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Der Mann, der sich nahezu lautlos durch die letzten Etagen bewegt hatte, hatte mehr als die Hälfte seines Lebens in der französischen Fremdenlegion verbracht. Als er vor zwanzig Jahren in Marseille in diese legendäre Truppe aufgenommen worden war, hatte man über seine kriminelle Laufbahn als Jugendlicher hinweggesehen. Er bekam eine neue Identität und – für ihn und seinesgleichen noch wichtiger – eine neue Familie: die Legion. Nach seinem Ausscheiden fand er besser bezahlte Arbeit, bei der ihm seine speziellen Fertigkeiten gute Dienste leisteten.

Die Legion hatte ihm den Namen Corentin gegeben, ein keltisch-bretonischer Name, der Hurrikan bedeutet, und er besaß wirklich die Kraft und Energie eines Sturms. Aber er war nicht nur stark, sondern auch äußerst gewandt und bewegte sich leichtfüßig durch die kaum beleuchteten Korridore. Auch wenn nichts auf die Anwesenheit der beiden Jungen hindeutete, sagte ihm sein Instinkt, dass jemand durch diese Schwingtür gegangen war. Nachdem er der Schwester weisgemacht hatte, dass er das Gebäude verlassen wolle, hatte er sich systematisch durch die Stockwerke nach unten vorgearbeitet. Und jetzt hatte er etwas gehört.

Corentin trug eine 9-mm-Pistole – eine Glock 18 – und ein Kampfmesser mit kurzer Klinge. Unbewaffneter Nahkampf gehörte zu seinen besonderen Fähigkeiten, aber er würde weder diese Fertigkeiten noch die Waffen einsetzen müssen. Er jagte Kinder, keine Killer.

Sayid drückte sein Gesicht fest in das Bündel auf seiner Brust und hoffte verzweifelt, dass man seinen flachen Atem nicht hören konnte. Am unteren Ende des Lakens tauchten jetzt Schuhe mit weichen Sohlen auf. Ob Stress und Angst der Grund waren oder ob es an den Nachwirkungen der Medikamente lag, jedenfalls war Sayid kurz davor, ohnmächtig zu werden.

Corentin ging an der Bahre vorbei und noch zehn Schritte weiter, bis er ans Ende des Korridors gelangte. Er machte kehrt und blieb zögernd vor der Tür zum Leichenraum stehen. Er hatte schon viele übel zugerichtete Tote gesehen und auch selbst manche Morde begangen, etwas, wozu man Kraft und Aggressivität benötigte, aber ein Leichenkeller war ein stiller, unheimlicher Ort, an dem sich die Geister der Toten herumtrieben. Alter Aberglaube. Vielleicht auch das unbewusste Grauen vor der Gewissheit, dass er eines Tages selbst auf kalten Fliesen liegen würde, während ein Pathologe ihn aufschnitt, um herauszufinden, woran er gestorben war. Messer, Kugel, Explosion. Was würde es sein? Er dachte nicht darüber nach. Es spielte keine Rolle. Aber ein Leichenkeller …

Corentin machte die Tür vorsichtig auf und roch sofort den widerlich süßlichen Gestank von Balsamierflüssigkeit und all den anderen Sachen, die diese Ärzte des Todes benutzen mochten. Er sah sich rasch um. Edelstahlschränke. Eine Bahre mit einer Leiche drauf.

Okay. Niemand da. Er trat zurück. Seine Instinkte schlugen Alarm. Er hatte sich von einer dummen, kindischen Angst aus der Ruhe bringen lassen, und jetzt war jemand hinter ihm. Er wirbelte herum, die Automatik in der Hand, bereit, den lautlosen Verfolger zu erschießen.

»Ich bin’s!«, zischte sein Partner Thierry mit halb erhobenen Händen.

Corentin ließ langsam die Pistole sinken. »Thierry. Um Gottes willen!«

Die beiden Männer arbeiteten seit über zwölf Jahren zusammen und waren ein gutes Team. »So nervös? Du wirst alt, Mann«, sagte sein Freund. »Was gefunden?«

»Nein. Du?«

»Hier unten gibt es eine Tiefgarage. Aber alles sehr schlecht gesichert. Und das in diesen Zeiten …«

Corentin unterbrach ihn. »Hast du keinen von diesen Jungen gesehen?«

»Nein. Nichts. Komm, wir vergeuden hier nur unsere Zeit. Was sollen die beiden schon wissen?«

»Genug, um uns zu geben, was wir brauchen. Wir verschwinden von hier. Die Spur ist kalt.«

Corentin folgte seinem Partner durch die Schwingtür, schob aber vorher noch den Riegel der Leichenraumtür zu.

Die Geister der Toten sollten bleiben, wo sie hingehören, dachte er.

 

Max wartete. Die gedämpften Stimmen, die auf Französisch miteinander gesprochen hatten, waren nicht zu verstehen gewesen. Dann klapperte der Riegel, die Schwingtür ging auf und klappte wieder zu. Für den Fall, dass die Männer sie täuschen wollten, um sie herauszulocken, blieb er noch ein paar Minuten reglos liegen, bevor er das Laken von sich warf.

Sein Herz hatte so laut gehämmert wie der Riegel, der vor die Tür geschoben worden war. Er zerrte an der Klinke. Aber vergeblich.

Max schlug leise an die Tür. »Sayid. Ich bin eingeschlossen.

Sayid?«, flüsterte er. Er lauschte. Nichts. Die konnten ihn doch nicht mitgenommen haben? Ihn geknebelt und weggetragen haben?

Max zog die Bahre an die Tür, arretierte die Feststellbremsen und kletterte hinauf. Durch das halb offene Oberlicht sah er die andere Bahre. Keine Spur von den zwei Männern. »Sayid?«, flüsterte er etwas lauter und lauschte angestrengt. Aber was er hörte, machte ihm noch mehr Angst, als er vorhin auf der Flucht vor dem Verfolger empfunden hatte: Sein Freund schnarchte. Ohne Sayids Hilfe kam er hier nicht raus.

Das Oberlicht war zwar nach außen aufgeklappt, aber viel zu schmal, als dass Max hindurchgepasst hätte. Er schob eine Hand hindurch und warf einen Schuh nach Sayid.

Volltreffer! Er traf das Laken genau an der Stelle, wo er Sayids Kopf vermutete, und vernahm ein lautes Stöhnen. Gut! Das dürfte reichen. Aber die Freude währte nicht lange, denn gleich darauf ging das Stöhnen wieder in ein rhythmisches Schnarchen über.

Mit Sayid konnte er nicht rechnen.

Max saß in der Falle.

 

Bobby Morrell hatte seinen Wagen dreihundert Meter vor dem Krankenhaus geparkt. Die Straße führte leicht bergauf, sodass er einen guten Blick auf das gesamte Krankenhausgelände hatte. Die beiden anderen Snowboarder lagen bereits in ihren Schlafsäcken auf der Matratze hinten im Kleinbus. Das Ganze dauerte viel länger, als Bobby erwartet hatte. Er wollte gerade aussteigen und sich auf die Suche nach Max und Sayid machen, als er zwei Männer aus den Schatten an der Rückseite des Gebäudes kommen und über den Parkplatz gehen sah. Sie stiegen in einen schwarzen Audi, den Bobby bis dahin gar nicht bemerkt hatte. Er duckte sich, als die blau getönten Scheinwerfer beim Losfahren über den Kleinbus strichen.

Die Kerle sehen verdammt übel aus. Die essen bestimmt keine Milchbrötchen zum Frühstück.

Vielleicht war es doch besser, im Bus zu warten. Nur für den Fall, dass diese Jungs Freunde hatten.

 

Die Tür des Kühlraums war von außen verriegelt. Max hatte keine Möglichkeit, sie zu öffnen, auch nicht mit Gewalt, und eine andere Tür gab es nicht. Vielleicht konnte er das Oberlicht mit seinem Körpergewicht eindrücken und versuchen, sich da irgendwie durchzuquetschen. Aber dabei bestand die Gefahr, dass er sich an den Glasscherben die Beine aufschnitt, und falls er die Oberschenkelarterie erwischte, würde er in wenigen Minuten verbluten – obwohl er in einem Krankenhaus war.

Sayids unvermindertes Schnarchen reizte Max zunehmend, während er das Oberlicht nach irgendeiner Schwachstelle abtastete. Vielleicht war ja eins der Scharniere locker und er konnte es aufhebeln? Nein, alles fest. Mehrere Lackschichten hatten die Angeln im Lauf der Jahre untrennbar mit dem Holz verbunden. Beweglich waren nur die gut geölten Angeln selbst. Dann bemerkte Max die kleine, spindelförmige Sperrvorrichtung und die daran hängende Schnur, mit der das Oberlicht auf- und zugemacht werden konnte.

Er zog daran, aber das Fenster ließ sich nicht weiter öffnen. Wenn er die Schnur abreißen und eine Schlinge daraus machen konnte, gelang es ihm vielleicht, sie auf der anderen Seite hinabzulassen und um den Riegel zu schlingen.

Er packte die Schnur mit beiden Händen und zerrte daran, aber sie hielt. Dann sah er, dass sie an der Sperre vom häufigen Gebrauch ein wenig ausgefranst war. Er packte noch einmal zu, noch fester, und zog mit einem kräftigen Ruck. Jetzt riss die Schnur entzwei. Er nahm sie und machte an das eine Ende einen Henkersknoten, der sich zusammenziehen würde, wenn er ihn um den Riegel geschlungen hatte. Als er sich gerade aus dem Oberlicht beugen wollte, stellte er fest, dass er gerade mal einen Arm durchstecken konnte.

Max spähte nach unten. Der Riegel befand sich etwa einen Meter unter ihm. Er ließ die Schnur durch die Lücke hinab und angelte nach dem Riegel, ohne etwas zu sehen, nur mithilfe des Bildes, das er im Kopf hatte. Nach einem halben Dutzend Versuchen spürte er einen leichten Ruck. Er zog den Arm vorsichtig nach oben, hielt die Schnur gut fest, spähte wieder nach unten und sah, dass die Schlinge sich fest um den Riegel gelegt hatte. Er schob den Arm wieder zurück, drückte sein Gesicht an den Rand des Fensters und zerrte die Schnur zur Seite. Nichts. Der Riegel klemmte zwischen Tür und Rahmen. Irgendwie musste er ihn freibekommen. Jetzt wäre ein Erdbeben genau das Richtige, um das Ding loszurütteln. Also gut. Dann ein Erdbeben.

Immer noch oben auf der Bahre balancierend, zog er seine Strümpfe an und schnürte den einen Stiefel zu, den er noch hatte. Der Riegel befand sich unmittelbar unter der Türklinke. Er stützte sich mit einer Hand ab, hielt mit der anderen die Schnur stramm und trat mehrmals heftig gegen die Tür, während er gleichzeitig mit aller Kraft an der Schnur zog. Zu seinem Frust gesellte sich jetzt auch noch Angst – er wusste ja nicht, ob die Männer noch im Gebäude waren –, trotzdem hämmerte er so laut gegen die Tür, dass man Tote damit hätte wecken können. Zum Glück beklagte sich niemand.

Mach schon! Geh AUF!

Noch ein Tritt, noch ein Ruck und der Riegel krachte zur Seite. Die Tür flog auf, gleichzeitig schoss die Bahre nach vorn und als sie Sayid rammte, warf Max sich nach hinten.

Sayid schlug verschlafen die Augen auf und gähnte, während er sich auf den Fußboden gleiten ließ.

»Max?«

Dann kam die Erinnerung zurück.

»Wo ist dieser Kerl?«

»Weg«, sagte Max und zog sich den anderen Stiefel an. »Und wir verschwinden jetzt auch von hier.«

»Toll. Und warum hast du bloß einen Stiefel an?«

 

Bobby blendete kurz die Scheinwerfer auf, als er die beiden aus demselben dunklen Bereich wie vorhin die zwei Männer kommen sah.

»Hab mir schon Sorgen gemacht«, sagte er, als Max Sayid im Rollstuhl vor die Schiebetür des Kleinbusses schob.

Einer von Bobbys Freunden half Sayid auf die Matratze hinten im Bus und sicherte ihn links und rechts mit zusammengerollten Schlafsäcken.

»Bestimmt nicht so viel wie ich«, sagte Max und klappte den Rollstuhl zusammen.

»Hast du die beiden Knochenbrecher gesehen?«

»Allerdings. Die waren hinter uns her. Wenn ich nur wüsste, wer das ist. Wahrscheinlich denken sie, ich hätte was mit Sophies Tierschützern zu tun.«

Er saß jetzt vorne bei Bobby, und Sayid hatte sich mit einem Schlafsack zugedeckt.

»Sophie? Was für eine Sophie?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Max und faltete die schmuddelige Landkarte auf, die auf dem Armaturenbrett gelegen hatte. »Auf jeden Fall muss ich nach …« Er fuhr mit einem Finger die Landstraße von den Bergen zur Küste ab. »Ungefähr hier. La Vallée de la Montagne Noire.«

»Wir wär’s mit Biarritz? Du musst dich mal was ausruhen, Mann«, sagte Bobby, während er langsam auf die leere Straße einbog.

»Setz mich da ab und sag mir, wo du hinfährst. Morgen Abend komme ich nach.« Max rieb sich die Müdigkeit aus den Augen. »Jetzt muss ich erst einmal nachdenken, ich darf auf keinen Fall einnicken. Kannst du Musik anmachen?«

»Klar. Und was ist mit ihm?«, fragte Bobby und zeigte auf Sayid, der schon wieder eingeschlafen war und jeden Moment zu schnarchen anfangen würde.

»Der hat genug geschlafen, das reicht für eine Ewigkeit. Lass krachen.«

Bobby machte das Radio an. Laute Rockmusik dröhnte aus dem Kleinbus, als sie auf die Bergstraße zusteuerten.

In wenigen Stunden waren Bobby und die anderen am wilden Atlantik.

Und Max hatte ein Rendezvous mit einem Toten.