Kapitel 18

 

Morio und ich sprachen unterwegs nicht viel. Es gab auch nicht viel zu sagen, und die Spekulationen wollte ich mir aufheben, bis Delilah und Menolly dabei waren, damit wir nicht alles zwei Mal durchsprechen mussten.

Als wir in der Auffahrt hielten, kam mir ein Gedanke. »Du hast mir noch gar nicht erzählt, was weiter in dem Teppichgeschäft passiert ist.«

»Nicht viel. Ich habe versucht, ein bisschen herumzuschnüffeln, aber diese Dschinniya hat mich nicht mehr aus den Augen gelassen, sobald sie gemerkt hatte, dass ich eigentlich gar keinen Teppich kaufen wollte. Ich hatte keinen Vorwand, mich noch länger da herumzudrücken, also bin ich gegangen. Aber ich wette, sie haben Überwachungskameras, und ein Bild von mir hängt jetzt im Büro, damit alle gewarnt sind, dass man auf mich aufpassen muss.«

Er öffnete mir die Tür, und ich stieg aus und atmete tief durch. Es war schön, zu Hause zu sein. Während ich zum Haus aufblickte, hatte ich das Gefühl, die vergangenen achtzehn Stunden in einem Traum verbracht zu haben. Ich schnappte mir meine Tasche, lief die Treppe hinauf und platzte ins Haus.

»Ich bin wieder da!«, rief ich, doch meine Worte gingen in einem Aufruhr unter.

Iris und Delilah waren im Wohnzimmer, und Delilah drückte mit verzweifeltem Gesicht Tasten auf ihrem Handy.

»Camille! Dem Himmel sei Dank, dass du da bist. Ich versuche schon seit einer halben Stunde, dich zu erreichen. Wir haben einen Notfall.« Sie klappte das Handy zu und schob es sich hastig in die Hosentasche. Ihre Jeans war wie üblich an diversen Stellen zerrissen, und auf ihrem ärmellosen T-Shirt war ein hübscher Perser abgebildet. Kater, nicht Dämon.

»Was ist passiert?« Ich holte mein Handy hervor und stöhnte. »Na toll. Anscheinend hat der Aufenthalt in Smokys Höhle meinen Akku ruiniert.«

Morio überprüfte sein Handy. »Meinen auch. Okay, wir merken uns: Alle Handys vor der Höhle lassen. Ebenso Laptops, Blackberrys oder sonstige Geräte, die da drin kaputt gehen könnten.«

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit.« Iris zog sich einen Pullover über. »Wir haben ernsthafte Probleme. Kommt, wir erzählen euch alles auf dem Weg zum Auto.«

Plötzlich fiel mir auf, dass sie offensichtlich nicht in der Buchhandlung war.

»Entschuldige mal, aber was zum Teufel ist hier los? Du bist nicht im Indigo Crescent, also wer hütet gerade meinen Laden? Und wo ist Maggie? Wo fahren wir denn hin?«

Delilah schob mich zur Tür hinaus, während Iris Morio Beine machte. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Chase braucht uns. Sofort.«

»Chase? Warum?« Ich eilte die Treppe hinunter, und die anderen folgten mir. »Ist er verletzt?«

»Nein, aber das könnte sich bald ändern, wenn wir nicht. schnell in der Stadt sind«, erwiderte Iris. Sie deutete auf mein Auto. »Du fährst, in dein Auto passen wir alle.«

»Steigt ein«, sagte ich und zückte die Schlüssel. »Und beantwortet doch bitte endlich meine Fragen.«

Ich schnallte mich an, während die anderen einstiegen. Morio und Iris setzten sich hinten rein, Delilah neben mich. Ich ließ den Motor an. »Wo wollen wir hin und warum?«

»In die Innenstadt. Pioneer Square.« Delilah biss sich auf die Lippe. Sie sah so besorgt aus, dass ich glaubte, sie würde gleich in Tränen ausbrechen. »Wir müssen so schnell wie möglich da sein.«

»Maggie ist bei Menolly im Keller. Da ist sie sicher, bis wir zurückkommen. Ich weiß, dass du sie ungern dort lässt, aber ihr werdet meine Hilfe brauchen.« Iris fummelte an irgendetwas in ihrer Tasche herum.

»Chase kämpft gegen einen Haufen Goblins, die durch ein neu erschienenes Portal durchgebrochen sind. Jetzt verbreiten sie am Pioneer Square Angst und Schrecken.

Leute wurden verletzt, eine Frau hat schon Anzeige erstattet, weil sie beraubt und belästigt wurde. Diese Scheißkerle meinen es ernst.« Delilahs Stimme klang ein wenig erstickt. »Ich fürchte, dass Chase und seine Männer nicht allein mit denen fertig werden - Goblins beherrschen Magie. Menschen nicht.«

»Goblins ... Goblins? Warum zum Teufel habt ihr das nicht gleich gesagt?« Ich trat das Gaspedal durch, und mein Lexus sprang in den höchsten Gang. Wir rasten die Straße entlang. »Verdammt, wenn doch Smoky hier wäre.«

»Er kann es spüren, wenn du an ihn denkst, schon vergessen? Das hat er vor ein paar Monaten erwähnt«, sagte Iris. »Jedenfalls so lange, bis du eure Abmachung erfüllt hast. Konzentriere dich auf ihn - vielleicht spürt er, dass du ihn brauchst.«

Ich schaute über die Schulter zu Iris zurück, ehe ich den Blick wieder auf die Straße richtete. »Du bist ein Genie. Moment mal.« Ich bremste scharf, fuhr rechts ran und sprang aus dem Auto. »Delilah, fahr du, damit ich versuchen kann, zu ihm durchzu-kommen. Sonst landen wir noch im Graben.« Wir wechselten die Plätze, sie setzte sich ans Steuer, und ich lehnte mich auf den Beifahrersitz zurück. Sogleich ließ ich meine Gedanken zu dem Drachen und seiner Dreyrie schweifen.

Ein geistiges Bild von ihm zu formen war nicht schwer. Schnell fühlte ich mich zurück in sein Bett versetzt, und er -nackt und bereit - beugte sich über mich.

Holla! Hübsch langsam. Ich versuchte, mich auf sein Gesicht zu konzentrieren, darauf, dass wir seine Hilfe brauchten und ich mir aufrichtig wünschte, ihn wiederzusehen, aber nicht auf seinem eigenen Land. Ich spürte einen winzigen Ruck, der bedeuten konnte, dass ich zu ihm durchgedrungen war - oder auch nicht. Ich war nicht sicher. Trotzdem rüttelte ich mich aus meiner Trance auf und warf Delilah einen Blick zu.

»Das war's. Jetzt heißt es abwarten, ob er reagiert.«

»Und, war es schön da draußen?«, fragte Iris, und ein schelmisches Lächeln breitete sich über ihr Gesicht.

Ich versuchte, sie böse anzufunkeln, brachte aber schließlich nur ein dümmliches Grinsen zustande. »O ja.«

»Ich will Einzelheiten!«, erklärte Delilah. »Los, lenk mich von der Sorge um Chase ab.«

»Hm«, sagte ich, »du willst Einzelheiten hören? Er ist so herrisch, wie ich dachte, aber ... es ist verdammt leicht, ihm zu gehorchen. In diesen schlichten Klamotten steckt der Körper eines jungen Gottes. Und nachdem ich es geschafft hatte, mir lange genug auf die Zunge zu beißen und nichts allzu Dummes zu sagen, konnte ich feststellen, dass er einer der drei besten Liebhaber ist, die ich je hatte.«

Ich warf Morio über die Schulter hinweg einen Blick zu. »Und du weißt, wer die beiden anderen sind, also reg dich nicht auf. Hm ... Smokys Haar macht ganz von allein ziemlich scharfe Sachen, und ich muss zugeben, das war schon verdammt heiß.

Und ... er hat gesagt, dass er in mich verliebt ist und mich zur >Gefährtin< haben will.

Was das genau bedeuten soll, weiß ich nicht, denn ich kann ihm ja keine Kinder gebären.«

Iris stieß ein ersticktes Glucksen aus, und Delilah geriet auf die Gegenfahrbahn, ehe sie das Auto wieder unter Kontrolle bekam. Morio blieb als Einziger gelassen, aber er kannte die Geschichte ja schon.

»In dich verliebt? Das ist mir klar, aber er will, dass du seine Gefährtin wirst? Er will dich ernsthaft heiraten?« Delilah hielt den Wagen ruhig, doch ihre Stimme zitterte vor unterdrücktem Lachen.

»Ich weiß nicht, ob der Begriff heiraten irgendetwas damit zu tun hat, und ich habe ihn auch nicht danach gefragt«, erwiderte ich gereizt. »Ich hatte gehofft, ihr beide - und vielleicht Menolly - könntet mir einen Rat geben. Den Kontakt zu ihm abzubrechen und ihn nie wiederzusehen kommt wohl nicht in Frage.«

Den Göttern sei Dank dafür, dass weder Delilah noch Iris das »Aber-was-ist-mit-Trillian-und-Morio?«-Argument anbrachten. Immerhin hatte ich die ganze verzwickte Angelegenheit schon oft genug in Gedanken umgewälzt. Ja, für meinen eigenen Seelenfrieden dachte ich sogar viel zu viel über Trillian, Morio und Smoky nach.

Iris räusperte sich. »Ich denke, die erste Frage lautet, ob du seine Gefährtin sein möchtest? Ich nehme doch an, dass er nicht zu teilen bereit ist.«

»Da liegst du richtig«, brummte ich. »Und nein, ich möchte nicht seine Gefährtin sein - nicht jetzt und nicht hier. Aber wenn ich mit ihm zusammen bin, merke ich, wie ich ins Wanken gerate. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich schwören, dass er mich irgendwie verzaubert. Ich meine, er sieht umwerfend aus, ihm liegt etwas an mir, und er würde mich sicher sehr gut behandeln, aber ich bin nicht zur Drachengemahlin geschaffen. Ich hätte das Gefühl, mir jedes Wort gut überlegen zu müssen, und das jeden Tag. Mach ihn bloß nicht wütend, er ist ein Drache, er könnte dich grillen ... so in der Art.«

Morio meldete sich zu Wort. »Du fühlst dich also bei Trillian und mir sicher, aber nicht bei Smoky?«

Ich dachte über seine Frage nach und starrte aus dem Fenster auf das hässliche Einkaufszentrum, an dem wir vorbeifuhren. Wenn es gut lief, würden wir in etwa acht Minuten im Stadtzentrum sein, am Pioneer Square.

»Ja und nein. Ich fühle mich bei ihm sicher, aber nicht so wie bei euch«, sagte ich.

Verdammt, ich gab wirklich ungern zu, dass ich mich vor jemandem fürchtete, mit dem ich schon geschlafen hatte. Andererseits war fürchten gar nicht das richtige Wort.

Gleich darauf erkannte ich, warum ich mich bei ihm nicht ganz wohl fühlte.

»Eigentlich habe ich keine Angst, dass er mir etwas antun könnte, aber ich habe das Gefühl, dass ich in seiner Nähe nicht ich selbst sein darf, sondern jemand anderes sein muss. Ich komme mir manchmal vor wie ein Haustier oder so.«

»Das verstehe ich«, sagte Delilah.

»Ich meine, denkt nur mal daran, wie tolerant sich Trillian gezeigt hat, als Morio ins Spiel gekommen ist.« Alle schnaubten belustigt, doch ich bedeutete ihnen, still zu sein. »Ich meine das ernst. Ja, anfangs hat er sich ziemlich aufgeführt, aber schaut uns jetzt an. Bei Smoky kann ich mir nicht vorstellen, dass er ein guter Mitspieler wäre.

Und wenn ich mich mit seinem Wunsch einverstanden erklären würde, wäre ich da draußen in diesem Hügel eingesperrt, das weiß ich genau. Er würde versuchen, mich vor der Welt zu beschützen. Ich kann es mir nicht leisten, die zarte Maid zu spielen.

Nicht, solange Schattenschwinge nur auf seine Chance wartet.«

Ich wandte mich zu Morio um.

Er lächelte mich gelassen an. »Das dachte ich mir.«

In diesem Moment fuhren wir an einer Buchhandlung vor bei, in der sich die Leute nur so drängten. Natürlich, dachte ich. Der neueste Roman von Shala Morrison war gerade erschienen - die weibliche Antwort auf Harry Potter.

Eigentlich sollte Iris im Indigo Crescent massenweise Bücher verkaufen.

»He, Iris, du hast meine Frage noch gar nicht beantwortet. Was ist mit dem Laden?

Warum bist du nicht da?«

Sie beugte sich vor und spähte zwischen den Vordersitzen hindurch. »Ich habe gestern Henry eingestellt. Er hat sich bereiterklärt, auch den Ansturm heute zu bewältigen, und freut sich offenbar darüber, dass er Arbeit hat. Ich glaube nicht, dass er das Geld braucht, aber ... wir haben ja schon darüber gesprochen - seine Mutter.«

Gut, es war also jemand im Laden. »Und Feddrah-Dahns und Mistelzweig? Wo sind die? Es überrascht mich, dass sie nicht mitkommen wollten.«

»Wir haben sie zum Birkensee geschickt«, erklärte Delilah. »Feddrah-Dahns hat im Haus allmählich Platzangst bekommen.« Sie hielt vor einer Drogerie, sprang aus dem Auto und eilte zu mir herum. »Bitte fahr du, ich komme mit meinem Jeep besser zurecht. Außerdem will ich Chase anrufen und ihm sagen, dass wir gleich da sind.«

»Nein. Morio, würdest du fahren? Ich will versuchen, eine Möglichkeit zu finden, wie ich dieses Horn gegen die Goblins einsetzen kann.« Ich zog das Horn des Schwarzen Einhorns aus der Tasche, während Morio mit Delilah Bäumchen-wechsle-dich spielte.

Sobald er am Steuer saß, zückte sie ihr Handy.

»Ja, wir sind schon unterwegs ... Nein ... Ihr guten Götter, sei ja vorsichtig - was? ...

Nein, die sind giftig, pass bloß auf! Wir sind gleich da ... Ja, ich dich auch, Süßer.« Sie klappte das Handy zu. »Verdammt, die Goblins haben Blasrohre und Tetsa-Pfeile.

Chase sagt, sie hätten die meisten Zivilisten von der Straße geschafft, aber da sind noch einige Polizisten, und diese Pfeile können sie an Stellen treffen, wo ihre Westen sie nicht schützen.«

Ich sah ihr an, welche Sorgen sie sich um Chase machte. Er war für solche Begegnungen allzu menschlich und allzu verletzlich. Tetsa-Pfeile waren giftig - die nadelspitzen Geschosse wurden in eine Mischung aus Froschgift und einer Brühe getaucht, die aus der Leber des Pogolienvogels hergestellt wurde. Sowohl der Hajafrosch als auch der Vogel waren unglaublich schön. Und unglaublich tödlich.

Als ich das Horn befühlte, begann es zu vibrieren, beinahe so, als wolle es mir etwas vorsingen. Zuerst dachte ich, das könnte Eriskel sein, der mit mir zu kommunizieren versuchte, doch gleich darauf merkte ich, wie zart und ätherisch die Stimme war ... sie trieb in einer leichten Brise. War sie weiblich? Ich schloss die Augen, lehnte mich zurück und ließ mich tiefer in den Strudel der Energie hinabsinken, der mich in sich hineinlockte.

Erst herrschte Stille, dann spürte ich ein Zupfen, und plötzlich stand ich in einem Raum, dessen schwarze Decke mit Sternen übersät war. Oder waren das tatsächlich die Sterne? Die Wände wurden von vier Spiegeln eingenommen. Aber ich konnte mich in dem Glas nicht sehen.

Im ersten Spiegel erschien eine Frau, die aussah wie eine Dryade. Sie war in ein blattgrünes Gewand gehüllt und hielt einen Zauberstab aus Eichenholz in der Hand.

Ihre Haut war so braun wie die Erde, Augen und Haar golden wie frisches Stroh. Als sie mich entdeckte, sank sie in einem tiefen Knicks auf ein Knie.

Ich wandte mich dem zweiten Spiegel zu, und ein geflügelter Krieger landete in einem Adlerhorst über einer Schlucht, hoch oben auf einem kahlen Berg. Blitze zuckten hinter ihm vom Himmel. Er war groß und blass mit flachsblondem Haar, ganz in weiches Leder gekleidet, und seine Augen waren groß und rund wie die einer Eule. Er trug ein langes, schimmerndes, scharfes Schwert. Er sah mich, nickte anmutig und nahm Haltung an.

Ein Geräusch aus dem dritten Spiegel erregte meine Aufmerksamkeit. Eine Frau in einem Kleid aus glühender Magma drehte sich um, und ihre Augen leuchteten so hell, dass sie mich beinahe blendeten. Ihr Haar lag wie ein Lavastrom um ihre Schultern, und ein breiter Kranz aus Ranken bedeckte ihre Stirn. Sie beugte sich vor und starrte mich kurz an, ehe auch sie, wie die Dryade, knickste und kniend auf dem Boden verharrte.

Wenn das so weiterging, dachte ich, müsste im vierten Spiegel ein Wasserelementar erscheinen. Und tatsächlich, als ich mich dorthin wandte, stieg ein Meermann aus der Tiefe auf. Große Locken in der Farbe von Seetang schwankten vor seiner azurblauen Haut, und seine Augen glänzten schwarz wie Onyx. Er war entweder im Meer oder in einem so riesigen See, dass ich in der Ferne hinter ihm bis zum Horizont kein Land erkennen konnte. Er sprang aus dem Wasser empor wie ein Delphin, tauchte wieder ein und brach erneut durch die Oberfläche hervor. Er hob einen bronzenen Dreizack zum Gruß.

»Wer seid ihr? Wo bin ich?« Beinahe konnte ich den Strom von Gedanken und Gefühlen verstehen, der auf mich zukam. Sie warteten darauf, dass ich ihnen irgendeinen Befehl gab.

»Du hast das Herz des Horns gefunden«, sagte Eriskel erfreut, als er urplötzlich neben mir erschien.

Ich fuhr zusammen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Entschuldige, wenn ich dir gegenüber ein wenig argwöhnisch bin«, entgegnete ich.

»Immerhin hast du ein paar tausend Megawatt auf mich gehetzt. Also, auf einer tieferen Ebene begreife ich diesen Ort, und ich kann spüren, wie sich zwischen meinem dritten Chakra und diesem Raum eine Verbindung aufbaut, aber ich verstehe noch nicht ganz, wie ich Kontakt zu ihnen aufnehmen kann. Würdest du mir einen Hinweis geben, ohne mich wieder brutzeln zu wollen?«

Eriskel grinste, und in diesem Moment bemerkte ich die umwerfend schönen, großen Ringe aus Gold mit Diamanten, die von seinen Ohren baumelten. Ich begann förmlich zu sabbern. Er bemerkte, dass ich abgelenkt war, und erkannte offenbar auch den Grund dafür. »Willst du die Ohrringe haben?«, fragte er und verdrehte die Augen gen Himmel.

»Ja, wenn du nichts dagegen hast.« Ich errötete; normalerweise schnorrte ich den Leuten nicht ihren Schmuck ab, aber sie hatten irgendetwas ...

Er schüttelte den Kopf. »Das darf doch... ach, was soll's, mache ich eben noch ein Paar für dich. Ich habe durchaus gewisse Fähigkeiten der Dschinns, auch wenn ich nur ein Dschindasel bin, weißt du?« Binnen Sekunden hielt er mir ein identisches Paar Ohrringe hin. Die Creolen hatten gut sieben Zentimeter Durchmesser - genau mein Stil. Ich konnte nicht anders. Ich stieß ein erfreutes Quietschen aus. Er starrte mich an.

»Sind wir jetzt fertig mit der Modenschau? Kann ich dann deine Fragen beantworten?«

»Ja, bitte.« Ich steckte mir die großen Ringe in die Ohren. Sie würden noch da sein, wenn ich aus dieser Trance erwachte. »Also ...«

»Also.« Eriskel umkreiste mich und beäugte mich dabei scharf. »Du hast es geschafft, das Herz des Horns zu finden. Das ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass du dieses Artefakt besitzen und gebrauchen sollst.«

»Was bedeutet das? Das Herz des Horns?«

Er warf mir einen langen Blick zu. »Das Herz ist der Ort, an dem sich seine essenzielle Macht befindet. Als du den Blitz abgewehrt hast, da hast du instinktiv einen Schutzschild herbeigerufen, der vom Herrn der Winde kam.«

»Du meinst, er hat meine Fähigkeit, mich selbst zu schützen, so sehr verstärkt?«

»Ja. Wenn du sie direkt ansprichst, hast du die anderen Elementare übrigens folgendermaßen anzureden: Herrin der Flammen, Herr der Tiefen und Herrin des Landes. Sie können spüren, was du brauchst, und wenn du sie rufst, wird einer von ihnen antworten, doch was du von ihnen verlangst, muss innerhalb ihrer Möglichkeiten liegen. Falls du beispielsweise versuchen solltest, absichtlich Mondmagie durch das Horn zu fokussieren, wird das nicht klappen.«

»Das Horn der vier Elemente.« Ich starrte in die Spiegel.

»So ist es.«

»Aber ich soll es bei Neumond aufladen, richtig?«

Eriskel nickte. »Ja. Der dunkle Mond ist eine machtvolle Zeit für jegliche Magie, die mit den Erdwelt-Elementaren verknüpft ist. Da du jetzt den Weg hierher gefunden hast, solltest du dich ihnen vorstellen. Damit wirst du die Bindung des Horns an dich besiegeln. Du wirst niemals gezwungen sein, es zu gebrauchen - und es wird deiner Mondmagie nichts nützen -, aber seine Kraft dürfte sich als besonders hilfreich erweisen, wenn du es mit Geschöpfen des Feuers aufnehmen musst.«

»Wie Dämonen«, flüsterte ich. Der Herr der Winde hatte den Schutzschild gegen einen Blitz errichtet, also konnte ich annehmen, dass die Herrin der Flammen mich gegen Feuerwesen schützen würde.

»Wie Dämonen«, stimmte er zu. »Siehst du jetzt, was dieses Horn für dich tun kann?

Gebrauche es nicht leichtsinnig. Die Elementare müssen Gelegenheit haben, sich wieder aufzuladen.

Ihre Kraft ist nicht unbegrenzt, und nach schwerer magischer Arbeit müssen sie ruhen.

Tu aus eigener Kraft, was immer du kannst, aber das Horn könnte dir das Leben retten, wenn du Hilfe am dringendsten brauchst.« Und damit war er wie ein Nebelwölkchen einfach verschwunden.

Ich wandte mich wieder nach Osten. Instinktiv kniete ich nieder. »Herr der Winde, ich bin Camille, Priesterin des Mondes.«

»Willkommen, Camille. Ich werde Euch dienen, und sei es mein Tod.« Er presste die Handflächen zusammen und verneigte sich.

Ich wandte mich nach Süden und kniete nieder, und so machte ich es auch im Westen und im Norden, bis alle vier Elementare sich in meinen Dienst gestellt hatten. Als ich aufstand, gab mir eine innere Stimme weitere Worte ein.

»Ich werde die Macht des Horns nie missbrauchen. Ich werde eure Kräfte nie missbrauchen. Ihr habt meinen Eid darauf, unter dem Mond, den Sternen und der Sonne.« Plötzlich hörte ich Glöckchen klingeln, Donner krachte, und irgendetwas verbrannte mir die Hand.

Ich zuckte zusammen, riss die Augen auf und fand mich im Auto wieder. Das Kristall des Horns war glühend heiß und hatte einen Abdruck in meiner Hand hinterlassen. So abrupt, wie es mich verbrannt hatte, kühlte es sich wieder ab. Ich hob den schweren, spitzen Stab an und betrachtete ihn. So viel Macht, so viele verschiedene Kräfte.

Wenn das Horn schon so stark war, wie mächtig musste dann erst das Schwarze Einhorn sein? Vielleicht würde ich ihm eines Tages begegnen. Vielleicht würde ich ihm eines Tages für sein Geschenk danken können. Vorerst jedoch wickelte ich das Horn in das Tuch und verstaute es sicher in dem speziellen Futteral, das am Gürtel meines Rocks befestigt war.

Dieses Futteral war idiotensicher - leicht zu erreichen, aber kaum versehentlich zu öffnen. Den Umhang hatte ich zu Hause gelassen. Er war zu hinderlich für einen Kampf gegen Goblins. Aber ich hatte daran gedacht, meinen Silberdolch einzustecken, dessen Scheide auf der anderen Seite an meinem Gürtel hing.

Ich seufzte tief, und Iris beugte sich vor. »Hübscher Schmuck.«

Ich lachte. »Ja, sehr schön, nicht wahr? Kleines Geschenk vom Hüter des Horns.

Übrigens werde ich das Horn in diesem Kampf nicht benutzen. Mit den Goblins werden wir allein fertig. Aber beim nächsten Showdown mit irgendwelchen Dämonen ... tja, den sollte es uns ein bisschen erleichtern.«

Morio manövrierte den Wagen an einer Reihe hastig abgestellter Autos vorbei die steile James Street entlang. Als wir uns der First Avenue näherten, entdeckte ich einen Polizisten, der hinter einem Streifenwagen kauerte, die Waffe im Anschlag. Morio parkte das Auto, und wir sprangen heraus. Sofort begann ich, mich mit der Energie der Wolken zu verbinden, und suchte nach irgendwelchen Blitzen in der Umgebung.

Da - direkt hinter dem Horizont. Eine Gewitterwolke.

Während ich die Wolke zu mir heranlockte, zückte Iris den Aqualin-Kristall, den Menolly und ich ihr aus Aladril mitgebracht hatten. Sie hatte ihn an der Spitze eines silbernen Stabs befestigt. Was auch immer sie damit vorhatte, sie würde sicher eine eindrucksvolle Show bieten.

Delilah sah sich erst einmal nach Chase um. Ein paar Sekunden später huschte er geduckt um die Ecke und rannte vom Pioneer Park her auf uns zu. Eine blutige Schnittwunde zog sich von seiner Schläfe seitlich an seinem Gesicht herab.

»Du bist verletzt!« Delilah eilte auf ihn zu, packte ihn bei den Schultern und untersuchte die Wunde. »Sonst alles in Ordnung?«

»Kümmere dich nicht um mich. Die Goblins sind im Park, zwei meiner Männer sind bereits ausgefallen, und an den dritten komme ich nicht mal heran. Er ist verletzt, aber mitten unter den Goblins. Was zum Teufel kann diese Biester töten? Wir haben es mit Kugeln versucht, und die scheinen sie ein bisschen aufzuhalten, aber sie kommen einfach immer wieder.« Er drehte sich um, als einer seiner Männer auf uns zulief.

»Sir, soll ich den Rückzug anordnen? Die machen uns fertig. Sollten wir vielleicht das Sondereinsatzkommando anfordern?«

»Vergiss es - die werden sich auch nicht besser schlagen«, sagte ich und trat vor.

»Eure Waffen wirken bei den meisten Feen oder Kryptiden nun mal nicht besonders gut. Wenn ihr sie mit Atomwaffen angreifen würdet, ja, oder Selbstmordkommandos, möglicherweise, aber Goblins sind zähe Biester, und ihre Haut ist praktisch eine natürliche Rüstung. Hol deine Leute aus der Gefahrenzone und lass uns das erledigen.«

Der Polizist wandte sich Chase zu. Chase sah mich an, dann den Rest von uns, und nickte langsam. »Sie hat recht. Ziehen Sie die Leute ab. Wenn noch mehr Projektile durch die Gegend fliegen, wird noch irgendein Passant verletzt. Wir können machen, was wir wollen, irgendein Scherzkeks schafft es immer, sich hinter unsere Absperrungen zu schleichen. Aber nur, weil diese Typen dumm sind, müssen sie noch lange nicht sterben.«

Morio stieß ein tiefes Knurren aus. Er begann sich zu verwandeln; in seiner Yokai-Gestalt konnte er wesentlich mehr Schaden anrichten. Chase sah mit weit aufgerissenen Augen zu, wie Morio zu wachsen begann. Sein Körper verwandelte sich in eine Mischung aus Haut und Fell, Klauen und Schwanz, Händen und Füßen. Seine Augen bekamen einen gelblichen Schimmer, und ein wildes, primitives Bellen drang aus seiner Kehle. Er war jetzt knapp zwei Meter vierzig groß und eine schreckenerregende Mischung aus Mensch und Fuchs.

»O Gott... erinnert mich bitte daran, den ja nie zu ärgern«, stammelte Chase, als Delilah ihn hinter sich schob. Sie zog ihren silbernen Dolch - der Zwilling meines Dolches. Unser Vater hatte sie uns geschenkt, und sie waren fast so lang wie ein Kurzschwert und doppelt so scharf.

Ich nahm die vorderste Position ein, Morio nahm meine rechte Flanke, Iris die linke.

»Ich baue eine Barriere aus Frost auf«, erklärte sie. »So kann ich uns die Pfeile so lange vom Leib halten, bis wir zu nahe dran sind, als dass sie ihre Blasrohre noch benutzen könnten. Trödelt bloß nicht rum.«

Die Gewitterwolke war nun in Reichweite, und obwohl ich versucht war, das Horn zu benutzen, um die Wirkung der Blitze zu verstärken, beherzigte ich Eriskels Warnung.

Nie missbrauchen. Was, wenn ein Dämon hinter irgendeiner Ecke hervorsprang, nachdem wir die Goblins erledigt hatten? Da ich nicht wusste, wie viel Schuss das Horn zu bieten hatte, hielt ich mich im Zweifel lieber zurück.

Ich atmete tief ein, sog die elektrisch überladene Luft in meine Lunge und hielt sie fest, während Blitze durch meine Arme und Beine zuckten, vom Scheitel bis zur Sohle. Dann, bereit, die Goblins knusprig zu braten, straffte ich die Schultern und marschierte auf die Ecke zu.

Neben mir murmelte Iris leise vor sich hin. Als die ersten Goblins in Sicht kamen, erhob sich eine durchsichtige Barriere zwischen uns, an der ihre Pfeile einfach abprallten. Verblüfft sahen sie zu, wie wir auf sie losstürmten. Und dann waren wir in Schlagweite. Die Schlacht begann.