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Die Pistenpatrouille entdeckte Max eine Stunde später. Er lag auf einer gezackten Felsspitze, die über einem gewaltigen Abgrund in den Himmel ragte. Er war unterkühlt und bewusstlos. Die vier Männer seilten sich gemeinsam und gut gesichert ab und bargen Max auf einer Trage. Binnen zehn Minuten hatten sie ihn auf sicherem Gelände abgelegt und den Hubschrauber der Bergrettung angefordert, der ihn direkt zum Krankenhaus nach Pau brachte, das eine knappe halbe Flugstunde weiter im Süden lag.

Max verharrte in seinem Dämmerschlaf, und manchmal glaubte er durch schwarze Nacht zu stürzen, als ob der furchtbare Strudel, der ihm den Boden unter den Füßen weggerissen hatte, noch immer an ihm zerrte. Das mechanische Rattern des Helikopters drang bis zu ihm durch. Einmal sah er durch halb geöffnete Augen die schwirrenden Rotoren vor dem grauen Himmel und spürte den stechenden Geruch der Auspuffgase in seiner Nase. Er versuchte sich aufzurichten, aber er war fest angeschnallt. Ein Mann legte ihm beruhigend eine Hand auf die Brust. Der Mann lächelte. Alles war in Ordnung. Er war in Sicherheit.

 

Max war wieder bewusstlos, als der Hubschrauber landete. Er hatte eine Manschette um den Hals, seine Arme und Beine waren fixiert. Die französischen Rettungssanitäter leisteten wie immer hervorragende Arbeit. So nah am Gebirge und einer viel befahrenen Autobahn stationiert, besaßen sie im Umgang mit Knochenbrüchen und unterkühlten Unfallopfern viel Erfahrung.

Im Krankenhaus ließ man sich von den Sanitätern über den Zustand des Patienten informieren. Schnell war klar, dass sie es mit einem kräftigen, gesunden jungen Mann zu tun hatten. Sein Muskeltonus war gut, sein Herzschlag regelmäßig, und es gab keine Anzeichen für innere Blutungen.

Der Arzt ordnete eine Kernspintomografie an. Die Schwester hatte bereits Max’ zerfetzte Skijacke aufgeschnitten und wollte gerade mit seiner Hose und dem Fleecepullover fortfahren, als er die Augen aufschlug.

»Nicht meine Sachen zerschneiden«, murmelte er. »Ich hab keine anderen.« Dann wurde er wieder ohnmächtig.

Der Arzt zögerte. In der verzweifelten Bitte des Jungen lag zugleich eine Leidenschaft für den Alpinsport, die ihm vertraut war. Max konnte nicht wissen, dass Dr. Marcel Riveux in seiner Freizeit als Freiwilliger in den Bergen Dienst tat; dass er jemand war, der die Verlockungen der hochgelegenen Täler kannte und eine innere Verwandtschaft zu Leuten empfand, die so wie er von den Bergen begeistert waren.

Er sah die Schwester an und schüttelte den Kopf. Und statt Max’ Kleider aufzuschneiden, machten sie sich behutsam daran, sie ihm auszuziehen.

 

Das Krankenhaus war technisch auf dem neuesten Stand. Hoch spezialisierte Ärzteteams sorgten dafür, dass jeder Patient bestmöglich versorgt wurde.

Max lag in dem Kernspintomografen und wurde langsam unter dem alles sehenden Auge des Geräts durchgeschoben. Er war komplett von Technik eingehüllt. Nur der Scanner, der sein Gehirn und seine Wirbelsäule abtastete, spendete etwas Licht in diesem dunklen Kokon. Die Maschine gab tiefe, jaulende Geräusche von sich. Wie ein Autoalarm, dem die Kraft ausgeht, oder ein schlecht eingestellter Gitarrenverstärker, und einmal klang es wie das Zischen einer Dampflokomotive. Dann wieder ein Rauschen wie Wind in Bäumen. Max sah einzelne Lichtkleckse wie Schnee auf Zweigen und ließ sich von alldem in den Schlaf wiegen.

Der Arzt war von seinem jungen Patienten fasziniert. Alles schien normal; keine Hirnschäden, keine Schädelfraktur. Aber die Messwerte der Hirntätigkeit zeigten an, dass Max sich in einem ungewöhnlichen neurologischen Zustand befand. Die Scans seines Gehirns glichen sehr detaillierten Satellitenfotos der Erdoberfläche, und an einigen Stellen waren besonders aktive Gebiete zu erkennen. Ein farbiger Knoten, der Neocortex, in dem sich Gedankenprozesse abspielten, und das limbische System, das für Gefühle und Träume zuständig war – beide wiesen erhöhte Aktivität auf. Aber was den Arzt zu einer weiteren Untersuchung veranlasste, war die Aktivität des Hirnstamms, der für Instinkt, Überleben, Atmung und Herzschlag verantwortlich ist.

Er führte einen PET-Scan durch – eine Positronen-Emissions-Tomografie, die die biochemische Zusammensetzung des Gehirns ermittelt. Dieser Junge verfügte über Instinkte fast wie ein Tier. Der Scan ließ nichts von den Schädigungen erkennen, die jemand, der eine extreme Gefahrensituation durchlebt hatte, normalerweise aufwies. Während der Untersuchung hatte es einmal so ausgesehen, als sei Max gestorben. Sein Gehirn war in einen todesähnlichen Zustand übergegangen, aber dann erkannte der Arzt, dass dieser tierhafte Instinkt oder wie er das nennen sollte, Max in Tiefschlaf versetzt hatte – ähnlich einem Winterschlaf. Nicht anders als bei einem Bären im Winter. Der Arzt versuchte sich diesen außerordentlichen Vorgang in Max’ Gehirn logisch zu erklären – vergeblich. Der Junge war ihm ein Rätsel. Was auch immer dahintersteckte, er brauchte mehr Zeit, das zu analysieren. Nur eines war sicher: Der Junge war etwas Besonderes.

 

Als Max schließlich steif und zerschlagen aufwachte, lag er in einem Krankenzimmer und hörte zwei Schwestern gedämpft miteinander sprechen. Die jüngere der beiden trug ihre dunklen Haare hinten zusammengebunden und ihre schlanken Finger zogen gerade die Fieberkurve am Fußende seines Betts nach. Die andere Frau war älter, vielleicht so alt, wie seine Mutter jetzt wäre, wenn sie noch leben würde.

Er blieb vollkommen still liegen, sein Instinkt hielt ihn davon ab, sich zu bewegen – wie bei einem verwundeten Tier. Sein Geist nahm einzelne Informationen auf und versuchte die Lücken dazwischen zu füllen. Er hatte keine Ahnung, wie er hierhergekommen war oder in welchem Krankenhaus er sich befand. Und dann kamen die Erinnerungen. Wirre Worte eines Sterbenden hämmerten in seinem Schädel. Er stöhnte auf und die beiden Frauen sahen ihn an.

»Ez … fida – eheke …«

Die ältere Frau trat näher und berührte seine Stirn.

»Was hast du gesagt?«, fragte sie auf Englisch, aber mit starkem Akzent.

»Ich weiß nicht …«, flüsterte Max. Die fremden Wörter wollten ihm nicht richtig über die Lippen. Wieder sah er das verzerrte Gesicht des Mönchs vor sich. Hörte seine Worte. Horchte noch einmal hin.

»Ez ihure … ere fida – eheke … hari … ere«, stammelte Max unbeholfen.

Die Schwestern sahen einander an und die Jüngere fragte mit freundlicher Stimme: »Weißt du, was du da eben gesagt hast, junger Mann?«

Max schüttelte den Kopf. Die Frauen schienen beunruhigt. Die Jüngere sprach weiter: »Ich stamme aus dem französischen Baskenland. Das ist meine Sprache. Du kannst Baskisch?«

»Nein«, sagte Max. »Was heißt es denn?«

Die beiden Frauen tauschten ein paar Sätze auf Französisch aus, so schnell, dass Max nichts verstand. Dann zuckte die Jüngere mit den Schultern.

»Es bedeutet wörtlich: Vertraue niemandem – sie werden dich töten.«

 

Im Krankenhaus war man gründlich. Man hatte Max geröntgt, gescannt, untersucht, gesäubert und bei alldem außer ein paar geprellten Rippen und den Nachwirkungen der Kälte nichts feststellen können. Er hatte die Gefahr mit viel Glück unbeschadet überlebt, dennoch bestand man darauf, dass er über Nacht bleiben sollte. Übrigens war es Bobby Morrell gewesen, der Alarm geschlagen hatte. Max hatte ihm gesagt, dass er noch einmal in die Berge wolle, und als dann das Donnern der Lawine im Tal zu hören war, hatte Bobby sofort die Pistenpatrouille alarmiert.

Die üblichen Fragen der Ärzte mussten beantwortet werden. Wo waren seine Eltern? Hatte er jetzt Schulferien? Wie lange wollte er in den Pyrenäen bleiben? Wo wohnte er? Wie viel Geld hatte er?

Max erklärte alles, und jemand meinte, man solle seinen Vater informieren. Dann ließen sie ihn in Ruhe. Er blieb eine Stunde oder länger liegen und ließ vor seinem inneren Auge immer wieder dieselben Bilder ablaufen.

Wie war er da nur hineingeraten? Erst Sophie und dann der Mönch. Kaum war er diesen beiden so verschiedenen Menschen begegnet, war er jedes Mal in Attacken von Männern verwickelt worden, die die gleiche schwarz-weiße Tarnkleidung trugen. Eigentlich müsste er damit zur Polizei gehen. Wie würde sein Dad sich verhalten? Er würde gründlich nachdenken und dann selbst entscheiden, was zu tun war – und dann würde er es tun.

Manchmal gerät man in Situationen, mit denen man nur allein fertig werden kann, Max.

 

»Wo sind meine Sachen?«, fragte Max die junge Schwester, als sie wieder einmal kam, um seine Temperatur zu messen.

Sie machte den kleinen Schrank auf, in dem seine Kleider hingen. Dann nahm sie aus einer Schublade einen verschlossenen braunen Umschlag. Darin befanden sich sein blaues Portmonee mit Klettverschluss und sein grünes Moldavit-Armband. Die Uhr seines Vaters fehlte, und die Schrammen an Max’ Handgelenk bestätigten, dass die schrecklichen Ereignisse kein Traum gewesen waren. Ein dumpfer Schmerz, Trauer über den Verlust der Uhr, lenkte ihn vorübergehend von dem Albtraum ab, dem er gerade erst entkommen war. Tut mir leid, Dad, dachte er.

Außer Sayids Mis baha besaß er noch die beiden Gegenstände, die der Mönch sich vom Hals gerissen und Max zugeworfen hatte, kurz bevor er gestorben war. Da war erstens ein Rosenkranz – das Kreuz war noch dran, aber die meisten Perlen fehlten –, zweitens eine Lederschnur, die durch eine flache Messingscheibe von der Größe eines Zehn-Pence-Stücks gezogen war. Vier Speichen innerhalb dieses Rings hielten einen kleinen runden Kristall in der Mitte.

Max befühlte den Anhänger und barg ihn in seiner Hand. Der sterbende Mann hatte ihm das unbedingt geben wollen, und plötzlich empfand Max eine große Verantwortung. Er mochte seinen größten Schatz, die Uhr seines Vaters, verloren haben, aber dieser Anhänger hatte dem sterbenden Mönch so viel bedeutet, dass er ihn dem Jungen, der ihm das Leben retten wollte, anvertraut hatte. Und Vertrauen war eine gewaltige Verpflichtung, hatte sein Vater ihm oft erklärt.

Wenn nur sein Dad jetzt hier wäre. Dann wäre es sehr viel einfacher, die richtige Entscheidung zu treffen. Vielleicht sollte er ihn anrufen und ihm von den letzten verzweifelten Augenblicken im Leben dieses Mönchs erzählen. Aber sein Vater war in London, wo er sich von den in Afrika erlittenen Torturen erholte, und konnte sich immer noch nicht an alles erinnern. Die Ärzte glaubten, er mache langsame Fortschritte, und da sein Dad für eine internationale Agentur arbeitete, die der Regierung bei der Aufdeckung großer Umweltskandale half, hatte man ihn in ein privates Sanatorium gebracht, wo er bestens versorgt wurde. Max durfte ihn mit diesen Dingen nicht belasten. Und falls die Polizei tatsächlich das Sanatorium in England anrufen und von Max’ Unfall unterrichten wollte, würde ohnehin jemand anders das Telefonat entgegennehmen. Damit gewann er etwas Zeit.

»Was ist das für ein Anhänger?«, unterbrach die Schwester seine Gedanken.

»Nichts Besonderes«, antwortete Max.

Aber er wusste, das brennende Geheimnis in seiner Faust war vermutlich der Schlüssel zu den Ereignissen auf dem Berg. Und die Worte des Mönchs waren eine mächtige Warnung.

»… allez … abbaye! … le crocodile et le serpent!« Geh zur Abtei. Das Krokodil und die Schlange.

Vertraue niemandem – sie werden dich töten.

Luzifer.

Sie werden dich töten.

Luzifer.

Ein alter Mönch, verfolgt von einem Mann in schwarz-weißem Tarnanzug. Angeschossen und verwundet. Eine Lawine. Ein verzweifelter Kampf gegen den Tod. Und eine Botschaft.

Eine geheime Botschaft.

 

Max stand am Fenster seines Zimmers und schaute über die niedrigen Dächer. Pau liegt oben auf einem felsigen Berg über dem Gave de Pau, dem Fluss, der unterhalb der Klippe am Südrand der kleinen Stadt fließt. Die gezackten Massive der Pyrenäen boten an klaren Tagen sicher eine beeindruckende Kulisse. Die schneebedeckten Gipfel mit dem Château de Pau im Vordergrund ergaben das perfekte Urlaubsfoto eines jeden Touristen. Aber heute Abend war es anders. Heute hüteten die Berge ein mächtiges Geheimnis, das ihn bedrohte und verhöhnte. Als Max das Fenster aufschob, schlug ihm heftiger Wind entgegen.

Ein Gewitter tobte in den Bergen, eine richtige Schlacht. Donner und Blitze krachten lärmend über die Stadt. Das Feuer am Himmel zerriss die Dunkelheit und ließ erkennen, welch ungeheuren Kräfte da wirkten. Die Welt bebte und zitterte. Gespenstisch rot und blau flammten die Blitze, tauchten Wolken und Berge in flackerndes Licht und wirbelten um die Gipfel wie brennende Reifen. Noch niemals hatte Max ein so beeindruckendes Naturschauspiel gesehen.

Ein Blitz und im selben Moment ein gewaltiger Knall schlugen Max entgegen. Er zuckte zurück, trat dann aber gleich wieder dem wütenden Treiben entgegen. Er packte das Fensterbrett und blinzelte in den schneidenden Wind. Die Berge hatten Max nicht umbringen können, aber diese entfesselten Gewalten schienen ihm zu sagen, dass sie ihn jederzeit vernichten konnten.

Die Pyrenäen flammten noch einmal mit einem letzten Donnerschlag auf, und die Wolken leuchteten im Widerschein exakt in dem Tarnmuster, das der Hai und der Mörder des Mönchs benutzt hatten.

Max hatte Verantwortung auferlegt bekommen: für den Anhänger und dafür, in einer Abtei Antworten zu finden. Er beschloss, der Polizei nichts zu sagen. Jedenfalls noch nicht. Immerhin gab es zwei Menschen, denen er trauen konnte. Der eine war sein Dad, der andere war Sayid.

 

»Nicht zu fassen, dass du von einem Hubschrauber gerettet wurdest«, stöhnte Sayid. »Ich musste mich zweieinhalb Stunden lang in einem Krankenwagen durchrütteln lassen, bis ich hier war.« Er lag in einem anderen Zimmer, den Unterschenkel in Gips. »Echt cool! Ein Rettungshubschrauber!«

Max lächelte ihn an. »Hör auf zu jammern, sonst versteck ich deine Krücken. Morgen Früh schmeißen die uns hier raus und bis dahin sollten wir einen Plan haben.«

»Der Plan ist: Wir gehen nach Hause, oder?«

Max nickte. »Der Flug ist für das Wochenende gebucht, aber ich nehme an, die werden versuchen, uns früher zurückzuschicken. Ich will aber noch bleiben.«

»Der Wettbewerb ist vorbei, da kannst du nichts mehr dran ändern«, sagte Sayid. Er brauchte nicht hinzufügen, wie leid es ihm tat, dass Max im Finale verloren hatte.

Sayid nahm die Misbaha. Max hatte alles riskiert, um sie zu holen, und wäre dabei fast ums Leben gekommen.

Max erriet seine Gedanken. »Sayid, ich bin nicht nur wegen der Kette noch einmal in die Berge gegangen. Ich musste dorthin. Manche Dinge lassen sich nicht erklären, aber wenn ich das Finale nicht verloren hätte, wäre ich bestimmt nicht mehr dorthin zurückgekehrt.« Er zeigte ihm das Kreuz und den Messinganhänger mit dem durchsichtigen Stein darin.

Sayid blickte erstaunt. »Wo hast du das her?«

Max erzählte ihm alles.

Sayid hörte schaudernd zu. Er hatte nichts gegen Abenteuer, aber nicht so viel auf einmal! Sein Freund zog, wie er aus eigener Erfahrung bestätigen konnte, große Gefahren offensichtlich magnetisch an.

Max’ Geschichte brachte ihn ganz durcheinander. Er und Max hatten sich vorgenommen, in diesem Winterurlaub viel Spaß miteinander zu haben. Max hatte mit allen möglichen Gelegenheitsjobs das Geld für die Reise und den Wettbewerb zusammengespart und Sayid hatte sich mit Reparaturen von Computern in der Nachbarschaft etwas dazuverdient. Insgeheim sehnte Sayid sich danach, so zu sein wie Max, auch so eine Einstellung zu entwickeln wie er. Sein bester Freund schien einen Plan nicht nur entwerfen, sondern auch durchführen zu können. Sayid würde alles tun, um ihm zu helfen, das stand unumstößlich fest, aber er wusste auch, dass er nicht den Instinkt – ja, das war es –, den animalischen Instinkt besaß, den man zum Überleben brauchte. Aber Max verfügte darüber.

Die Lawine, vor der sein bester Freund ihn gerettet hatte, war mit Sicherheit nicht so riesig gewesen wie die, von der Max fortgerissen worden war. Schon die Vorstellung, wie ein ganzer Berghang aus Schnee ins Rutschen geriet, erfüllte ihn mit Entsetzen. Lebendig begraben zu werden. Zerquetscht. Was für ein Tod. Max hatte Recht: Er verdankte sein Leben der Entschlossenheit dieses Mönchs.

»Ich möchte mehr über ihn herausfinden«, sagte Max.

»Und du meinst nicht, wir sollten das einfach der Polizei überlassen? Mensch, Max, vergiss nicht, jemand hat versucht, ihn zu ermorden.«

»Er hat mir das Leben gerettet.«

»Aber es ist nicht deine Schuld, dass er gestorben ist«, sagte Sayid.

»Er hätte mich unter der Lawine liegen lassen können, Sayid, er hätte ins Tal fahren und vielleicht noch einen Arzt erreichen können. Ich bin ihm das schuldig. Er war verzweifelt. Er hat mich angefleht.«

»Er hat dich gewarnt!«

»Und das war auch wichtig.«

Sayid wusste, es hatte keinen Sinn, Max etwas ausreden zu wollen, wenn er sich einmal dazu entschlossen hatte. »Allein fahre ich nicht nach England zurück, Max. Versprich mir, dass dir nichts passiert, ja?«

»Ich komme zurück, und dann fahren wir zusammen. Versprochen.«

»Du brauchst also noch etwas Zeit. Wie lange?« »Mindestens noch einen Tag. Bist du eigentlich ein guter Schauspieler?«

»Redest du von diesen schrecklichen Schmerzen, die plötzlich von meinem Bein in meinen Rücken ausstrahlen, ganz zu schweigen von meinen rasenden Kopfschmerzen?«

Max grinste. »Übertreib’s nicht mit den Kopfschmerzen. Sonst untersuchen die noch deinen Kopf und finden raus, dass da nichts drin ist.«

 

Bobby Morrell hatte im Krankenhaus angerufen, um sich nach Max zu erkundigen. Jetzt wählte Max die Nummer der Jugendherberge in Mont la Croix, wo er und die anderen Teilnehmer des Wettbewerbs wohnten. Man sagte ihm, Bobby sei auf der Piste – wo sonst? Er käme erst zurück, wenn es dunkel würde. Max war auf die Hilfe des Amerikaners angewiesen. Er sagte dem Portier, was er Bobby ausrichten sollte, und vergewisserte sich, dass der Mann alles genau verstanden hatte.

Max zog die Krankenhaussachen aus, Schlafanzug und Morgenmantel, und nachdem er seine Cargohose, den Fleecepullover und die Stiefel angezogen hatte, fühlte er sich gleich besser. Nur so hatte er das Gefühl, er selbst zu sein. Er hielt seine Finger unter den Wasserhahn und verwuschelte seine Haare. Dann schlang er sich die Schnur mit dem Messinganhänger um den Hals und versteckte ihn unter dem Pullover. Was er mit dem kaputten Rosenkranz anfangen sollte, wusste er noch nicht so recht.

Die junge baskische Schwester brachte ein Tablett mit Essen herein; sie hatte natürlich erwartet, dass er im Bett lag.

»Was hast du vor? «

Max dachte kurz nach. »Ich muss die Sachen meines Freundes holen. Die Kleider und alles. Wir fahren nach England zurück. Der Arzt hat gesagt, das ist in Ordnung.«

»Aber erst morgen. Oder?«

Sie stellte das Tablett ab, schüttelte unwillig den Kopf, legte eine Hand auf seine Stirn und dann zwei Finger an sein Handgelenk. Mit der freien Hand zupfte sie zerstreut den Pullover an seiner Schulter zurecht, während sie seinen Puls fühlte. Max wehrte sich nicht dagegen. Große Schwestern waren manchmal schwierig, das wusste er. Nicht, dass er eine hatte, aber er kannte das von Baskins, einem der unangenehmsten Schüler auf seiner Schule, der sich andauernd mit seinem Kumpel Hoggart prügelte. Jedes Mal, wenn seine Familie zu Besuch kam, platzte er fast vor Wut, weil seine Schwester ihm immerzu an den Haaren und an den Kleidern herumzupfte und ihm auch sonst das Leben zur Hölle machte. Grauenhaft. Max hatte gelernt, dass manche Mädchen in diesen Dingen einfach nicht zu bremsen waren.

Die Krankenschwester schien mit seinem Puls zufrieden, aber irgendetwas ließ sie zögern.

»Alles in Ordnung?«, fragte Max. »Kein Schnee oder Eis in mir drin, das noch aufgetaut werden muss?«, scherzte er, aber sie ging nicht näher darauf ein.

»Doch, alles in Ordnung«, sagte sie. Ihre Finger berührten das Kreuz in seiner Hand. »Das habe ich schon mal gesehen.« Sie stockte. »Hast du das gestohlen?«, fragte sie vorsichtig.

»Nein! Natürlich nicht.« Dass sie das Kreuz kannte, schockierte ihn mehr als ihr Verdacht, dass er ein Dieb sein könnte.

»Erzählst du mir, woher du das hast?«, fragte sie und sah ihm direkt in die Augen.

Max wusste, wenn jemand log, konnte man das in seinen Augen sehen. Also, was nun? Sich abwenden, sich eine Antwort ausdenken, das Schwanken überbrücken, indem man einfach etwas anderes tat? Nein. Ihrem Blick standhalten, nicht zwinkern – und ihr nicht die Wahrheit sagen.

»Ich habe es auf einer Skipiste gefunden.«

Er sah ihr in die Augen. Sie überlegte kurz und nickte dann. »Das wäre möglich. Ich habe gehört, dass er oben in den Bergen Ski läuft.«

Meinte sie den Mönch? Max’ Herz schlug schneller. Nur gut, dass sie jetzt nicht mehr seinen Puls fühlte. Er versuchte so locker wie möglich zu bleiben. »Wer? «

Sie nahm ihm den Rosenkranz aus der Hand und berührte mit einem Finger das daran baumelnde Kreuz. Unten war ein Stück abgebrochen. »Er kam gelegentlich aus den Bergen, um mit uns die Messe in unserer Sprache zu feiern. Immer wenn ich dieses Kreuz geküsst habe, ist mir das fehlende Stück hier aufgefallen. Er ist ein baskischer Mönch.«

»Basken sind also etwas anderes als Franzosen?«

»Selbstverständlich. Wir haben unsere eigene Sprache, unsere eigene Kultur. Die spanischen Basken kämpfen aggressiver für ihre Unabhängigkeit, manche sogar als Terroristen, während wir auf dieser Seite der Pyrenäen die französische Kultur nicht weniger lieben als unsere eigene. Für uns gibt es da keinen Konflikt.«

»Und Sie sind sicher, das Kreuz gehört ihm?«, fragte Max.

»Was geht hier vor? Du weißt etwas, aber du hast Angst, es auszusprechen«, sagte sie leise und wiederholte bedächtig die Warnung, die er gemurmelt hatte, als er aus der Bewusstlosigkeit aufgewacht war: »Ez ihure ere fida – eheke hari ere. Warum hast du das gesagt?«

War sie misstrauisch oder wollte sie in ihrem schlechten Englisch nur zum Ausdruck bringen, dass sie sich Sorgen um ihn machte? Sorge oder Argwohn – es kam alles auf Nuancen der Aussprache an, und so wie sie sprach, vermochte Max ihre Absichten nicht zu deuten. Er beschloss, die Frage zu ignorieren. Schon möglich, dass sie sich wie eine große Schwester um ihn sorgte, aber Max war selbst dabei gewesen, als Baskins Schwester allen seinen Freunden erzählt hatte, dass ihr Bruder als kleiner Junge ein Bettnässer gewesen war.

Traue niemandem.

Max nahm ihr den Rosenkranz wieder aus der Hand. »Ich werde ihm das zurückbringen«, sagte er.

»Aber er ist Einsiedler. Er lebt irgendwo in den Bergen. Weißt du, was Citeaux bedeutet?«

Max schüttelte den Kopf.

»Das ist ein Ort, wo keine Menschen leben, nur wilde Tiere. Er hat eine Hütte auf der Montagne Noire.«

»Auf dem Schwarzen Berg? Sind Sie sicher?« Max verbarg seinen Schreck. Vor knapp zwei Wochen war er dort gewesen, zum Höhen- und Fitnesstraining. Drei Tage lang war er auf den Hängen des Schwarzen Bergs gewandert, bevor dann der Wettbewerb anfing. Die Gegend dort war wild und manchmal schneite es dort heftig, nur dass der Schnee aufgrund der geografischen Lage so nah am Atlantik kaum länger als eine oder zwei Wochen liegen blieb. Und das bedeutete, es gab dort Vegetation und wilde Bergziegen, von denen wiederum Raubvögel leben konnten.

Man hatte Max auch gewarnt, dass er weiter oben sogar auf Wölfe und Bären stoßen konnte. Wegen des Klimawandels hielten die Bären nicht mehr Winterschlaf wie früher. Es war nicht ratsam, sich in dieser Gegend eine Verletzung zuzuziehen, die Überlebenschancen waren praktisch gleich null. Und Max war nicht besonders scharf darauf, noch einmal dorthin zurückzukehren.

»Wissen Sie, wie er heißt?«, fragte er.

»Bruder Zabala. Ein ziemlich großer Mann mit Bart und langen Haaren.«

Jetzt hatte Max keinerlei Zweifel mehr, dass sie von demselben Mönch sprachen, der ihm bei der Lawine das Leben gerettet hatte und dann so schrecklich in den Tod gestürzt war.

Max umklammerte den Rosenkranz noch fester. Eine warnende Stimme in seinem Inneren sagte ihm, dass er drauf und dran war, sich in das dunkle Geheimnis eines Toten zu stürzen.