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Der Tod würde blitzartig eintreten, lautlos und gnädig. Ein sengender Schmerz würde dem Opfer vom Hals durch die Brust in Herz und Lunge schießen, ihm die Rippen zertrümmern und lebenswichtige Organe zerreißen. Der kalte Pfeil, der aus dem Himmel in seinen Körper fuhr, würde jeden Schmerzensschrei ersticken.

Der Name des Jägers war Fedir Tischenko – Fedir bedeutete Geschenk Gottes. Olha, seine slawische Mutter, hatte ihn verhätschelt; nachdem sie sich jahrelang ein Kind gewünscht hatte, hatte Gott endlich ihr Flehen erhört. Sie liebte ihren Sohn über alles, seinen Vater jedoch fürchtete sie, und auch Fedir sollte ihn bald fürchten lernen. Der Vater hieß Evgan. Er war ein Bandenchef, barbarisch, grausam und mächtig, und befehligte Klans in drei slawischen Staaten. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit verband über alle Landesgrenzen hinweg. Der Bund war mit Blut besiegelt und Außenstehende kamen niemals in diese Gemeinschaft hinein.

Fedir wurde zum Nachfolger seines Vaters erzogen, zu einem Leben voller Gewalt. Evgan lehrte ihn Ausdauer, Kriegslisten und Kampftechniken und die Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen. Angst, hatte er ihm beigebracht, muss immer der andere haben. Ein Mann, der zum Herrschen geboren ist, muss seine Gegner niederwalzen wie die Windgötter ein Weizenfeld. Beschwichtige die Götter, verehre den Herrscher – oder stirb.

Evgan und seine Leute standen in dem Ruf, überall Chaos und Zerstörung anzurichten, und sie waren stolz darauf.

In der Antike glaubte man, dass die Männer vom Volksstamm der Neuri sich in Werwölfe verwandeln konnten. Solche Legenden wurden von den Bauern und der Landbevölkerung auf ihren Festen am Leben erhalten; dort traten Männer auf, Vucari oder Wolfsmänner genannt, die ihr Gesicht hinter Wolfsmasken verbargen.

Und die Drohung mit den echten Vucari war es, die Evgan und seinen Leuten so viel Macht verlieh.

Die Götter und Geister der Berge gehörten zu den Dingen, in denen Fedirs Eltern sich einig waren. Seine Mutter nährte Fedirs Respekt vor den alten Sitten und Gebräuchen. Die Slawen lebten mit ihren Mythen und verehrten heidnische Götter und eines Tages trat ein schreckliches Ereignis ein, das sie in ihrem Glauben bestätigte. Es war der Tag, an dem die Männer den Sohn mehr fürchten lernten als den Vater.

Als Fedir zwölf Jahre alt war, kam er einmal von der Dorfschule nach Hause und fand seine Mutter zusammengeschlagen am Boden liegen. Draußen tobte ein Gewitter, eins der schlimmsten seit Menschengedenken. Fedir rang seine Wut nieder, bis seine Mutter getröstet war. Dann trat er wieder in das Unwetter hinaus und machte sich auf den Weg, seinen Vater zu töten. Evgan hatte immer damit gerechnet, dass sein Sohn eines Tages seine Autorität und Führerschaft anfechten würde – freilich nicht schon so früh. Er sah den Jungen den steilen Hang zu sich hinaufsteigen, sah die Kraft in seinen Beinen und Schultern. Er konnte den Hass beinahe riechen, den sein Sohn ausströmte. Aber das war ihm gleichgültig, er war ja nur ein kleiner Junge.

Fedir stürzte sich auf seinen Vater. Evgan stieß ihn beiseite.

Fedir ging zu Boden, Blut lief ihm aus der Nase. Aber der mächtige Drang, seine Mutter für die Angst und Qual zu rächen, in die sein Vater sie ständig versetzte, gab ihm die Kraft, sich erneut in den Kampf zu stürzen. Er schlug zu und landete sogar noch einen zweiten Treffer. Sein Vater lachte nur und stieß ihn fort.

Die anderen spotteten über diesen Knirps, der es wagte, einen alten Kämpfer wie Evgan anzugreifen. Sie selbst hatten mit eigenen Augen gesehen, wie ihr Anführer mit bloßen Händen Gegner getötet hatte, die dreimal, ja viermal so stark waren wie dieser Junge. Alkohol befeuerte ihre Spottgesänge. Aber der Junge wollte einfach nicht am Boden bleiben. Vom Wind gepeitschter Regen spülte das Blut aus seinen Wunden. Fedir spie blutigen Speichel aus. Aber sein Hass trieb ihn zu immer weiteren Attacken.

Und plötzlich zog er einem der Männer das Messer aus dem Gürtel.

Die Klansleute verstummten. Eine Messerstecherei. Evgan wusste, im Kampf mit dem Messer war Fedir kaum zu schlagen, denn er war bei einem Meister seines Fachs in die Lehre gegangen. Bei ihm selbst.

Wenn er die Sache jetzt nicht beendete, würde der Junge ihn keinen Tag seines Lebens mehr in Ruhe lassen. Nicht einmal im Schlaf. Ihm blieb keine andere Wahl. Er zog sein Messer aus der Scheide.

»Ich werde dir das Leben nehmen, Junge! Ich habe es dir gegeben! Und ich nehme es dir wieder! Letzte Chance!«, schrie er in den heulenden Wind.

Ein Donnerschlag krachte vom Himmel. Die Druckwelle zerrte an den Kleidern Evgans. Die Männer duckten sich, als habe eine mächtige Faust sie niedergeschlagen. Nur Fedir zuckte mit keiner Wimper. Er griff an. Sein Vater fing die Attacke ab und schleuderte dem Jungen mit einem knochenbrechenden Schlag das Messer aus der Hand.

Die Männer hörten es knacken. Aber der Junge schrie nicht auf, als er auf die Knie sank. Der Schmerz hatte ihn gelähmt. Er blickte in den tobenden Himmel auf. Staub und Blätter tanzten in wirbelnden Kreisen durch die Luft, als wollten sie seine Schmach verhöhnen. Sein Vater packte ihn an den Haaren. Das Messer zum Stoß erhoben, wie bei einem Opferritual. Die Zeit stand still. Die Männer waren wie erstarrt. Das Messer sauste nieder. Und der Junge schrie.

»PERUN! Rette mich!«

Die Klansleute schworen bis an ihr Lebensende, dass im selben Augenblick, als der Junge den Gott des Gewitters anrief, ein Donner die schwarzen Wolken auseinanderriss und einen Blitzspeer auf ihren Anführer schleuderte.

Die Explosion warf sie alle zu Boden. Das Himmelsfeuer versengte die Erde. Die verkohlten Überreste Evgans krümmten sich kurz darauf in dem schwarzen Krater, wo der Blitz eingeschlagen war. Glimmende Leichenteile qualmten noch. Auch Fedir lag, von Kopf bis Fuß schwarz angesengt, am Boden.

Aber er lebte.

Es dauerte zwei Jahre, bis die Kräuter und Arzneien seine Kräfte wiederhergestellt hatten. Seine Mutter übernahm während dieser Zeit die Führung der Klans. Die Männer verehrten sie, weil sie einen unbesiegbaren Sohn geboren hatte. Und die Legende, die sich um den Jungen rankte, wuchs, wie seine Stärke, mit jedem Tag. Was aber blieb, waren die Narben an seinem Körper. Der Blitz hatte ihn vom Scheitel bis zur Sohle verbrannt und seine runzlige, wie mit Schuppen bedeckte Haut glich der eines Reptils. Seine Mutter ließ einen Wolf töten und häuten und legte ihm das bluttriefende Fell aufs Gesicht, um es auf diese Weise zu heilen.

Als der Wolfspelz nach einiger Zeit wieder abgenommen wurde, war das Fell in Fedirs Gesicht eingewachsen.

Fedir empfand die Wolfsbehaarung als Auszeichnung. Wer sich voller Abscheu von dem Anblick abwandte, wurde mit unnachgiebiger Strenge bestraft.

Wer Fedir Tischenkos Zorn auf sich zog, war schon so gut wie tot.

Mit sechzehn begann seine Herrschaft, die das Antlitz Osteuropas veränderte. Niemand wagte es, sich ihm in den Weg zu stellen. Sein eiserner Wille vernichtete Feinde und belohnte Freunde. Er baute ein Imperium auf – Perun Industries. Das Logo des Unternehmens, eine gezackte weiße Linie auf schwarzem Grund, blieb für Außenstehende ohne Bedeutung, die Eingeweihten aber wussten, dass es einen Kettenblitz symbolisierte – zu Ehren seines Retters, des Gottes der Blitze.

Das von Fedir beherrschte Land besaß enorme Bodenschätze, Erdöl und Gas in großen Mengen, die ihm zu Reichtum und noch mehr Macht verhalfen. Mit fünfundzwanzig war er einer der reichsten Männer der Welt. Er beeinflusste die Aktienmärkte. Politiker und ganze Regierungen tanzten nach seiner Pfeife. Er ließ sich jedoch nie in der Öffentlichkeit blicken, er kaufte keine Fußballclubs, und so rankten sich bald immer mehr Legenden um diesen geheimnisvollen Mann. Und als er einunddreißig Jahre und einen Tag alt war, verkaufte er seinen ganzen Besitz.

Und verschwand.

Das war vor fünf Jahren gewesen.

Jetzt jagte er in der Stille der Nacht. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, Untreue und Unfähigkeit zu verfolgen. Er wollte die Menschen dafür bestrafen, damit sie daraus lernten. Dieser Junge, hinter dem er jetzt her war, hatte einen schweren Fehler begangen. In einer Stadt nicht weit von Zabalas Hütte im Gebirge hatte er sich betrunken und von den geschmuggelten Tieren erzählt. Tischenkos neue Privatwelt, dieses Königreich in den Bergen, hätte dadurch kompromittiert werden können. Dafür konnte es nur eine Strafe geben.

Das Heulen von Tischenkos Jagdwölfen war noch weit hinter dem Jungen. Seine Kraft gab ihm Zuversicht, als er über das gefrorene Schneefeld lief. Er würde ihnen entkommen, da war er sich sicher. Er kannte die Gegend und den Weg am Rand des Gletschers. Dort hinauf konnten die Wölfe ihm nicht folgen.

Tischenko sah die Atemwolken seines Opfers und beobachtete, wie der Junge immer wieder über die Schulter zurückblickte, als könne er selbst kaum glauben, welches Glück er hatte, dass die Verfolger nicht mehr hinter ihm waren, dass ihm die Flucht gelungen war, dass die Gefahr gebannt schien. Schon winkte die Freiheit. Das war das kostbarste Geschenk für einen verängstigten Geist – Hoffnung. Sein Pech, dass er nicht in den Nachthimmel hinter sich geblickt hatte.

Tischenko brachte seinen schwarzen Gleitschirm in die richtige Position.

Der Schnee leuchtete im Mondlicht. Tischenko spannte die Muskeln an und atmete gleichmäßig, während sich sein Schatten von hinten dem Jungen näherte, der nur noch wenige Sekunden zu leben hatte.

Es gehörte viel Kraft und Geschick dazu, den speziell angefertigten Jagdbogen aus Titan zu spannen, ruhig auszurichten und dann den Pfeil treffsicher ins Ziel zu schicken. Tischenko wollte niemandem unnötig Leid zufügen. Die Angst war Folter genug.

Auf dunklen Schwingen glitt er fast lautlos durch die Nacht. Ein Sirren, und der spitze Pfeil bohrte sich in das laufende Opfer.

Der Junge brach auf der Stelle zusammen, kippte mit ausgestreckten Armen nach vorn, ohne zu ahnen, was ihn niedergestreckt hatte. Im Schnee breitete sich eine Blutlache aus. Der Tod kam nach wenigen Sekunden. Seine letzte Wahrnehmung waren die rauen Schneekristalle in seinem Gesicht und das Gefühl, in den kalten Boden hinabgezogen zu werden.

Die Wölfe würden das Blut wittern und den Leichnam verschlingen. Tischenko musste sich noch um einige andere kümmern, bevor sein Plan, sich die gewaltigste Kraft der Natur zunutze zu machen, verwirklicht werden konnte. Wenn er das vollbracht hatte, konnte er aus der Zerstörung eine neue Weltordnung errichten.

Als Tischenko den Gleitschirm über die menschenleeren, faszinierend schönen Schneefelder zu dem Ort tief in den Schweizer Alpen lenkte, der jetzt seine Heimstatt war, flog ein Rabe vorbei. Raben fliegen nachts nicht, und schon gar nicht in so einsamen Gegenden.

Ein Vorzeichen. Von etwas Unvorhergesehenem.

Der Junge, Max Gordon?

Das blieb abzuwarten.

Fedir Tischenko entschwebte wie ein dunkler Engel von diesem Ort des Todes.

Max’ Zimmer in dem Château war sehr einfach eingerichtet. Ein altes eisernes Bettgestell, eine durchgelegene Matratze, eine Bettdecke, handbemalte Läden vor zugigen Fenstern, kahler Fußboden. Ein Stuhl mit hoher Lehne diente als Kleiderständer. Fast wie zu Hause, dachte er.

 

Nun lag er gut eingepackt im Bett und hatte zum ersten Mal Gelegenheit, sich die Zeitungsausschnitte anzusehen, die er aus Zabalas Hütte mitgenommen hatte. Im schwachen Licht der nackten Vierzig-Watt-Birne studierte er die französischen Artikel und versuchte sein Gehirn dahin zu bringen, in der fremden Sprache zu denken.

Vor dreiundzwanzig Jahren hatte Zabala mit der Behauptung, in Südosteuropa stehe ein katastrophales Ereignis bevor, für großes Aufsehen gesorgt. Beweise dafür konnte er offenbar nicht erbringen. Man lachte ihn aus. Man warf ihm vor, sich mit Astrologie zu befassen und haltlose Prophezeiungen in die Welt zu setzen, statt sich weiterhin der exakten Wissenschaft der Astronomie zu widmen.

Das also war er gewesen – ein Astronom.

Zabala hielt seinen Kritikern entgegen, schon die alten Ägypter, Griechen und Perser hätten gewisse Erscheinungen am Himmel mit wichtigen historischen Ereignissen in Zusammenhang gebracht. Er weigerte sich jedoch, seine Forschungsmethoden zu enthüllen, und beharrte darauf, dass Luzifer …

Max stöhnte auf. Also hatte Zabala schon vor so vielen Jahren von Luzifer gesprochen! Sein letztes Wort, bevor er in den Tod gestürzt war. Max schüttelte sich. Dieser entsetzliche Augenblick auf dem Berg stand ihm immer noch mit erschreckender Klarheit vor Augen.

Luzifer werde zurückkommen und die Welt mit Tod und Verderben überziehen, hatte Zabala den Reportern gesagt. Die Zeitungsartikel hatten nur Spott für Zabala übrig und brachten keine Fakten. Vielleicht, weil es keine gab. Sie erwähnten nicht einmal, wo er arbeitete, woraus Max den Schluss zog, dass der Mann zu einer Art Witzfigur geworden war. Doch Zabala beteuerte immer wieder, er werde unwiderlegbare Beweise liefern, seine Forschungen seien noch nicht abgeschlossen, aber alle Zeichen deuteten darauf hin, dass er Recht behalten werde.

Es war schon spät. Max kletterte ins Bett und machte das Licht aus. Überall in dem alten Haus knarrte und knackte es, als der Wind unter die Dielenbretter und Dachbalken des heruntergekommenen Gebäudes fuhr. Die Fensterläden wanden sich ächzend in ihren Angeln.

Vielleicht war er ja wirklich auf dem Holzweg. Ein Irrer, besessen von einer abstrusen Wahnvorstellung, zog sich aus der Gesellschaft in die Einsamkeit der Berge zurück – wegen einer Sache, die niemals eintreten würde. Und wenn Zabalas Prophezeiungen sich als falsch herausgestellt hatten, weil sie nicht eingetroffen waren, war Max jetzt drauf und dran, sich in den überholten Wahnideen eines alten Mannes zu verstricken.

Max versuchte seine Gedanken zu ordnen. Jemand hatte den Mönch verfolgt und schließlich ermordet. Das war kein Hirngespinst. In den Sekunden vor Zabalas Tod waren sie beide vor Panik wie gelähmt gewesen. Aber Max hatte durchgehalten. Er hatte alles getan, um ihn zu retten, so wie Zabala es zuvor für ihn getan hatte. So wie sein Vater es getan hätte.

Der Artikel kam zu dem nüchternen Schluss, Zabala sei ein namenloser, drittrangiger Wissenschaftler, der, vom Dämon des Scheiterns besessen, unbedingt an die Öffentlichkeit wolle. Er sei zum religiösen Fanatiker geworden – einer dieser Leute, die der Menschheit das Ende der Welt verkünden.

Max lag im Dunkeln. Jemand tappte durch den Flur – Kerzenlicht schimmerte durch den Türrahmen, hielt kurz an und bewegte sich weiter.

Er glitt aus dem Bett und klemmte den Stuhl unter die Türklinke. Eine Verrückte hatte ihm mit einem Messer beinahe die Kehle aufgeschnitten. Weder sie noch sonst jemand in diesem unheimlichen Haus sollte zu ihm reinschleichen und nachsehen, ob er sich auch ordentlich zugedeckt hatte.

Der Schlaf drängte heran. Max betastete den Anhänger und versuchte, die Zweifel an Zabalas geistiger Gesundheit beiseitezuschieben. Er konnte den Mörder nur finden, wenn er etwas besaß, was dieser unbedingt haben wollte. Zabala hatte Luzifers Geheimnis entdeckt und Luzifer hatte sich dafür gerächt.

Max würde das Geheimnis lüften.

Und Luzifer würde sich auf den Weg zu ihm machen.