14

Fedir Tischenko war abergläubisch. Viele große Männer der Geschichte hatten sich von Vorzeichen leiten lassen, und bescheiden, wie er war, zählte Fedir sich dazu. War er nicht von der Hand des Blitzgottes gezeichnet worden? Er bezweifelte, dass irgendein anderer Mensch eine so grausame Taufe überlebt hätte.

Die unsichtbaren Mächte des Universums lenkten sein Schicksal eindeutig auf jenen Augenblick hin, wo er die größte aller Naturgewalten entfesseln und die Welt in ihren Fundamenten erschüttern würde.

Aber er war auch ein praktischer Mensch. Aberglaube mochte sein Fühlen beherrschen, doch war es kalte Logik, die ihm zu finanzieller Macht verholfen hatte. Sein Bestreben, vor den Medien der Welt anonym zu bleiben, hatte nicht nur mit seiner Entstellung zu tun, sondern auch mit Verschlagenheit. Hinter den Kulissen war es viel einfacher, Regierungen zu beeinflussen, Politiker zu kaufen und Leute zu bestrafen, die seinen Erwartungen nicht entsprachen.

Für einhundert Milliarden Dollar kann man sich eine Menge Einfluss und ein weitestgehend geschütztes Privatleben kaufen. Doch war ihm stets bewusst, dass trotz all seiner Sorgfalt irgendeine unvorhergesehene Kleinigkeit alles über den Haufen werfen konnte. Wie bei einem Formel-1-Fahrer, dem bei Tempo dreihundert eine Wespe unter den Helm gerät oder bei einem hochempfindlichen Präzisionswerkzeug, das schon von einem einzigen Staubkorn entscheidend gestört werden kann.

Tief unter der Erde fuhr er an riesigen Maschinen entlang, die aussahen wie Motoren von Düsenflugzeugen, nur hundertmal größer: ein gewaltiges rundes Metallgehäuse, höher als ein sechsstöckiges Gebäude, gehalten von Stahlrahmen, die im Felsgestein verankert waren. Nur, dass in diesem Gehäuse keine Turbinen rotierten, sondern Konduktoren, einander überlappende Platten aus hochpoliertem Titan, Zylinderspulen, die die Energiemassen übertrugen, die er bald nutzbar machen würde.

Energiekrise? In seinem runzligen Gesicht tat sich eine Lücke auf – ein Lächeln.

Die Welt wusste gar nicht, was diese Wörter bedeuteten: Energie, Krise. Wenn er seine Pläne verwirklichte, würden sich solche Probleme dagegen nur noch wie lächerliche Lappalien ausnehmen.

Als er jetzt auf dem elektrischen Golfwagen durch die riesigen, kathedralengroßen Hallen unter den Bergen fuhr, bekam er eine Gänsehaut. Jedoch nicht, weil es kalt war. Ein ausgeklügeltes Heizungssystem hielt die Temperatur auch hier, hundert Meter unter der Erdoberfläche, angenehm warm. Nein, weil diese unerwartete Komplikation eingetreten war.

Dieser Mönch, Zabala, hatte über zwanzig Jahre lang nach Hinweisen auf ein herannahendes, die Welt erschütterndes Ereignis gesucht. Offenbar war es ihm dabei um Tag und Stunde gegangen, um den genauen Zeitpunkt, an dem die Katastrophe stattfinden sollte. Und für diese Information hatte Tischenko Zabalas bestem Freund ein kleines Vermögen gezahlt. Da es dem Mann aber nicht gelungen war, Zabala sein Geheimnis zu entlocken, hatte Tischenko ihn bestraft – die Leiche würde niemals gefunden werden. Immerhin hatte der Mann Tischenko den Tag angeben können, an dem er der Menschheit seine furchtbare, zerstörerische Offenbarung beibringen konnte. Das Wort gefiel ihm. Offenbarung. Ja, das würde ein ganz außerordentlicher Augenblick sein.

Tischenkos Wissenschaftler beobachteten fortwährend die mächtigen Wetterfronten über dem Atlantik und bestätigten, dass der Tag, für den der Sturm erwartet wurde, exakt mit Zabalas Prophezeiung übereinstimmte. Eins machte ihm trotzdem immer noch Sorgen. Er wollte seine Katastrophe unbedingt auf die Sekunde genau zum richtigen Zeitpunkt entfesseln, um einen optimalen Erfolg zu erzielen. Absolute Macht verlangte absolutes Wissen.

Aberglaube nagte an seiner Logik wie ein Kind, das sich immer wieder eine Wunde aufkratzt. Vielleicht hatte der Mönch etwas besessen, das Tischenko fehlte – so etwas wie einen sechsten Sinn. Zabala hatte nicht nur Wissenschaft und Mathematik betrieben, sondern auch gebetet und meditiert. Er war einem dieser alten Meister ähnlich gewesen, die sich mit dem Universum verbunden fühlten und die Dinge auf überbewusster Ebene verstanden. Zabala hatte die Schöpfung durchschaut.

Und er hatte seine mystische Prophezeiung mit Tatsachen untermauert. Andere Wissenschaftler hätten Zabala wahrscheinlich immer noch ausgelacht, wenn er noch leben würde. Was aber, wenn sie das nicht getan hätten? Der Klimawandel machte den Forschern solche Sorgen, dass sie Informationen tauschten wie Kinder, die Fußballkarten sammeln. Nicht auszuschließen, dass sie doch noch dahinterkamen, was Tischenko vorhatte.

Fedir, denk daran, wer du bist, denk daran, weshalb du diesen Namen trägst – ein Geschenk Gottes.

Die Worte seiner Mutter beschwichtigten seine Zweifel.

Wie war dieser Max Gordon da hineingeraten? Tischenkos Leute überwachten seit Monaten alle möglichen Kommunikationswege und hörten jeden ab, der auch nur entfernt eine Bedrohung darstellte. Diese gesetzwidrige Bespitzelung von Umweltgruppen, Polizeibehörden, Wissenschaftlern und Ministerien hatte keinen Grund zur Besorgnis geliefert. Nichts bedrohte Tischenkos Pläne, da niemand von ihnen wusste – außer Zabala.

Nur ein lästiger Umweltaktivist, Tom Gordon, war kontaktiert worden. Zurzeit befand er sich in einem Sanatorium in England, aber sein Sohn hielt sich genau in dem Gebiet auf, in dem Zabala gelebt hatte.

Tischenko hasste Zufälle. Für ihn gab es so etwas nicht. Für ihn war es das Schicksal, das bestimmte Dinge zusammenführte wie ein Teilchenbeschleuniger, der Protonen mit Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen ließ – na ja, mit 99,999999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit, um genau zu sein –, wobei nicht einmal die Wissenschaftler wussten, was aus der so herbeigeführten Explosion hervorgehen würde.

Der Aberglaube regierte ihn.

Sie hatten alles noch einmal überprüft. Seit Wochen rief jemand jeden Freitagnachmittag aus den Pyrenäen das Sanatorium in England an und sprach mit Tom Gordon. Nach Lage der Dinge konnte das nur sein Sohn Max sein.

Der Junge hatte auch aus dem Krankenhaus in Pau angerufen – nach der Ermordung Zabalas. Und dann hatte er Zabalas Hütte in den Bergen aufgesucht.

Zufall?

Schicksal?

Seitdem Tischenko diese Information besaß, hatte er versucht, den Jungen aufzuhalten. Nur für den Fall, dass er etwas wusste. Aber der Junge hatte sich von seinen Leuten nicht einschüchtern lassen. Und jetzt war er jene unvorhergesehene Kleinigkeit, die seinen ganzen Plan zunichtemachen konnte.

Der Amerikaner, der Max Gordon geholfen hatte, war aus dem Weg geräumt. Die Deutschen, die den lästigen englischen Jungen in dem Château bei Biarritz gefangen nehmen sollten, hatten versagt und bereits ihre Strafe empfangen – ihre Leichen würden niemals gefunden werden. Jetzt sollten die Motorradjäger die Gegend um Biarritz durchkämmen, bis Max Gordon wieder auftauchte. Da er auch das Château in Hendaye besucht hatte, war die Wahrscheinlichkeit, dass er Zabalas Geheimnis entdeckte, umso größer.

Ohne es zu wissen, hatte Max Gordon es geschafft, ihn zu verunsichern. Tischenko musste diesen Jungen festsetzen und ein für alle Mal herausfinden, ob er Zabalas Geheimnis, das für ihn von so entscheidender Bedeutung war, aufgedeckt hatte oder nicht. Vor allem musste jetzt noch einmal genau nachgeprüft werden, ob der Vater seinem Sohn irgendwelche Anweisungen gegeben hatte. Wie? Es gab einen Mann, der vielleicht an ihn herankommen konnte. Früher war er mit Tom Gordon befreundet gewesen, aber dann hatte er ihn verraten.

Wäre es ein zu großes Risiko, diesen Mann loszuschicken?

Tischenkos Aberglaube verlangte am Ende, dass er ihn auf Max Gordons Vater ansetzte.

Und so gab er den Befehl – Kontakt mit Angelo Farentino aufnehmen.

 

Max wurde aus Sophie Fauvre einfach nicht schlau. Sie hatte erleichtert gelächelt, als er und Sayid zur Tür hereingekommen waren, war dann aber auf Distanz geblieben, fast als wollte sie sich nicht zwischen die beiden Freunde drängen. Max nickte erst nur und murmelte einen mürrischen Gruß, aber da ihm das dann doch zu unhöflich vorkam, lächelte er sie an und erzählte, Bobby und Peaches könnten vom Surfen wohl nicht genug bekommen, sie seien immer noch am Strand.

Er fühlte sich wie zu Hause. Sie bot ihnen Kaffee an, den sie vorbereitet hatte. Max dankte und nahm den Kuchenteller, den sie vor ihn hinstellte. Dann erzählte sie von dem Mann in dem schwarzen Audi. Max hörte mit besorgter Miene zu, sagte aber nichts. Sie streckte eine Hand aus, streichelte sein Gesicht und lächelte irgendwie traurig.

Für Sayid war das ein fürchterlich peinlicher Augenblick. Er beobachtete die beiden, die offenbar vergessen hatten, dass er mit ihnen am Tisch saß.

»Ich geh mich mal umziehen«, sagte Sophie schließlich und ließ die beiden Jungen allein.

Max ließ den Keks, den er in seinen Kaffee getaucht hatte, in den Becher zurückfallen. »Oh, klar. Natürlich. Okay«, stammelte er.

Als Sophie gegangen war, schnitt Sayid eine Grimasse. »Was sollte das denn jetzt?«

»Was?«

»Na, alles. Die hat dich ja fast aufgefressen. Ich dachte schon, sie wischt dir gleich die Kekskrümel vom Mund.«

»Sei nicht albern.«

»Wenn ich in den letzten Stunden was gegessen hätte, wär’s mir hochgekommen. Das war doch ganz übel. Ich sag dir, die bringt uns noch Ärger.«

Max rückte mit seinem Stuhl vom Tisch ab. »Was weißt du denn schon?«

»Ich weiß, dass ich mehr Schmerzen habe, als wenn Baskins und Hoggart mich verprügelt hätten. Stundenlang mit einem gebrochenen Bein herumzuspringen wie ein Grashüpfer – das hält doch keiner aus.«

»Sayid, einer dieser Kerle vom Krankenhaus hat ihr aufgelauert. Hast du denn nicht zugehört?«

»Und die anderen waren im Château! Wer auch immer die sein mögen, sie wissen alles. Max, du bist in Gefahr. Und jetzt überleg mal: Wer ist der einzige Mensch, der weiß, wo wir uns aufhalten?«

»Das mit dem Château hat sie nicht gewusst«, flüsterte Max wütend.

»Das kannst du nicht sicher wissen! Genauso wenig, wie du wissen kannst, ob dieser Kerl sie wirklich verfolgt hat. Das hat sie zwar behauptet, aber was beweist das schon? Würde mich nicht wundern, wenn der Kerl und sein Kumpel hier gleich aufkreuzten.«

Max fühlte sich hin- und hergerissen. Das war keine Frage der Vorgehensweise, wie im Fall, als der Deutsche und seine Schlägertruppe sie angegriffen hatten. Da hatten sein Körper und sein Verstand unmittelbar reagiert. Jetzt war es viel schlimmer, denn jetzt kämpften sein Herz und sein Verstand miteinander. Sie lebten bei Leuten, die sie mochten und sich um sie kümmerten. Wer von ihnen wusste, wo sie gewesen waren? Wer hatte sie verraten? Bobby konnte es nicht gewesen sein. Der hätte keine Gewalt im Haus seiner Großmutter geduldet. Aber wo steckte er nur? Mit dem Handy, das er ihnen gegeben hatte, konnte Max ihn nicht erreichen. Lag es daran, dass der Empfang hier in der Gegend schlecht war, oder meldete Bobby sich absichtlich nicht? Und Sophie? Max schüttelte den Kopf. Ein solches Misstrauen wollte er keinem hier im Haus entgegenbringen.

»Tut mir leid. Aber die Sache ist jetzt wirklich ernst und ich habe kein Problem damit, zuzugeben, dass ich Angst habe«, sagte Sayid, als ob er sich rechtfertigen müsste.

Daran kam Max nicht vorbei. »Nimm noch ein Stück Kuchen. Das bringt dich auf andere Gedanken.«

»Ich mach keine Witze, Max! «

»Ich weiß«, sagte er ernst.

Max war sich im Klaren darüber, dass Sayid sich bis hierhin unglaublich tapfer verhalten hatte. Sein Freund hatte seine Angst verdrängt, um ihm zu helfen. Möglich, dass Sayid das Abenteuer reizte, aber die hautnah erlebte Gefahr hatte ihm sichtlich zugesetzt. Max hatte nicht zum ersten Mal Gewalt erlebt – aber das änderte nichts daran, dass auch er Angst hatte. Der Unterschied zwischen ihnen war, dass Max diese Sache zu Ende bringen musste. Genau wie sein Dad es getan hätte.

Als Max durch die Küche ging, hörte er Stimmen und Lachen aus dem tragbaren Fernseher, den die Komtess ständig laufen zu haben schien. Die alte Dame saß an einem großen Holztisch. Eine Zigarette glomm zwischen ihren Lippen, der Rauch strich an ihren halb geschlossenen Augen vorbei, vor ihr stand ein großes Glas billigen Rotweins neben der halb geleerten Flasche.

Während sie Gemüse in kleine Würfel schnitt und vor sich aufstapelte, erzählte ihr Max mit knappen Worten von dem unbekannten Feind, der ihm am Château aufgelauert hatte. Sie hörte zu und fuhrwerkte dabei weiter mit ihrem großen Messer herum. Max staunte, dass sie sich nicht in die Finger schnitt. Schließlich blickte sie auf.

»Ich mache Suppe, und bevor du mich fragst: Ich habe Sophie nicht gesagt, wo du hinfährst«, sagte sie.

»Woher wussten Sie, dass ich das fragen wollte?«

»Das liegt doch auf der Hand, mon cher. Wer wusste davon? Ich, Robert und Sayid. Wer von uns dreien könnte dich verraten haben?«

»Was glauben Sie, wo Bobby steckt, Komtess?«

Sie nickte. »Eine vernünftige Frage. Er muss dir als Erster verdächtig erscheinen.«

»Nein, ich mache mir Sorgen um ihn. Er geht nicht an sein Telefon, und das Handy, das er uns gegeben hat, ist tot. Falls er uns anrufen wollte, warum hat er es dann nicht hier versucht? Er hatte versprochen, uns von d’Abbadies Château wieder abzuholen.«

Asche fiel von der Zigarette. Sie blies sie von dem Gemüse weg und drückte den Stummel in einem Stück Kartoffelschale aus. »Robert ist ein Kind der See und der Berge. Er reist mit dem Wind.«

»Er würde uns weder im Stich lassen noch verraten, Komtess, da bin ich mir ganz sicher.«

Sie unterbrach ihre Arbeit und zeigte mit dem Messer auf den Stuhl neben sich. Max nahm gehorsam Platz. Sie trank einen Schluck Wein und stellte mit der Fernbedienung den Ton des Fernsehers aus.

»Ich will dir von meinem Enkel erzählen. Er hat ständig Angst zu versagen. Sein Vater erwartet große Dinge von ihm. Er hat Angst vor seinem Vater. Er versteckt sich hinter seinem Sport. Vielleicht meint er, du bist in etwas hineingeraten, das eine Nummer zu groß für ihn ist.«

Sie sah Max an, der ihr aufmerksam zugehört hatte. Er fühlte mit dem älteren Jungen, der praktisch ganz allein war auf der Welt. Das konnte er nachvollziehen. Sie nahm seine Hand.

»Es ist nicht das erste Mal, dass er weggelaufen ist. Und jetzt hat er Peaches bei sich. Ein junger Mann, der mit seiner Freundin zusammen ist, hat es ein wenig leichter.«

Max nickte. Er konnte Bobby keinen Vorwurf machen, dass er sie im Stich gelassen hatte.

»Sophie hat mich gefragt, wo du bist. Ich habe es ihr nicht gesagt. Aber sie war ziemlich aufgewühlt. Das habe ich gesehen, obwohl sie sich nichts hat anmerken lassen. Ihr jungen Leute. Mein Gott, es ist wunderbar, jung zu sein – aber immer diese Gefühle! Die könnt ihr meinetwegen behalten!« Sie lächelte über sein verblüfftes Gesicht. »Du verstehst nicht, was ich meine?«

»Nein«, sagte er.

»Das kommt schon noch. Aber eins will ich dir sagen, Max, diese Geschichte ist noch nicht vorbei. Nimm dich in Acht! Auch vor dem Mädchen.«

Bestätigte die Komtess damit seine eigenen Zweifel?

»Denk an meine Worte«, sagte die Komtess. »Ich habe alles in den Karten gesehen.«

Ja, klar. Nur schade, dass die Karten ihr nicht gesagt hatten, wo Bobby steckte und wer eigentlich hinter ihnen her war und wo diese Leute jetzt sein mochten. Aus hübschen Bildchen die Zukunft zu erraten, war nicht gerade eine exakte Wissenschaft.

Max nahm das Blatt Papier mit dem Kreis und den Dreiecken darin aus der Tasche. Um das Puzzle zusammenzusetzen, brauchte er alle Teile, erst dann würde sich ein vollständiges Bild ergeben. Die Komtess war die Einzige weit und breit, die von diesem verrückten Zeug überhaupt irgendeine Ahnung zu haben schien. Verrückt, aber bedeutungsvoll. Andererseits wäre sie als Mitwisser dann auch in Gefahr. In großer Gefahr, nach allem, was Max bisher erlebt hatte.

Sie schien seine Gedanken zu erraten. »Ich bin eine alte Frau. Und sehr vergesslich. Manchmal weiß ich nicht einmal mehr, welcher Wochentag gerade ist. In gewisser Weise ist das ganz angenehm. Die Zeit steht still. Wie hat Bobby mal gesagt? Bei mir sind alle Schrauben locker.« Sie lächelte. »Ich habe schon mehr vergessen, als ich jemals gewusst habe.« Sie zeigte auf das Papier und zog die Augenbrauen hoch. »Noch mehr Geheimnisse?«

Max faltete das Blatt auseinander und zeigte auf den Kreis, die Dreiecke und die anderen Zeichen. »Wissen Sie, was das ist?« Er hielt es ihr hin und wartete, während sie einen flüchtigen Blick darauf warf.

»Das ist ein Geburtshoroskop«, sagte sie beinahe abfällig. »Und was ist das?«, fragte Max.

»Jeder Mensch wird zu einem bestimmten Zeitpunkt geboren. Jemand, der sich auf diese Dinge versteht, schaut sich die Sterne und Planeten am Himmel an und erstellt daraus ein Geburtshoroskop.«

Max dachte kurz nach. »So ähnlich wie ein Kompass? Mit dem man sich am Himmel orientieren kann?«

»So könnte man sagen, ja. Um diese Dinge zu deuten, braucht man viel Geschick. Ein solches Horoskop zeigt das ganze Leben eines Menschen, sein Schicksal. Mir zeigt es leider gar nichts. Ich verstehe nichts davon. Ich verrate dir ein Geheimnis, Max. Das ist mir zu schwierig. Genau wie Mathematik. Das konnte ich schon in der Schule nicht ausstehen. Ich denke gefühlsmäßig, nicht wissenschaftlich. Außerdem kann man solche Sachen heutzutage mit Computern machen. Das ist einfach nichts für mich.«

Sie schenkte sich den restlichen Wein ins Glas und legte die Flasche in einen Eimer, in dem sich schon einige leere Flaschen stapelten.

»Aber das hier ist ein ganz altes Horoskop. Das wurde vor zwanzig oder dreißig Jahren gemacht. Noch mit der Hand gezeichnet«, sagte Max.

»Dann besaß derjenige, der es gemacht hat, noch die alten Fähigkeiten«, sagte sie.

»Die alten Fähigkeiten?«

»Ich meine, wer das gemacht hat, muss über sehr altes Wissen verfügt haben«, erklärte sie, während sie die Gasflamme unter einem Topf mit kochendem Wasser kleiner drehte.

»Ich habe noch etwas anderes gefunden«, sagte er zögernd. Sie wartete.

»Ein Gemälde, auf dem zwei lateinische Wörter standen.« »Niemand spricht mehr Latein. Nicht mal Anwälte«, murmelte sie.

»Aber Sie haben lateinische Bücher hier im Haus. Habe ich selbst gesehen.«

»Du hast herumgeschnüffelt?«

»Ich habe einen Atlas gesucht.«

»Hast du einen gefunden?«

»Nein.«

»Und? Willst du verreisen?«

Wahrscheinlich hatte er schon viel zu viel gesagt. Es war besser, keine weiteren Fragen zu stellen. Er nickte, schob das Papier in die Tasche zurück und stand vom Tisch auf.

»Ich fahre nach England zurück. Zu meinem Vater. Ich brauche seine Hilfe.«

Sie zündete sich eine Zigarette an, nahm eine andere angebrochene Flasche Wein, füllte ihr Glas wieder auf und trank einen Schluck. Dann stellte sie den Ton des Fernsehers wieder an. »Das ist das Vernünftigste, was ich bis jetzt von dir gehört habe. Du brauchst einen Atlas, um den Weg nach Hause zu finden?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Dann suchst du also nach was anderem?«

Sie drehte sich zu ihm um.

»Was waren das für lateinische Wörter?«

»Lux Ferre. Ich meine, ich weiß, was diese Wörter ungefähr bedeuten, aber ich verstehe nicht, warum sie da auf diesem Bild waren.«

»In dem Château?«

Er nickte. Der strenge Geruch des Weins und der Rauch ihrer Zigarette mischten sich unangenehm mit dem Duft des kochenden Gemüses. Er wollte an die frische Luft, brauchte aber noch die Antwort auf seine letzte Frage.

»Also? Was haben sie zu bedeuten?«

»Irgendwas mit Licht.« Sie nickte. Klopfte umständlich ihre Zigarette ab. Dann schien sie zu einem Entschluss gekommen. »Lux Ferre wurde in der Antike von römischen Astrologen verwendet. Es bedeutet ›Lichtbringer‹. Später verschmolzen die beiden Wörter zu einem einzigen – Luxferre. Verstehst du jetzt? Heute bezeichnet man mit diesem Wort das Böse in der Welt. Luzifer.«

Max schwieg. Seine Gedanken rasten. Luzifer. Das letzte Wort, das Zabala ihm zugeschrien hatte. Das Wort, das ihm im Château begegnet war, eingeritzt in das Regalbrett, irgendwas mit Morgenlicht, dann Lux Ferre auf diesem Bild … Luzifer.

Brach ihm der Schweiß aus, weil es in der Küche so heiß und stickig war?

»Ich finde wirklich, du solltest nach Hause fahren«, sagte sie.

Er nickte. Er hatte schon beschlossen, ihr die anderen Dinge, die sie gefunden hatten, nicht zu zeigen: weder die Zahlen noch das andere Diagramm, das er am Teleskop von dem Anhänger abgezeichnet hatte. Sie hatte den Mann oder das Wesen identifiziert, vor dem Zabala solche Angst gehabt hatte.

Aber wieso brachte Luzifer Licht? Er war doch eine Macht der Finsternis, des Bösen.

»In der Bibliothek gibt es einen alten Atlas«, sagte die Komtess und begann die nächste Kartoffel zu schälen.

 

Wenn ein Geburtshoroskop so etwas wie ein Kompass war, lieferte es Max vielleicht auch einen Hinweis, wohin er als Nächstes gehen sollte. Tatsächlich fand er in der mit alten Büchern vollgestopften Bibliothek der Komtess einen Atlas, auf dessen verstaubten Seiten Länder zu sehen waren, die es gar nicht mehr gab.

Alles verändert sich, Max. Reiche werden erobert und verloren, das Klima schwankt, unser Schicksal ist ungewiss. Natürlich kannst du Pläne machen, aber erwarte nicht, dass sich alle verwirklichen lassen. Auf die Weise kommst du durch.

Die Worte seines Vaters trösteten ihn, als er die Zeichnung betrachtete, die er von dem Anhänger kopiert hatte: ein breites Dreieck, das ihn an die Zeit erinnerte, als er Orientierungsläufe gemacht hatte. Um zu ermitteln, wo genau man sich befindet, bedient man sich der Triangulation. Man nimmt zwei gut sichtbare Punkte im Gelände, bestimmt mit dem Kompass die Himmelsrichtung, in der sie liegen, zeichnet die Richtungslinien auf einer Karte ein, und dort, wo sie sich schneiden, ist der eigene Standort. Und dieses Dreieck sah auch so aus wie eine Triangulation. Natürlich nicht maßstabsgerecht, aber Max hatte ein gutes Auge und er hatte die Linien akkurat nachgezeichnet. Er legte die Zeichnung auf die Karte im Atlas, die Frankreich und einige seiner alten Kolonien in Nordafrika darstellte. Er drehte die Zeichnung hin und her, aber das ergab alles keinen Sinn, vor allem nicht die Buchstaben E, S und Q. Dann legte er eine Ecke des Dreiecks auf die Ausläufer der Pyrenäen, etwa dorthin, wo er jetzt war. Die kürzere Seite des Dreiecks wies in Richtung französische Alpen und Schweiz, auffälliger aber war die längere Seite – sie zeigte auf Nordafrika. Er nahm ein Lineal und legte es auf die Linie. Mach schon! Denk nach! Sollte diese Linie eine Richtung anzeigen? Der Maßstab des Atlas war nicht groß genug, als dass man Genaues daran ablesen konnte, aber die Linie zeigte eindeutig auf das Atlasgebirge in Marokko. Das konnte eigentlich kein Zufall sein. Dort war Sophie zu Hause. Die Gegend sah auf der Karte ziemlich öde aus, ganz anders als das üppige Europa. Wie käme er dorthin und was würde ihn dort erwarten?

 

Max, Sayid und Sophie saßen um den großen Tisch im Wohnzimmer und aßen Brot und Käse. Max riss sich ein Stück von einem Baguette ab und stopfte ein dickes Stück Käse hinein.

»Wir müssen hier weg, Max. Diese Männer haben mich in Biarritz gefunden, und ich weiß nicht, wie sie das geschafft haben. Und jetzt hat Sayid mir erzählt, was in dem Château passiert ist.«

Max geriet leicht in Panik. Was hatte er ihr sonst noch erzählt?

»War denn da gar nichts? Überhaupt keine Hinweise?«, fragte sie.

Sayid machte ein unschuldiges Gesicht, schob sich ein Stück Brot in den Mund und sah Max an. Der war erleichtert. Sayid hatte nichts wirklich Wichtiges erzählt, nur, dass sie angegriffen worden waren.

»Nein, da war nichts. Ich glaube, wir sind total auf dem Holzweg. Sayid und ich fahren nach England zurück.«

»Toll!«, sagte Sayid ein wenig zu begeistert. Er hatte die Nase voll von Abenteuern. Und England war eine sichere Zuflucht vor allen Verrückten dieser Welt.

Sophie reagierte nicht darauf. Insgeheim hatte Max gehofft, sie würde etwas dagegen einwenden. Daraus hätte er dann schließen können, wie sehr und ob sie überhaupt in dieses ganze Chaos verwickelt war.

»Ich kann für euch am Flughafen anrufen«, sagte sie.

»Nein. Das kann die Komtess machen«, entgegnete Max etwas überhastet. Ihre Motive waren ihm immer noch ein Rätsel. Aber sein instinktiver Überlebenswille war stärker als alle anderen Gefühle.

Bevor Sophie darauf antworten konnte, kam die Komtess ins Zimmer geschlurft. Sie schwenkte ein Küchenmesser, rief »Anmachen! Anmachen!« und zeigte auf den Fernseher.

Sayid saß am nächsten dran.

Gleich darauf füllte Max’ Gesicht den Bildschirm.

Keiner sagte etwas. Der französische Nachrichtensender zeigte ein Bild von Zabala und das Foto aus Max’ Reisepass. Dazwischen kamen Aufnahmen aus dem Lawinengebiet hinter Mont la Croix; ein Toter wurde auf einer Trage abtransportiert, und dann wurde Zabalas Berghütte gezeigt. Der Nachrichtensprecher sprach sehr schnell, aber deutlich genug.

Bruder Zabala, ein baskischer Mönch, war tot unter einer kürzlich abgegangenen Lawine aufgefunden worden. Die Obduktion hatte ergeben, dass er, bevor die Lawine ihn mitgerissen hatte, erschossen worden war. Des Weiteren wies die Leiche eine Stichwunde auf. Max Gordon, ein junger Engländer – wieder wurde Max’ Passbild gezeigt –, schien am Tod des Mönchs nicht unbeteiligt gewesen zu sein. Wie bei allen ausländischen Touristen in französischen Unterkünften war sein Pass fotokopiert worden. Etwa zwei Wochen vor dem Tod des Mönchs hatten Zeugen den Jungen gesehen, als er in der Nähe der Hütte des Einsiedlers durch die Berge gewandert war. Im Krankenhaus von Pau hatte der Junge den Aufenthaltsort von Zabala erfahren, und wenig später hatte ein Bauer beobachtet, wie er von der Einsiedelei auf dem Montagne Noire weggelaufen war. In der Hand des Toten hatte man diese Uhr gefunden – eine Nahaufnahme von Max’ Armbanduhr war jetzt zu sehen. Die Gravur auf der Rückseite identifizierte eindeutig ihren Besitzer: Max Gordon. Weitere Ermittlungen in der Berghütte ergaben – man sah Polizisten, die Kisten mit Material aus Zabalas Hütte trugen, Kriminalbeamte von der Spurensicherung, Spürhunde –, dass Blutspuren in der Hütte von dem Toten stammten. Und eine DNA-Analyse von Hautpartikeln unter den Fingernägeln des Toten und weiteren Blutspuren in der Hütte, die beide dem jungen Engländer zugeordnet werden konnten, lieferte den Beweis, dass es zwischen den beiden einen Kampf gegeben haben musste.

Ein Motiv für die Ermordung des Mönchs sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu erkennen, fuhr der Sprecher fort, aber die Polizei fahnde nach dem Jungen, weil er die Ermittlungen entscheidend voranbringen könnte. Gordon, 1,75 Meter groß, athletische Gestalt, blonde, unordentlich geschnittene Haare, blaugraue Augen, Gewicht etwa sechzig Kilogramm, werde als gefährlich eingestuft. Zeugen sollten sich bei der Polizei melden, aber nicht selbst eingreifen.

Dann erschien ein Reporter namens Laurent Messier auf dem Bildschirm. Hinter ihm erkannte Max das Krankenhaus in Pau.

»Ich stehe hier vor dem Krankenhaus in Pau, wo Max Gordon nach dem Lawinenunglück in Mont la Croix eingeliefert und von dem Neurologen Dr. Fabian Vagnier untersucht wurde.«

Der Reporter richtete sein Mikrofon auf den Arzt, der mit angemessen ernster Miene neben ihm stand. In seinem Streben nach Anerkennung verbog er die Wahrheit, sprach jedoch so schnell, dass Max kaum etwas verstand. Erst als der Reporter zusammenfassend einiges davon wiederholte, trat besonders ein Satzfetzen deutlich hervor: assassin et un sociopath. Mörder und Psychopath.

Alle waren schockiert. Die Komtess stellte den Ton aus und starrte Max an.

Schließlich brach Sayid das Schweigen.

»Ich hab nicht alles verstanden. Was war das da zum Schluss?«

Noch immer rührte sich niemand.

»Ein französischer Arzt behauptet, er habe bei der radiologischen Untersuchung von Max’ Gehirn nach dem Lawinenunfall eine Hirnaktivität festgestellt, wie sie häufig bei Gewalttätern anzutreffen sei«, sagte Sophie leise. »Bei Mördern.«

»Verdammter Mist«, zischte Sayid.

Alle sahen Max an. Er schob einen Ärmel hoch und zeigte Sophie und der Komtess die verblassten Kratzspuren. »Ich habe versucht, Zabala zu retten. Als er in die Tiefe stürzte, hat er meinen Arm zerkratzt und dabei die Uhr meines Vaters mitgerissen. Ich habe ihn nicht umgebracht. Aber ich habe den Mörder gesehen.«

»Hast du ihn erkannt?«, fragte Sophie hastig, und es klang beinahe beunruhigt.

Max sah ihr in die Augen und antwortete nach kurzem Zögern: »Nein, zu weit weg.«

Sie nickte und senkte den Blick.

Max wandte sich an die Komtess. »Ich schwöre es Ihnen, Komtess, ich habe ihn nicht umgebracht.«

Sie hatte sich nicht bewegt, hielt aber immer noch das Messer in ihrer Hand, als wollte sie sich damit verteidigen. Schließlich ließ sie es sinken und nickte.

»Natürlich nicht. Ich glaube dir. Aber auf jeden Fall steckst du jetzt ernstlich in Schwierigkeiten.« Sie sah zu dem stummen Bildschirm hinüber, und die anderen folgten ihrem Blick.

Gezeigt wurde ein Foto von Max; darunter stand in großen Buchstaben: Recherché pour meurtre.

Max Gordon: Gesucht wegen Mordes.