Kapitel 21

 

Benjamin legte sich ins Gras, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Ich betrachtete ein paar Rhododendren, an denen sich riesige, violette Blütenknospen langsam entfalteten. Morio streckte sich auf der Bank aus und legte den Kopf in meinen Schoß, als verbrächten wir hier nur einen gemütlichen Nachmittag und leisteten meinem »Cousin« Gesellschaft.

»Vor einem Jahr«, begann Benjamin leise, »war ich draußen in der Nähe des Mount Rainier wandern. Ich habe ganz allein eine Tagestour gemacht. Ich bin bis über den Goat Creek rausgelaufen - irgendetwas hat mich gedrängt, in diese Richtung zu gehen, also habe ich es getan. Dann bin ich vom Weg abgebogen und auf den Misery Rock zugegangen, und da habe ich die Höhle gesehen.«

Ich spitzte unwillkürlich die Ohren, warf einen raschen Blick in seine Richtung und streichelte dann wieder mit Blick auf die blühenden Rhododendren Morios Stirn. »Du sagst, du hast diese Höhle jenseits des Goat Creek gefunden?« Das war in der Nähe von Smokys Bau - ein paar Kilometer in der Wildnis hinter dem Haus und seinem Hügel.

»Ja«, murmelte er. »Ich bin darüber gestolpert. In der Karte war sie nicht verzeichnet.

Die Öffnung war von Moos und Ranken verdeckt, die habe ich beiseite gezogen und bin reingegangen. Die Höhle ... hat sich irgendwie seltsam angefühlt. Als wäre ich gerade in eine andere Dimension oder Welt getreten. Ich kann es nicht richtig erklären, aber du verstehst das vielleicht.«

Oh, allerdings. Ein Portal - das musste ein Portal gewesen sein. Was bedeutete, dass er entweder in die Anderwelt gereist war oder in irgendein anderes überirdisches Reich.

»Erzähl weiter«, flüsterte ich.

»Die Höhle war voller Kristalle in allen möglichen Schattierungen, grün, violett, blau und rot. Manche waren so groß wie ich und ragten aus dem Boden oder hingen von der Decke herab. Ich habe Angst bekommen. Ich weiß, dass wir hier in Washington State keine solchen Höhlen haben. Ich wollte sie eigentlich wieder verlassen ... aber sie war zu schön. Ich musste einfach weitergehen.«

Ich schloss die Augen. Neugier war schon vielen Geschöpfen zum Verhängnis geworden, vor allem den zweibeinigen Arten. »Du hattest Glück, dass du lebend wieder herausgekommen bist, Benjamin. Was hast du da drin gefunden?«

Er zupfte einen langen Grashalm ab und spielte damit herum, machte Knoten hinein und strich mit der scharfen Kante über seinen Daumen, bis ein schimmerndes Tröpfchen Blut hervortrat. »Da war ein Schwert - mitten in der Höhle. Und ich habe eine Frau gesehen, die in einem riesigen Stalagmiten aus Quarz eingeschlossen war.

Ich habe an den Kristall geklopft, aber anscheinend konnte sie mich nicht hören. Also habe ich das Schwert aufgehoben ...«Er verstummte, warf den Grashalm weg und zupfte einen neuen aus. Seine Stimme zitterte, und er sah aus, als sei ihm schlecht.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Morio mit immer noch geschlossenen Augen.

Ben räusperte sich. »Ich weiß nicht. Jedes Mal, wenn ich nur an das ... das Schwert denke, bricht mir der Schweiß aus.«

»Wie hat es ausgesehen? Steckte es vielleicht in einem Stein?« Ich betete darum, dass wir es nicht mit irgendeinem seltsamen Riss im Raum zu tun hatten, der uns nach Avalon bringen würde - aber andererseits, was hätte Avalon hier zu suchen? Und Arthur war ein Mann gewesen, keine Frau.

»Das Schwert ... das Schwert ...« Benjamin hörte sich an, als wäre er am liebsten in Tränen ausgebrochen. Seine Augen leuchteten gefährlich, und ich hob vorsichtig den Blick, um mich zu vergewissern, dass die Wärter nichts bemerkt hatten. Aber wir hatten Glück. Sie waren gerade mit einer anderen Gruppe von Patienten beschäftigt, bei denen offenbar wegen eines Boule-Spiels eine kleine Rauferei ausgebrochen war.

Ich hätte Ben gern zur Eile gedrängt, aber ich fürchtete, dass jegliche Art von Druck ein Fehler wäre - vermutlich würde er einen seiner Anfälle bekommen. Oder kein Wort mehr sagen.

Gleich darauf schluchzte er leise. »Das Schwert lag auf einem Podest - wie ein kleiner Tisch. Es war aus Silber, mit einem Amethyst im Heft - einem sehr großen. Ich habe es angefasst und gespürt, wie etwas versucht hat, in meinen Geist einzudringen -es war wie eine riesige Masse von Fühlern, die sich in meinen Schädel winden wollten...«

Das Geistsiegel. Der Amethyst musste tatsächlich das Geistsiegel sein.

Plötzlich sprang er auf. »Ich muss mich bewegen. Ihr bleibt am besten ein paar Schritte hinter mir und bewundert die Landschaft.«

Wir gehorchten und schlenderten Hand in Hand hinter Benjamin her, der sich nervös den Pfad entlang drückte. Als wir von einer Gruppe Eichen zu ein paar Weiden hinüberspazierten, warfen die Wärter uns einen Blick zu. Ich winkte und lächelte breit.

Sie nickten und nahmen ihren Versuch wieder auf, den Streit zwischen den Boule-Freunden zu schlichten.

Nach ein paar Minuten lehnte Ben sich an einen Baum, und ich ließ mich an einem nahen Picknicktisch nieder. Morio sank vor mir aufs Gras.

»Ihr werdet mich für verrückt halten«, sagte Ben. »Oder vielleicht doch nicht. Aber vielleicht bin ich ja wirklich verrückt und sollte für immer hier eingesperrt bleiben.

Ich habe das Schwert in die Hand genommen, und es hat sich angefühlt, als ... als könnte ich alles verstehen, was es nur zu wissen gibt, wenn ich mich genug anstrenge.

Es war, als hätte sich mein Geist geöffnet und würde lauter Wissen und Bilder einsaugen. Aber dann hat sich plötzlich der Boden bewegt, und mir ist klar geworden, dass ich mitten in einer Höhle war und es ein Erdbeben gab. Ich habe das Schwert fallen lassen und bin losgerannt. Es hat eine Weile gedauert, bis ich den Ausgang gefunden habe.«

Er ließ den Kopf hängen und scharrte mit einem Fuß am Boden. »Als ich endlich mein Auto erreicht hatte, konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, wie man Auto fährt.

Ich war zu durcheinander. Alles erschien mir so anders als vorher, aber ich war nicht sicher, ob ich die ganze Geschichte mit der Höhle nur geträumt hatte oder ob sie wirklich passiert war. Ich habe versucht, meine Mutter anzurufen, aber mein Handy hat nicht funktioniert.«

»Bist du denn klargekommen?« Ich fragte mich, was passieren würde, wenn wir unsere Handys mit heim in die Anderwelt nahmen. Würden sie im Portal kaputt gehen? Menolly und ich hatten die Handys bei unserem Besuch in Aladril zu Hause gelassen.

»Nein. Ich bin den Highway entlanggelaufen, und ein Polizist hat mich irgendwann aufgelesen und ins Krankenhaus gebracht. Er dachte, ich hätte Drogen genommen. Im Krankenhaus haben sie gesagt, ich stünde unter Schock. Ich bin eingeschlafen, nachdem sie mir fünf verschiedene Beruhigungsmittel gegeben haben. Das war die erste Nacht, in der ich von den Dämonen geträumt habe.«

Der Ausdruck, der sich nun über sein Gesicht breitete, verwandelte ihn förmlich. Binnen Sekunden wurde er von einem bekümmerten jungen Mann zum verängstigten Opfer, das panisch einen Fluchtweg suchte. Was zum Teufel war da passiert? Hatte das Geistsiegel die Träume ausgelöst? Und was war das mit dieser Bewusstseinserweiterung?

Während ich ihn aus dem Augenwinkel beobachtete, bemerkte ich einen schwachen Schimmer in seiner Aura. Normalerweise sah ich die Aura anderer Leute überhaupt nicht - außer ich gab mir Mühe. Aber da war mehr in Benjamins Energie. Etwas glitzerte und bewegte sich auf eine Art, die ...

Ich unterdrückte den Impuls, mir die Hand vor den Mund zu schlagen, und zwang mich, beim Thema zu bleiben. »Was sind das für Träume?«

»Sie kommen mehrmals pro Woche. Es sind vor allem Bilder von Dämonen - riesige Dämonen mit Hörnern, andere sind ganz aufgedunsen und plump. Wieder andere sehen aus wie wir - wie Menschen -, aber ich weiß, dass sie keine sind. Und sie treiben eine Wand aus Tod und Zerstörung vor sich her, reißen ganze Landschaften auf und hinterlassen Städte, die nur noch Ruinen sind. Sie zerstören den ganzen Planeten, und uns mit ihm. Die Regierung versucht sie aufzuhalten, indem sie Atomwaffen gegen sie einsetzt. Die ganze Welt geht in Flammen auf.«

Nun liefen ihm Tränen über die Wangen. »Ich bin so müde. Ich kann nicht mehr denken. Ich träume nur noch, und wenn ich versuche, wach zu bleiben, damit ich nicht träumen muss, pumpen sie mich mit Medikamenten voll, bis ich doch schlafe. Helft mir. Helft ihr mir bitte hier raus? Ich dachte, hier könnte ich mich verstecken, aber das kann ich nicht, und jetzt bringe ich sie nicht mehr dazu, mich zu entlassen. Meine Familie hält mich hier eingesperrt.«

Seine Stimme klang so kläglich, dass ich hätte weinen mögen. Hilflos starrte ich Morio an. Was konnten wir da tun? Seine Familie würde uns die Hölle heiß machen, wenn sie dahinter kamen, dass wir ihn befreit hatten.

Aber was, wenn er wegliefe - wenn er einfach verschwinden würde? Würde seine Familie großen Wirbel darum machen? Vermutlich würden sie die Klinik verklagen, aber in diesem Zustand wollten sie ihn eigentlich nicht zurückhaben, das war ziemlich offensichtlich.

»Wir werden alles versuchen, Benjamin«, sagte ich. »Das verspreche ich dir - wir werden es versuchen. Danke, dass du mit uns gesprochen hast.«

»Ihr seid keine Menschen. Ihr seid Engel... Schutzengel. Es ist mir egal, was die Leute über Feen sagen. Gott hat euch hergeschickt.« Benjamin schüttelte sich, als wäre er eben aufgewacht. »Ihr geht jetzt besser, ehe sie Verdacht schöpfen. Meine Familie bleibt nie länger als eine Viertelstunde.«

Wir standen auf und winkten die Wärter herbei. Einer begleitete uns zurück zum Hauptgebäude. Der andere brachte Benjamin in sein Zimmer. Als ich über die Schulter zurückschaute, sah ich, wie er sich mit hängendem Kopf und schlurfenden Schritten abführen ließ. Wir mussten eine Möglichkeit finden, ihm zu helfen.

Ich schaute noch einmal schnell bei Schwester Richards vorbei und machte ihr sehr charmant klar, dass mein Besuch Benjamin gutgetan hatte und es wohl besser wäre, seinen Eltern gegenüber nichts davon zu erwähnen, falls sie wieder einmal vorbeischauten. Wir verabschiedeten uns mit der Einladung, so bald wie möglich wiederzukommen.

Auf der Heimfahrt gingen wir seine Geschichte immer wieder durch.

Das Schwert - die Höhle - die Träume ... Meine Gedanken kehrten ständig zu Morganas und Titanias Worten über Aeval zurück. Konnte die Dunkle Königin die Frau sein, die Benjamin in dem Kristall eingeschlossen gesehen hatte?

Wir fuhren in nördlicher Richtung zurück nach Seattle und erreichten endlich Belles-Faire. Als ich an Tucker's Hähnchenstand vorbeikam, fuhr ich rechts ran. Tucker machte das beste Brathähnchen, das ich je gekostet hatte. Ich lud einen Rieseneimer mit vierundzwanzig Hühnchenteilen, eine Schüssel Coleslaw, einen Schokocremekuchen und eine große Schachtel Kekse in den Kofferraum. Dann hielt ich am Drive-in-Schalter von Starbucks und holte mir einen vierfachen Caramel Venti Mocha auf Eis. Morio starrte den riesigen Pappbecher an, auf dem ein rundes Sahnehäubchen prangte, und schüttelte den Kopf.

»Wie kannst du nur so viel essen? Du nimmst trotzdem nie zu.« Er hatte sich einen großen Kaffee mit Milch und Zucker bestellt.

»Ich bin nicht gerade dürr, das muss ich schon sagen. Aber unser Stoffwechsel läuft schneller als der von normalen Menschen, wegen des Anteils an Feenblut. Wir müssen viel essen.« Ich sog an dem Strohhalm und lächelte, als der köstliche Geschmack von karamellisiertem Zucker und leicht bitterem Kaffee eiskalt durch meine Kehle rann.

»Mm. Köstlich.«

Ich wechselte stirnrunzelnd die Spur. Der Berufsverkehr hatte eingesetzt, und wir saßen mitten in Belles-Faire im Feierabendstau fest. Ich musste möglichst bald in die linke Spur rüberkommen, um abzubiegen.

»Ich nehme an, du isst mit uns?«, fragte ich und schob mein Auto vorsichtig zwischen einen Hummer und ein Gefährt, das einmal ein VW-Bus gewesen war, aber jetzt nur noch wie ein jämmerlicher Überlebender der Hippie-Generation wirkte. Er trug mindestens zehn Schichten Lack, von denen hier und da etwas abblätterte, was ihm dieses psychedelische Etwas verlieh, und seine Abgase hätten ein Pferd ersticken können.

»Natürlich. Ich esse bei euch und bleibe über Nacht«, antwortete er.

In diesem Moment klingelte Iris' Handy. Morio holte es aus meiner Handtasche und klappte es auf. »Ja? Was? Okay, wir sind schon unterwegs. Aber wir stehen im Stau, also brauchen wir noch etwa zwanzig Minuten, wenn es so langsam weitergeht.« Er klappte das Handy zu und steckte es wieder in meine Handtasche.

»Schon wieder Arger?« Alles, was uns jetzt noch fehlte, war der nächste Haufen feindseliger Geschöpfe, die aus irgendwelchen Portalen purzelten. Ich glaubte nicht, dass ich noch einen Goblin-Kampf überstehen würde - oder einen Troll-Kampf -oder irgendeinen Kampf. Jedenfalls nicht vor morgen.

»Kann sein. Ich weiß es nicht. Iris ist nach draußen gegangen, um Feddrah-Dahns sein Abendessen zu bringen, und er ist weg. Der Pixie ist auch verschwunden. Keiner von beiden hat ihr Bescheid gesagt, dass sie irgendwohin wollten, und anscheinend hat Iris Blutflecken im Gras gefunden, in der Nähe der Stelle, wo das Einhorn sich niedergelassen hatte. Sie glaubt, das sei Einhornblut«, berichtete Morio leise.

Ich stöhnte. »O nein. Dem Kronprinzen der Dahns-Einhörner darf auf unserem Grund und Boden einfach nichts zugestoßen sein. Das darf nicht wahr sein. Ich will auf keinen Fall, dass sein Vater hier herüberkommt und sich uns vornimmt, weil wir seinen Sohn in Gefahr gebracht haben.«

»Vielleicht hat er sich nur an einem Stück Draht oder einem rostigen Nagel verletzt und ist losgegangen, um Hilfe zu suchen.« Morio wollte mir helfen, aber ich wusste - weil in meinem Leben das Worst-Case-Szenario immer am wahrscheinlichsten zu sein schien -, dass des Rätsels Lösung viel schlimmer sein musste. So leicht würden wir ganz sicher nicht davonkommen. Die Ewigen Alten waren offenbar entschlossen, uns auf jedem Schritt dieser Reise Blut und Wasser schwitzen zu lassen.

»Irgendwas stimmt da nicht, darauf wette ich. Hat sie erwähnt, ob die Banne gebrochen wurden?«

Morio schüttelte den Kopf. »Nein, von den Bannen hat sie nichts gesagt.«

Ich drückte das Gaspedal durch, als wir endlich die Kreuzung erreicht hatten, an der unsere Straße abzweigte. Ich wollte schon in unsere Einfahrt abbiegen, als hinter mir eine Sirene aufheulte. »Na großartig, das hat uns gerade noch gefehlt.«

Langsam fuhr ich rechts ran und ließ dabei gleich die Masken vor meinem Glamour sinken. Bei den Göttern, eine Person war nun einmal nur in gewissen Grenzen belastbar, und meine waren vor zwanzig Sekunden überschritten worden. Ich ließ das Seitenfenster herunter und blickte in das Gesicht des Polizisten auf, der mich angehalten hatte. Ich war bereit, ihm mit meinem Charme die Hose auszuziehen und ihn unter den Tisch zu ficken, solange er mir nur keinen Strafzettel gab.

»He, meine Schöne, du lässt gerade so viel Sex-Appeal vor meiner Nase herumbaumeln, dass deine Schwester allen Grund hätte, dir die Augen auszukratzen.

Ich bin nur ein Mensch, Herrgott noch mal.« Chase stand da, an mein Fenster gelehnt, mit einem gierigen Grinsen im Gesicht.

Da ich nicht recht wusste, ob ich ihn schlagen oder küssen sollte, schüttelte ich nur den Kopf und stellte meinen Glamour wieder ab. »Los, du Idiot. Sieh zu, dass du ins Haus kommst. Wir müssen ein Einhorn und einen Pixie als vermisst melden.«

Während Chase lachend zu seinem Auto spazierte, warf ich Morio einen scharfen Blick zu. »Kein Wort, Freundchen. Kein einziges Wort.«