25

Panik erfasste ihn. Die Angst hatte ihn fest im Griff. Er musste die Straße an der Seeseite erreichen oder wieder zum Bahnhof zurück. Beides würde ihn wertvolle Zeit kosten. Schraub das Tempo ein bisschen runter und denk nach. Die südlich von Genf verlaufende Straße überquerte die Grenze nach Frankreich, bevor er sich wieder zum nördlichen Ende des Sees wenden konnte, hin zu den Bergen, wo Sayid gefangen war. Auf dieser Route lief er Gefahr, von der Polizei erwischt zu werden. Und er konnte es nicht riskieren, festgenommen zu werden. Auf der Straße nördlich um den See herum, also auf Schweizer Seite, war viel zu viel Verkehr. Statt zwei Stunden wäre er gut und gern doppelt so lang unterwegs. Der See war über siebzig Kilometer lang und danach folgte der Aufstieg ins Gebirge – wie viel Zeit hatte er noch?

Max betrachtete die eleganten Jachten und Motorschiffe, die in mehreren Reihen an ihren Pontons in der Marina gegenüber dem Park lagen. Während er schnell darauf zuschritt, suchten seine Augen ein Boot, irgendeins, das er nehmen konnte. Stehlen heißt das, rief er sich ins Gedächtnis. Er würde eins aufbrechen und irgendwie starten müssen. Plötzlich hörte er das leise Tuckern starker Motoren. Ein Boot näherte sich mit dem Bug voran einem Ponton, und eine Frau war im Begriff, die Leinen festzuzurren. Weiße Ledersitze hoben sich deutlich von dem blauen Bootskörper ab, der wie Glas glänzte. Ein Mann ging ins Heck des Bootes und kontrollierte die Fender. Als die Frau ein paar Meter entfernt auf dem Kai das Tau um eine Klampe schlingen wollte, ging Max unbemerkt an Bord. Der Motor lief im Leerlauf. Max ergriff das Steuerrad aus Walnussholz, stemmte die Beine fest auf den Boden und schob die vier Gashebel nach vorn. Die Dieselmotoren wühlten erfolglos im Wasser, weil sie ihre Kräfte nicht entfalten konnten; die Heckschrauben lechzten danach, den schnittigen Bootskörper durch den ruhigen See zu jagen. Der Mann fiel über Bord, die Frau schrie, aber ihre Stimme ging im Dröhnen der Motoren unter. Das Boot erreichte dreißig Knoten und der Geschwindigkeitsmesser zeigte an, dass es sogar fünfzig schaffte.

So viel Kraft ängstigte Max. Er war schon früher mit seinem Dad auf Schnellbooten gefahren, aber das hier war, als stiege er von einem Fahrrad in die Formel 1 um. Er entfernte sich in weitem Bogen von der Küstenlinie. Die Sicht war gut, aber hinter den Bergen zogen dunkle Wolken auf. Schlechtes Wetter würde ihn die nächsten Stunden begleiten. Die Polizei würde sich an seine Fersen heften, aber das kam Max diesmal sehr gelegen. Er wollte sie zur Zitadelle führen. Dieses Boot war eine Million wert, und wenn er es stahl, erregte er damit bestimmt Aufmerksamkeit. Hoffentlich waren die Ordnungshüter schon da, wenn er drüben ankam. Es war Zeit, das Tier von der Leine zu lassen – er schob die Gashebel vor und das Boot wäre beinahe aus dem Wasser gesprungen. Max schob seine Angst beiseite, als er im Gegenwind über die Wellen flog.

Mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung stellte er vierzig Minuten später aber fest, dass niemand ihn verfolgte – vielleicht lag es an der Bürokratie, da die Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz den See horizontal durchlief. Gut möglich, dass man sich nicht entscheiden konnte, wer die Verfolgung übernehmen sollte, und als er die hämmernden Motoren drosselte und das schnittige Boot an das leere Ufer brachte, wusste er, dass er immer noch allein war. Angesichts der vor ihm aufragenden Berge fühlte er sich plötzlich klein und verwundbar. Doch etwas, das stärker war als Furcht, trieb ihn weiter. Max spürte, dass sich in ihm ein zorniger Sturm zusammenbraute. Sayid! Ob er verletzt war? Lebte er überhaupt noch? Sie mussten ihn am Flughafen in Biarritz erwischt haben. So viel Zeit war schon vergangen, und Max hatte keine Ahnung gehabt, dass sein Freund verschleppt worden war. Der dumpfe Schmerz, den er im Herzen spürte, kam von seinen Schuldgefühlen. Er hätte besser auf Sayid aufpassen müssen. Aber jetzt würde er es wiedergutmachen.

 

Schnee fegte über die Berggipfel und wurde in Schluchten und Gletscherspalten geweht, doch vom dunkler werdenden Himmel über ihm fielen keine Flocken. Max war einige Kilometer gelaufen und auf dem immer steileren Weg waren seine Beine allmählich müde geworden. Ein Schild ließ ihn anhalten. Es war auf Englisch, Französisch und Deutsch beschriftet – zur Sicherheit und um Missverständnisse auszuschließen. Er atmete tief durch. Zutritt verboten. Straße endet in 1 Kilometer. Wissenschaftlich es Forschungsgelände: Wiederansiedlung von Wildtieren. Vorsicht, Wölfe!

Bei Wachhunden tat man es vielleicht nicht unbedingt – bei Wölfen aber blieb jeder sofort wie angewurzelt stehen. Max zog die Karte heraus, nordete seinen Kompass und bestimmte die Richtung, in der sich die Gipfel der Zitadelle befanden. Er war auf Kurs. Die Umrisse waren steil, die Berghänge schwangen sich nicht weit von ihm zu Tausenden Metern Höhe hinauf. Wie sollte er da hinaufkommen? Der Schnee war ein Problem, die Kälte auch. Das Schild warnte davor. Es zeigte aber auch genau, wohin Max gehen musste. Er fing wieder an zu laufen und schob den nagenden Gedanken beiseite: Wie viele Wölfe mochten in diesen Bergen wohl frei herumlaufen? Und wonach konnten sie jagen, was konnten sie fressen – denn Max sah nirgendwo einen Bauernhof, nirgendwo natürliche Beute.

Hinter einer Kurve erblickte er das erste Hindernis. Ein Maschendrahttor, einige Hundert Meter weiter auf seinem Pfad. Es war ein gewöhnliches Tor, vier Meter hoch und Teil eines Zauns, der in den Felswänden verankert war. Max kletterte drüber. Ein zweites Schild wiederholte die Warnung von vorhin. In einiger Entfernung sah er ein teilweise vom Schnee zugewehtes Fahrzeug stehen. Bobbys Bus!

Vorsichtig zu sein brauchte er hier nicht. Der Bus war verlassen. Es gab keine Fußspuren und die Seitenwände des Autos waren von Schneewehen bedeckt. Max riss die Fahrertür auf. Es roch übel – nach vergammeltem Essen und Zigaretten. Er kletterte ins Auto. Es war eine dunkle, kalte Kiste, sein Freund war hier gefangen gehalten worden. Der ins Auto wehende Wind brachte etwas zum Schaukeln – Sayids Misbaha! Er war tatsächlich hier gewesen! Max kletterte über die Sitze nach hinten und nahm die Kette an sich. Wenn man mit Wünschen etwas erreichen könnte! Dann wäre sein Freund jetzt hier bei ihm. Doch ihm war klar, dass viel mehr auf ihn zukam – zähes, unnachgiebiges Suchen.

Max konnte im Bus nichts anderes erkennen, was ihm irgendwie weitergeholfen hätte. Gott sei Dank sah er nirgends Blut. Ein paar Surfbretter, Schlafsäcke, eine Matratze. Genau so, wie er es in Erinnerung hatte, nur, dass er jetzt überlegte, was Sayid hier wohl durchgemacht haben mochte. Max stöberte in den herumliegenden Sachen. Ein paar Tüten Chips und eine halb leere Wasserflasche. Er stopfte alles in seinen Rucksack und schob die Hecktür auf.

Ein paar Meter weiter auf dem Weg kam das nächste, nun schon anspruchsvollere Hindernis: ein verzinktes Tor und ein Zaun, der, einige Hundert Meter lang, zu beiden Seiten an Berghängen hinaufführte und in den Felsen verankert war. Ein paar Meter dahinter war NATO-Draht ausgerollt, und wiederum zehn Meter dahinter folgte ein zweiter, elektrisch geladener Zaun. Die Straße führte weiter in die Berge hinein, aber selbst wenn er das Tor überwand, musste er dieses Niemandsland durchqueren. Und an jeder Kreuzung beleuchteten mattrote Lichter seitliche Absperrungen – es sah fast so aus wie die Kontrollschleusen in manchen Geschäften zur Abschreckung von Ladendieben.

Der Wind blies stark; das Metall des kalten Busses knackte. Die Uhr tickte. Max hatte keine Zeit, so hoch an den Hängen hinaufzusteigen, dass er oberhalb der Barrieren vorbeikam. Er kletterte kurzentschlossen die Leiter an der Rückwand des Busses hinauf und öffnete die Haltegurte, mit denen Bobbys in Schutzhüllen steckenden Surfboards festgezurrt waren.

Das Brett, das hinten im Bus auf dem Boden lag und das Sayid bekritzelt hatte, als er nach der Lösung des magischen Zahlenquadrats suchte, lag noch genau so da, wie Sayid es beabsichtigt hatte – von allen unbemerkt, auch von Max.

Es dauerte zwanzig Minuten anstrengender Kletterei, bis Max etwa achtzig Meter weiter oben einen schmalen Felsvorsprung erreicht hatte. Dort angelangt, warf er die Hülle des Surfbretts weg, bereitete alles vor, setzte sich die Schutzbrille auf, schob die Füße in die Fußschlaufen und zog das Segel zu sich hoch. Es knatterte vor Kraft. Der Wind fauchte durch Felsspalten und um Bergflanken, erfasste den Flügel des Boards und riss Max vorwärts. Er duckte sich hinter das Segel, zog den Gabelbaum mit dem Haltegriff zu sich heran. Er musste Tempo kriegen und dann an der richtigen Stelle den Absprung finden, um diese nicht sehr einladenden Zäune zu überwinden. Das hier war Bobbys eigenes Surfboard. Der Champion hatte das schnellste und beste von allen, und Max war sich nicht sicher, ob er damit zurechtkam. Für extrem schnelles Fahren gebaut, sauste das Board über das Schneefeld. Max zog an dem Gabelbaum und das zwölf Quadratmeter große Rennsegel reagierte, die steife Tragfläche hielt ihn auf Kurs. Der Wind blies in Böen, und er richtete das Segel noch einmal aus; es zerrte an seinen Schultergelenken und die kalte Luft stach ihm in die Wangen. Das nach Geschwindigkeit lechzende Schnellboot, das er gestohlen hatte, erreichte fünfzig Knoten, aber diese speziellen Surfboards waren auch nicht viel langsamer. Es war wie Fliegen! Aber ein Vergnügen war es momentan nicht. Max raste auf den Rand des schneebedeckten Felsvorsprungs zu. Dort angekommen, würde es ihn in die Luft heben und er würde wie ein Ahornsamen in den Wind fliegen und davontrudeln. Wie viel er dann noch würde manövrieren können, wusste er nicht. Sein Absprungwinkel brachte es mit sich, dass er schnell große Höhe gewinnen und einen Salto schlagen würde. Mit einem Mal kam er sich wieder vor wie in Mont la Croix bei seiner missglückten Snowboard-Vorführung. Er musste hier einen ordentlichen Aufwind erwischen und den Spin unter Kontrolle kriegen, sonst würde ihm die ganze Aktion schlecht bekommen. Hier konnte er nicht nur sein Gesicht verlieren – sondern auch sein Leben. Der NATO-Draht konnte ihn zerfetzen, sodass er verblutete. Und falls er auf dem Elektrozaun landete, wurde er geröstet.

Das Board zischte über den Schnee. Der Wind jagte ihn, vor dem Board stäubte der Schnee in die Höhe. Max sah den sich nähernden Abgrund vor sich, das konfuse Wirbeln des Winds, den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Wumm! Der Wind verpasste ihm einen Schlag und riss ihm beinahe den Gabelbaum aus der Hand.

Stille. Das Board hatte vom Boden abgehoben. Die Luft zischte ihm um die Ohren. Das verschmierte, transparente Segel knirschte vor Spannung, während es sich durch den Raum fliegend überschlug. Unter Max wirbelten Bilder des ausgerollten Drahts und des Elektrozauns vorbei. Kam er da drüber? War er weit genug geflogen? Es kam ihm vor, als sei er ewig in der Luft. Das Board richtete sich von selbst wieder aus; instinktiv verlagerte Max sein Gewicht, half dem Board, in die Waagerechte zu kommen. Mit einem dumpfen Schlag landete er auf dem Boden, wäre beinahe gestürzt, genau wie bei dem Snowboard-Wettkampf. Diesmal aber hatte er sich so gebückt, dass er mit der Hose über den Schnee schleifte, und balancierte das Board gleichzeitig mit dem Gabelbaum. Nur wenige Meter hinter den Hindernissen – aber immerhin: Er war drüber.

Max stieß einen Triumphschrei aus. Das war besser als jeder Preis bei einem Wettkampf.

Als er das Board stabilisiert hatte, nahm er den Wind aus dem Segel und folgte wieder der Straße. Er sah noch einmal kurz zurück und betrachtete Tischenkos Verteidigungsanlagen. Er hatte sie tatsächlich überwunden. Das gab ihm einen zusätzlichen Schub. Nichts konnte ihn jetzt mehr aufhalten. Die Berge und der Mann, der seinen Freund gefangen hielt, kamen näher. Und die drohende Katastrophe.

 

Tischenko fuhr in seinem Berg nach unten. An den schwarzen Felswänden, die von den Schneiden der Tunnelbohrmaschinen gezeichnet waren – so gezeichnet wie der Mann selbst –, brach sich das schwache Licht in hellen und dunklen Riffeln und die Kälte war gespeichert in Schichten aus purem Eis, einen Meter dick oder noch dicker. Apparate und Leitungen schmiegten sich an den Fels. Hier legten die Ingenieure und Bauarbeiter ihre Werkzeuge ab. Der Lastenaufzug war weit entfernt von dem Expresslift, der ihn normalerweise in seine hoch gelegene Zuflucht beförderte. Diese offene Plattform wurde vielmehr dazu benutzt, Ausrüstung in diese tief im Berg gelegene Kammer zu transportieren.

Zwischen den Rückwänden der Käfige und dem Fels rann Schmelzwasser hinab, das sich als Eis in unterirdischen Höhlen gesammelt hatte; es hatte, den Weg des geringsten Widerstands wählend, eine Rinne gebildet. Tischenko kam das Wasser sehr gelegen, denn hier unten hielt er über die Jahre seine Tiere gefangen – bevor er ihnen die Ehre erwies, sie zu jagen.

Stählerne Käfige, einige Quadratmeter groß, waren zu beiden Seiten des Lastenaufzugs in den Felswänden und im Boden verschraubt. Wie in einem Burgverlies setzten die Gitterstäbe in der eiskalten Luft Rost an, blieben aber stabil genug, um noch die stärksten Tiere zurückzuhalten. Die meisten Käfige waren leer, obwohl auf den Böden noch Stroh und Tierkot lagen. Tischenko ging an ihnen entlang und der starke Tiergeruch zog ihn besonders zu einem hin. Der kalte Hauch, den das Wasser in der Luft verbreitete, kühlte die Hitze, die ständig unter seiner verbrannten Haut zu liegen schien. Das hier war das letzte Tier, das er in Gefangenschaft hielt. An diesem Ende der Höhle hatte man keine großen Käfige bauen müssen. Nur die vordere Wand, von der aus Tischenkos Männer dem großen Tier tote Fische und fettreiche Brocken Seehundfleisch zuwarfen, war mit Gitterstäben gesichert. Die übrigen Wände waren aus Eis.

Das knapp über null Grad kalte Wasser aus der Rinne lief in eine Senke, bevor es seinen Weg fortsetzte – ideal für eins der furchterregendsten Tiere aus dem hohen Norden. Der Eisbär hob den Kopf aus den Fluten und sah Tischenko an. Rings um sich Wasser verspritzend, stieg er aus der Senke heraus und richtete sich zu voller Größe auf.

Tischenko maß ihn mit Blicken. Der Bär war prachtvoll. Über drei Meter groß, sechshundert Kilogramm schwer. Gewaltige Kräfte und ein Jagdgespür, das seinesgleichen suchte. Majestätisch. Wenn man die DNA eines solchen Jägers der Wildnis mit der Intelligenz eines Menschen kombinierte – was für ein Wesen mochte aus dieser genetischen Verbindung hervorgehen?

Durch den Klimawandel schmolz das Eis, das die Bären brauchten, in den Weiten der Arktis jedes Jahr ein wenig mehr. Ihre Nahrungsreservoire wurden kleiner und ihre Aggression den Menschen gegenüber nahm zu. Tischenko hatte ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, ihn fangen und hierherbringen zu lassen. Es war das größte und aggressivste Männchen, das sie finden konnten. Seine DNA hatte man dem Bären schon entnommen. Er würde das letzte Tier sein, das Tischenko jagte, bevor … Der Gedanke an morgen ließ ihn innehalten. Morgen war der große Tag, gewaltiger und Furcht einflößender als alles bisher Dagewesene.

Sein Handy klingelte.

Der Hai war zurück.

 

Max kletterte um etwas herum, das wie ein großer, breiter Eingang am Fuß des Berges aussah, und während er sich an dem Hang nach oben kämpfte, sah er unter sich den Geländewagen des Hais vorbeifahren und wieder außer Sichtweite verschwinden. Es war richtig gewesen, das Boot zu stehlen, sagte er sich. Der Hai war offenbar im Verkehr stecken geblieben.

Max betrachtete die abweisenden Berge. Die fast senkrecht abfallende Wand nördlich von ihm hatte einige Risse. Diese kälteste und dunkelste Seite, von Schnee und Eis verkrustet, ließ sich nicht leicht besteigen. Doch Max erspähte eine Felsspalte, die es ihm ermöglichen würde, sich langsam zu einem der schornsteinähnlichen Trichter vorzuarbeiten. Von allen Schluchten und Scharten war nur bei einer der Rand nicht mit Schnee oder Eis bedeckt. Warme Luft stieg von irgendwo auf. Da musste eine Öffnung sein. Das war Max’ Weg in den Berg. Überleg dir vorher ganz genau, wohin du gehst. Max betrachtete die Route, sah sich an, wie er steigen konnte, suchte sich Haltepunkte für Füße und Hände.

Er brauchte fast eine Stunde, um die tückische Bergwand zu überwinden. Während er sich langsam hinaufmühte, sah er, wie die Sonne in der Ferne hinter der Gipfelkette verschwand. Ein von Norden her kommendes Donnergrollen kündigte das Nahen eines Sturms an. Der war noch mindestens achtzig, neunzig Kilometer entfernt, aber falls er sich schnell nähern würde, war das hier der letzte Ort, an dem Max sein wollte. Eine Gletscherspalte an einem Berghang, da schlugen Blitze besonders gern ein.

Max quetschte sich in den Kamin hinein, seine Stirnlampe warf ihr Licht bis ein paar Meter unterhalb seiner Füße. Der schartige Fels teilte sich etwa zehn Meter weiter unten. Max mobilisierte alle Kräfte in Beinen und Armen und stieg langsam ab. Die Lampe durchdrang das Dunkel nicht, doch er wusste, dass er sich richtig entschieden hatte. Aus einem Spalt zu seiner Linken – zu schmal, um hindurchzuklettern – drang unverkennbar Tiergeruch, wie im Zoo, stechend und scharf. Max hörte nichts, aber jedenfalls musste Luft von dort aufgestiegen sein und den Kamin erwärmt haben. Der Tunnel rechts unterhalb seiner Füße war breiter, vielleicht konnte er sich dort hineinquetschen, allerdings sah er an der Stelle undeutlich auch einen Widerschein von Eis. Eine Eisspalte konnte man ohne Ausrüstung nicht hinabsteigen. Was tun? Wieder raufklettern? Nein. Unmöglich. Irgendwie würde er auf der Eisbahn schon runterkommen.

Max stemmte sich mit den Beinen gegen ein Stück Felsen, nahm seinen Rucksack herunter und suchte nach einem kleinen Plastikbehälter, nicht größer als eine Streichholzschachtel, den er unter einen Klettverschluss gesteckt hatte. Der Fels bohrte sich mit scharfen Spitzen in seine Knie, Schweiß lief ihm in die Augen, und wenn er von seiner dürftigen Fußstütze abrutschte, würde er in den engen Schacht stürzen und sich die Beine zerschmettern. Und bei dem Schock, Schmerz und Blutverlust, den er dabei erleiden würde, wäre er in weniger als einer Stunde tot. Er bekam allmählich Platzangst in dem engen Kamin. Enge Räume machten ihm schon in guten Zeiten schwer zu schaffen, aber die Fantasie konnte die Sache noch verschlimmern. Nein! Die Felswände rückten nicht näher! Er beruhigte sich wieder im Schein seiner Stirnlampe.

Nachdem er seine Angst eingedämmt hatte, machte Max sich an den weiteren Abstieg. Er hob einen Fuß von dem glatten Stein. Seine Turnschuhe gaben ihm zwar auch abseits der Straße guten Halt, aber für Eis waren sie nicht geeignet. Sie hatten aber vorne in der Sohle vier kleine Schraubfassungen für Spikes, die einem besseren Halt verliehen. Er blies sich auf die Fingerspitzen. Von diesen feinen Spikes durfte er keinen einzigen verlieren. Nach ein paar Minuten hatte er alle eingesetzt. Jetzt würde er an der Eiswand Halt finden. Max zog sich die Stirnlampe vom Kopf, schlang sie um seinen linken Fuß, zog den Gurt fest, sodass sie Lampe nach unten zeigte, aber genügend Abstand zu den Spikes hatte, und machte den ersten vorsichtigen Schritt hinab in unbekanntes Gefilde.

Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass der Berg im Innern über Höhlen oder ausgehöhlte Kammern verfügte, war es nur logisch, davon auszugehen, dass auf einer Seite die wilden Tiere waren und dass es auf der anderen Seite noch eine weitere Kammer gab. Eine solche Logik funktionierte zwar nicht immer, aber Max hatte keine Wahl. Außerdem fühlte er sich besser, wenn er daran glaubte.

Die Beine gestreckt, den Rücken so fest wie möglich an die Felswand gepresst – sein Rucksack verhalf ihm wenigstens zu etwas Haftung –, ließ er sich in das gefährliche Eis hinab. Als er mit dem linken Fuß einen Haltepunkt an der Wand fand, fiel das Licht nach unten und Max sah, dass der Schacht unter ihm eine Kurve machte. Er betete, dass er dahinter nicht senkrecht abfiel, denn dann hatte er keine Chance.

Die Neigung wurde steiler. Ein feiner blauer Lichtschein, der nicht von seiner Lampe stammte, drang durch den Schacht herauf. Sehnen und Muskeln gestreckt, versuchte er sein Tempo zu drosseln. Die Spikes wurden ihm von den Schuhen gerissen, bald würde er irgendwo aufschlagen. Aber wo? Er klemmte die Knie zusammen, beugte die Beine, hob die Arme über den Kopf, zog die Ellbogen an den Körper, holte tief Luft und ließ sich fallen.

Ein gespenstischer blauer Lichtschein zog an seinen Augen vorüber, als der Schacht ihn unten ausspie. Wo der Kamin endete, wölbte sich eine Eisfläche von der Felswand hinab in eine riesige Halle. Max war noch zehn Meter oberhalb des Bodens, aber die wie eine Bobbahn geschwungene Rutsche bremste ihn ab, und er glitt sanft nach unten.

Max schlitterte über den glänzenden schwarzen Steinboden und schlug dumpf an einer Eiswand an. Irgendwo im Hintergrund unterbrach fließendes Wasser die Stille. Er kam auf die Beine. Der dumpfe Schein kam von sehr matten Lichtern, aber die blaue Färbung rührte von dem Eis her, das ihn umgab. Er kam sich vor wie im Innern eines Gletschers. Doch als seine Augen sich an die Umgebung gewöhnt hatten, wurde es Max plötzlich eng in der Brust. Hier unten war es unter null Grad, sein Atem bildete Wölkchen. Es war aber nicht die plötzliche Kälte, die ihm solch panische Angst machte. Dutzende Augen starrten ihn an.

Die Augen von Toten.