierbisse und -wunden können die Hölle sein«, sagte er und stach die Nadeln ohne weitere Vorwarnung in Max’ Arm.

Max zuckte zusammen. Er hasste Spritzen, und die hier waren mit weniger Feingefühl gesetzt als bei einem Tierarzt, der eine Kuh impfte.

Fauvre ahnte wohl, was Max gerade dachte.

»Nette Krankenschwestern gibt’s hier leider nicht, sondern nur mich. Und ich kann nicht besonders gut mit Kranken umgehen.«

Er räumte die benutzten Instrumente weg.

»Schon gut. So schlimm war’s nicht. Vielen Dank.«

Fauvre lächelte amüsiert. »Du lügst sehr gut, Max. Es hat ganz schön wehgetan, die Spritzen haben sich angefühlt wie Schlangenbisse, und ich hab ungefähr so viel Feingefühl wie ein Elefant.«

»Sie retten immerhin bedrohte Tiere. So schlimm können Sie also nicht sein, Monsieur Fauvre.«

»Meine Tochter sieht das aber nicht so. Du kannst Laurent zu mir sagen. Das hast du dir verdient. Kannst du Auto fahren?«

»Ja«, erwiderte Max.

»Dann bist du heute Vormittag mein Chauffeur, junger Mann.« Fauvre zückte noch eine Spritze.

»Was ist das?«, fragte Max.

»Du dachtest wohl, wir sind schon fertig? Nein, nein. Das ist die Suppe. Und Multivitaminpräparate kommen …«

Er zeigte auf Max’ Hintern. »Zieh mal die Shorts runter und denk an England.«

 

Max ließ sich langsam auf den Fahrersitz des Golfbuggys sinken. Die letzte Spritze fühlte sich an, als ob Fauvre mit einem Schraubenzieher in ihm herumgebohrt hätte.

»Wir gehen ein paar Tiere füttern. Also, los«, sagte Fauvre und wies Max die Richtung.

»Wir« hieß offenbar, dass die Angestellten die Tiere fütterten, begriff Max. Vielleicht war es dieser autokratische Zug, der Sophie an ihrem Vater so missfiel.

Das Dach des Golfbuggys schützte Max vor der heißen Sonne. Fauvre zeigte die Richtung an, und Max drückte aufs Gaspedal. Immer locker bleiben, lass dir Zeit, sieh dich um, verschaff dir einen Überblick. Entdeckte er hier etwas, das ihm erklärte, warum Zabala ihn an diesen Ort geschickt hatte? Max ließ den Blick über dieses Durcheinander von Ruinen schweifen. Ihm war klar, dass er nicht nur nach irgendwelchen weiteren Hinweisen suchte, ihn beschäftigte auch, wie er von hier fortkommen konnte, falls sich etwas Schlimmes ereignete.

In den Felswänden um die alte Stadt schienen eine ganze Menge Höhlen zu sein. Die Großkatzen schliefen vermutlich alle, aber es gab wohl auch viele kleinere Tiere, die einerseits dort Schlafplätze fanden und andererseits Platz zum Umherstreifen brauchten, wenn sie sich hinauswagten und in die Krater am Erdboden hinabstiegen. Am entfernten Rand der Stadt erhob sich – Max hatte das vor dem felsigen Hintergrund anfangs gar nicht bemerkt – eine große Voliere, die wegen der unregelmäßigen Form des Netzes fast nicht zu erkennen war. Das Netz hob und senkte sich, von stützenden Pfosten mal in die, mal in die Richtung gespannt, sodass die Vögel sich darin fast wie in freier Wildbahn bewegen konnten.

Das könnte ein möglicher Fluchtweg sein: An diesem Netz hinaufklettern, sich an den Wänden anklammern und auf der anderen Seite wieder heruntersteigen. Wie man in der Wüste überlebt, wusste Max ja.

»Du stellst gar keine Fragen«, sagte Fauvre.

»Ich versuch mich erst mal zu orientieren.«

»Wie eine meiner großen Katzen, die einen Weg aus ihrem Pferch sucht.« Fauvre lächelte. Er wollte den Jungen beruhigen. In Sachen Max Gordon mussten Entscheidungen getroffen werden. »Hier bist du in Sicherheit. Du hast meiner Tochter das Leben gerettet. Ich stehe in deiner Schuld.«

»Sie hat mir genauso geholfen. Was mich betrifft, gibt es keine Schuld, Sir. Ich meine, Laurent. «

Fauvre nickte. Das war eine gute Antwort. Eine respektvolle. Der Junge hatte Köpfchen und wusste, wann er es einzusetzen hatte. Er lächelte. »Die meisten Teenager, die ich kenne, sind entweder schlecht gelaunt und nuscheln wie ein verschnupftes Kamel oder stellen endlos alberne Fragen, die nicht einmal eine Enzyklopädie beantworten könnte. Du tust beides nicht.«

Max konnte es nicht leiden, wenn man von oben herab mit ihm sprach oder wenn er ohne richtigen Anlass so gelobt wurde, aber er war sich nicht sicher, ob das hier bei Fauvre zutraf. Ihm kam es eher so vor, als ob Sophies Vater nicht viel Erfahrung mit Teenagern hatte, und das, obwohl seine Tochter selber einer war.

Max musste das Thema wechseln! Mehr herausfinden.

»Wie lange leben Sie schon hier?«, fragte er, den Blick weiter über den kurvigen Weg auf das Ziel gerichtet, das Fauvre ihm angegeben hatte.

»Zu suchen angefangen hab ich vor fünfzehn, zwanzig Jahren. Ich habe den Cirque de Paris geleitet. Was mit den wilden Tieren geschieht, wusste ich damals schon und es hat mir damals schon zu schaffen gemacht.«

»Und Sie waren Trapezkünstler?«, fragte Max.

»Und der Zirkusdirektor mit meinen Großkatzen. Ich habe sie dressiert.« Fauvre stockte, Max schaute zu ihm hinüber. »Ich liebe diese Tiere«, murmelte Fauvre.

Max steuerte den Golfbuggy über die gewundenen Wege. Eine eingestürzte Mauer eröffnete den Zugang zu einer alten Arena. So riesig wie ein römisches Amphitheater war sie zwar nicht, doch die rings um den freien Platz angeordneten Bauten hatten nach ihrem Zerfall künstliche Sitzreihen geschaffen, fast wie bei einer Tribüne im Stadion oder bei einer Zirkusmanege. Mit der roten, zusammengebackenen Erde und dem Sand sah das Rund aus wie ein aufgegebener Bauplatz. Verrostete Stahlträger lagen kreuz und quer auf der Erde oder lehnten an Gerüsten; manche lagen über alten Autos. Niedrige Mauerreste waren überall zu erkennen, und auf einem Drittel der Fläche standen Pfosten, zwischen denen Seile gespannt waren. Das Ganze erinnerte Max an ein Trainingsgelände für Nahkampfausbildung.

Durch ein Handzeichen gab Fauvre Max zu verstehen, er solle in den Schatten eines der Gebäude fahren.

Abdullah saß dort in einem Polstersessel unter einer Plane, die ihn vor der Hitze schützte, und trank aus einem großen Glas, in dem Pfefferminzzweige zwischen zerstoßenem Eis steckten. Er hatte eine Kühltasche neben sich stehen.

»Bravo! Bravo! Ma petite princesse! Encore!«, rief er und klatschte in die Hände.

Max hob eine Hand vor die Augen. Eine Staubwolke zeigte ihm, wo er hinschauen musste, als ein Schatten, eben noch nicht unterscheidbar von der dahinterliegenden Mauer, sich plötzlich zu regen begann. Es war Sophie. Sie sah aus wie eine Marathonläuferin in knappen Shorts, Tanktop und Laufschuhen. Erde und Sand klebten an ihrem verschwitzten Rücken – anscheinend trainierte sie schon eine ganze Weile. Sie trat an ein Ölfass, sprang auf einen alten Eselskarren, machte einen Salto in der Luft und rannte wild entschlossen auf eine Rostlaube von Auto zu. Max hörte sie stöhnen vor Anstrengung, als sie sich mit dem ganzen Körper über die Motorhaube warf, sich scheinbar gegen einen Stapel von Gerüstmaterial fallen lassen wollte, dann aber abdrehte, mit beiden Händen nach den Stangen griff und sich, ihren Schwung ausnutzend wie eine Turnerin, daran nach oben zog und einen Stahlträger packte. Wie ein Affe kletterte sie hinauf, Füße und Hände um den Träger gekrallt.

Zehn Meter weiter oben endete der Stahlträger. Ohne zu zögern, machte Sophie einen Salto in der Luft, und erst da sah Max, dass unter ihr ein kleiner Erdhügel lag. Nach fünf Metern landete Sophie auf den Beinen, sauste wieder los und rannte nach unten.

Unten angekommen, beugte sie sich nach vorn, die Hände auf den Knien, und pumpte sich die Lunge voll Luft. Schweiß lief ihr übers Gesicht und tröpfelte in den Sand. Max hatte die Augen nicht von ihr gelassen. Sophies schmale Gestalt ließ nichts von ihrer Kraft und ihrem Können ahnen. Fauvre sah ihn von der Seite an.

»Die jungen Frauen von heute sind so unabhängig. Halte dich von ihnen fern, das rate ich dir. Sie können dir großen Kummer bereiten.«

Wollte Fauvre ihn warnen? Max sagen, er solle sich von seiner Tochter fernhalten? Max wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Fauvre.

Max nickte.

»Dann fahr. Dort rüber.« Etwas Schneidendes lag in seiner Stimme.

Vielleicht, dachte Max, hatte der Mann auch eine dunklere Seite.

Max riss das Lenkrad herum. Er bereute jetzt, dass er nicht ehrlich gewesen war und Fauvre gesagt hatte, dass er sich zu krank fühlte, um auf Besichtigungstour zu gehen. Aber dann hätte er die unglaubliche Vorstellung verpasst, die Sophie gerade gegeben hatte.

Sie fuhren auf ein eingehegtes Gelände zu. Fauvre zeigte ihm verschiedene Höhlen und Gruben. Das Thema Tochter war jetzt abgelöst von seinem Lieblingsthema – seiner Liebe zu den Tieren.

»Die Jäger und Sammler sind besonders hinter den Großkatzen her. Wir retten viele davon und wildern sie auf der ganzen Welt wieder aus. Ich hab hier schon Servale gehabt, Ozelots, Tiger, Geparden, Jaguare, Leoparden, aber auch Bären – die werden von den Gangstern, die sie verkaufen, sogar mit Vorliebe gefangen. Ich erzähle dir jetzt etwas, das nicht viele Leute wissen. Ein europäischer Monarch hat einem russischen Bauern einmal ein Vermögen dafür bezahlt, dass er den Dorfbären abschießen durfte, das ist erst ein paar Jahre her. Dieser Bär trank sehr gern Bier, lag dann auf dem Dorfplatz und schlief wie ein alter Mann. Und eines Tages kam dieser König, diese hochgestellte, mächtige Person, angefahren und erschoss ihn, einfach so. Er brauchte für seine Trophäensammlung eben noch einen Bären.«

Fauvre schloss für einen Augenblick die Augen, so als ob sich die Bilder in seinem Kopf ganz tief in seinem Herzen verankert hätten.

Max musste gleich an den Braunbär zurückdenken, der ihn auf dem Berg angegriffen hatte. Mit Ehrfurcht und Respekt erinnerte er sich an die Kraft und Wildheit dieses Tieres. Mehr noch – er spürte förmlich eine gewisse Affinität, war sich total im Klaren darüber, was ein solches Bärenleben bedeutete. Gerüche sind ein wunderbares Hilfsmittel beim Erinnern, und Max konnte fast noch den nassen Fellgeruch in seiner Kehle schmecken.

Fauvre seufzte. »Die Chinesen foltern Bären, wusstest du das? Sie halten sie in Bambuskäfigen, auf so engem Raum, dass sie sich nicht einmal umdrehen können. Barbarisch. Sie verwenden die Gallenblasen der Bären zu medizinischen Zwecken. Und wir nennen uns allen Ernstes die höchst entwickelte Spezies«, murmelte er zum Schluss.

Max sah dem Mann aufmerksam ins Gesicht. Es war verzerrt vor Empörung.

»Ich hab also diesen Platz hier gefunden. Hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet, ihn so zu gestalten, wie er heute ist.«

Max wusste nicht, wie aufdringlich er mit seinen Fragen sein durfte, aber wenn er bei diesem eigensinnigen Mann nicht ein bisschen penetranter wurde, würde er der Lösung von Zabalas Rätsel keinen Schritt näher kommen.

»Sitzen Sie schon immer im Rollstuhl?«, wandte er deshalb beherzt ein.

Die Frage trug Max einen scharfen Blick Fauvres ein. »Nein. Das verdanke ich einem Tiger. Meinem Lieblingstiger. Er heißt Aladfar. «

»Klingt arabisch«, sagte Max.

Fauvre nickte. »Das ist der Name eines Sterns. Er bedeutet Klaue. Aus der arabischen Astronomie. Kennst du dich mit Astronomie aus?«

Die Frage war für Max so, als bekäme er eine Spritze direkt in die Brust. Ein scharfer Schmerz, der ihn siedend heiß an seine Aufgabe erinnerte – die fehlenden Teile von Zabalas Rätsel zu finden. Und seinen Mörder.

Fauvre spielte also Spielchen mit ihm.

»Ich lese ein bisschen nebenbei«, sagte Max betont lässig. »Wie kam es denn zu dem Unfall?«

Fauvre ließ Max die ausweichende Frage durchgehen. »Er ist der vollkommene Tiger. Drei Meter lang, dreihundert Kilo schwer. Eines Tages beschloss er, mir zu zeigen, wer hier das Sagen hat. Er spielte mit mir wie eine Katze mit der Maus. Er warf mich um und stellte die Pfote auf meinen Rücken. Er hat mir das Rückgrat gebrochen.«

»Wurde er erschossen?«

»Aladfar!? Ich hätte den Mann eigenhändig getötet, der ihm auch nur ein Haar gekrümmt hätte. Aladfar ist großartig – und jetzt verstehen wir uns wieder.«

Max nahm an, dass es sich bei Aladfar um den mächtigen Tiger handelte, den er bei seiner Ankunft in der Siedlung als Erstes gesehen hatte. Und anscheinend führte Fauvre ihn jetzt auch zu der Grube, in der das Tier lebte.

Wo war der Zusammenhang, nach dem Max suchte? Wann war Fauvre das erste Mal mit Zabala in Kontakt gekommen?

»War das die Zeit, als Sie mit Ihrer Familie hierhergekommen sind?«, fragte Max.

»Meine Tiere hier sind meine Familie«, erwiderte Fauvre ohne Emotion.

Die Offenheit dieser Antwort ließ Max verstummen. Dazu konnte man nicht mehr viel sagen. Kein Wunder, dass Sophie sich bei ihrem Vater fremd vorkam.

Auf Fauvres Handzeichen hin hielt Max an einem ummauerten Krater an. Zwei Männer standen neben einem Handkarren und luden einen mit altem Gemüse und Obst beladenen Korb ab.

Fauvre sagte etwas auf Arabisch zu ihnen und sie hielten inne. »Schau mal hinein«, sagte Fauvre und lehnte sich über das niedrige Geländer.

Das Fieber hatte Max so benommen gemacht, dass seine Beine zitterten. Er brauchte Schatten und Wasser, aber er wollte sich Fauvre gegenüber keine Schwäche anmerken lassen. Blinzelnd befreite er seine Wimpern von den Schweißtropfen und beugte sich vorsichtig vornüber. Die Wände des Kraters gingen fast senkrecht nach unten. Er sah aus wie die anderen Tiergruben auch. So, dachte Max, lebten vielleicht Bären, die in Gefangenschaft gehalten wurden. Jede Menge Platz, natürliches Wasser, ein Unterschlupf und Wärter, die ihnen Futter brachten. Doch für den Augenblick sah er nur die Mauer auf der anderen Seite des Kraters, an der Gitterstäbe diese Grube von der nächsten trennten.

Der untere Teil der Mauer war ersetzt oder repariert worden und die Stangen verliefen dort über eine Länge von zwei, drei Metern. Max dämmerte, wo er sich befand: auf der anderen Seite der Tigergrube. Jenseits des Gitters lief der massige, hungrig aussehende Tiger hin und her und wollte das haben, was sich in dem Krater unterhalb von Max befand.

Und dann sah Max eine Bewegung vor der dunklen Mauerseite direkt unter sich, wohin das Sonnenlicht noch nicht gefallen war. Zwei Männer traten hervor und hoben flehend die Hände. Sie sahen schwach und ungepflegt aus. Wie lange mochten sie schon in der Grube stecken?

Max sah Fauvre an. Die ungerührte Miene machte ihm für einen Augenblick richtig Angst.

»Warum tun Sie das? Wer sind diese Männer?«

»Die sind hierhergekommen, um zu stehlen. Ich habe Kleintiere, die sind ein Vermögen wert. Diese Kreaturen dachten, sie kämen damit durch.«

»Sie wollen sie an den Tiger verfüttern?«, fragte Max ungläubig.

»Die glauben, sie sollen an Aladfar verfüttert werden. Wenn ich sie wieder freilasse, kriechen sie unter den Stein zurück, unter dem sie hervorgekrochen sind, und sagen den anderen, dass man bei uns nur einbrechen sollte, wenn man darauf vorbereitet ist, zu sterben.«

»Das ist sadistisch«, sagte Max.

»Es wäre sadistisch, wenn ich mich daran ergötzen würde. Das tue ich aber nicht. Ich bin hier praktisch ganz allein. Ich bekämpfe meine Feinde, wie ich es für richtig halte, mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Und Angst ist die stärkste Waffe, die ich besitze.«

Fauvre nickte seinen Leuten zu und die kippten den Korb mit dem verfaulten Obst ab. Die Männer in der Grube grapschten nach den Abfällen. Bestimmt hatten sie schon einige Zeit nichts mehr gegessen.

Trotz aller widersprüchlichen Gefühle musste Max daran denken, dass Laurent Fauvre ein entscheidendes Bindeglied für die Entschlüsselung von Zabalas Geheimnis war. Er musste die notwendigen Informationen aus dem Mann herausholen, auch wenn das schwerer sein würde, als eigenhändig so einen Krater aus dem Gestein zu schaufeln. Max brauchte etwas, das Fauvres Panzer sprengte.

»Ist Ihre Frau hier gestorben?«

Das saß. Max sah, wie Fauvre die Zähne zusammenpresste. Seine Kinnlade klappte herunter, als habe er in eine Zitrone gebissen.

»Hat meine Tochter dir das etwa gesagt – meine Frau sei gestorben ?«

Jetzt durfte sich Max seinen Schock nicht anmerken lassen! Fauvre schlug mit denselben Waffen zurück. Max nickte.

»Meine Tochter lebt in einer Fantasiewelt. Du darfst nicht alles glauben, was sie dir erzählt.«

Vertraue niemandem!, hallte die Stimme in Max’ Kopf.

»Meine Frau ist mit einem anderen Mann durchgebrannt, als ich mir den Rücken gebrochen hatte. Ich lag hilflos da und sie lief davon. Das ist das Gesetz des Dschungels, Max. Die Natur gewinnt am Ende immer.«

»Und Ihr Sohn? Leitet er jetzt den Zirkus weiter?« Max griff nach jedem Strohhalm, der ihm half, die nagenden Zweifel in Bezug auf Sophie zu zerstreuen.

»Meine Tochter hegt einen tief sitzenden Zorn, weil ich einem wilden Tier vertraut habe und nur knapp mit dem Leben davongekommen bin. Sie gibt mir die Schuld an allem – sogar daran, dass ihre Mutter uns verlassen hat. Deshalb sucht sie die Gefahr und nebenbei noch jemanden, den sie lieben kann wie einen Bruder, jemanden, der sie beschützt. Vielleicht bist du ja dieser Mensch.«

Max zuckte zusammen.

»Dann ist Adrien tot?«

»Sophie ist zu Zabala gegangen, weil er Informationen über die Tierschmuggler besaß – und noch etwas, das wichtig war, aber ich weiß nicht, was. Wir haben uns gestritten, aber sie war entschlossen zu gehen. Sie hat mir in jedem Punkt widersprochen.« Fauvre stockte. »Willst du wirklich die ganze Wahrheit wissen?«

Max fühlte plötzlich Verzweiflung in sich aufsteigen. Die Wahrheit? Die tat immer weh.

Nach Fauvres Worten war er plötzlich am Boden zerstört, als habe er einen schweren Hieb einstecken müssen. Alles war Lüge. Ihm war, als würden ihm die Beine wegsacken. Konzentrier dich! Wer sind diese verrückten Leute? Gib nicht auf! Er bezwang die Übelkeit, wischte sich den Schweiß aus den Augen und stützte sich an der Mauer ab. Wenn Fauvre wusste, wie angeschlagen Sophie emotional war, traute er ihr dann noch Schlimmeres zu? Konnte sie Zabala umgebracht haben? War sie so entschlossen, an die geheime Information zu kommen, die Max jetzt besaß? Verworrene, absurde Gedanken fegten durch sein Hirn wie ein Schirokko und er konnte nicht mehr klar denken. Reiß dich zusammen. Du musst dieses Fieber abschütteln.

Fauvre hatte einen gemeinen Zug an sich, das spürte Max. Die Gefühle anderer interessierten ihn kaum, erst recht nicht, wenn derjenige ihm bei seinem Anliegen, dem Wohl der Tiere, in die Quere kam. Mitgefühl für Sophie stieg in Max auf. Sie brauchte Hilfe. Sie hatte Probleme, daran gab es gar keinen Zweifel.

»Also«, sagte Fauvre ruhig, »hören wir doch auf, Spielchen zu spielen. Meine Tochter ist nur ein kleiner Teil des Ganzen. Die arabische Kultur verlangt von einem Gastgeber, den Gast zu ehren. Sogar einem Feind wird unter dem eigenen Dach Sicherheit garantiert. Aber ich bin kein Marokkaner.«

In dem Moment wäre Max am liebsten sofort losgelaufen. Er spürte jedoch, wie alle Kraft seinen Körper verließ. Steh es durch!

Fauvre starrte ihn an, seine Stimme düster und bestimmend.

»Ich möchte wissen, warum du hier bist. Was hoffst du hier zu finden? Was, glaubst du, ist hier versteckt? Du trägst den Anhänger meines Freundes. Was mich betrifft, also ich sehe genügend Beweise dafür, dass du Bruder Zabala getötet haben könntest.«

In Max’ Kopf drehte sich alles. Das Fieber hatte ihn gepackt.

Fauvres Männer hatten sich umgewandt und standen bereit, ihm aufs Wort zu gehorchen. Aladfar brüllte und die Vibration setzte sich durch die trockene, heiße Luft fort. Ein Knurren entblößte das Maul der Wildkatze – dieses Kinn konnte Knochen brechen, diese Zähne konnten Fleisch zerfetzen. Nervös blickte Max nach unten. Ihn über den Rand zu werfen, wäre ganz einfach. Der Tiger hätte ihn binnen Sekunden getötet.

Fauvre starrte Max durchdringend an. »Du hast mich bereits von meiner Schuld freigesprochen. Also, warum sollte ich meinen Freund nicht rächen und die Natur ganz einfach ihren Lauf nehmen lassen?«