Kapitel 12

 

Camille? Camille?« Delilahs Stimme zuckte durch meine Gedanken. Wirr schüttelte ich den Kopf. Das Einhorn-Horn lag wieder in seinem Kästchen, das ich noch auf dem Schoß hatte, und Kätzchen rüttelte an meinen Schultern. »Alles in Ordnung?«

Ich blinzelte und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. »Ich glaube schon.

Anscheinend habe ich ganz spontan einen kleinen Ausflug in meine eigene Erinnerung unternommen. Wie lange war ich denn weg?«

Morio schaute auf seine Armbanduhr. »Sechs Minuten. Erst dachten wir, du kommunizierst mit der Energie des Horns, aber dann hast du einen spitzen Schrei ausgestoßen und das Horn wieder in das Kästchen gelegt, und da dachte ich mir, dass du ganz woanders warst.«

Einen spitzen Schrei, so? Entzückend. Wenn ich mystisch besonders in Fahrt war, bot ich einen ehrfurchtgebietenden, wunderschönen Anblick. Das war kein Eigenlob, sondern die Wahrheit, weshalb sollte ich es also leugnen? Es sah jedoch ganz so aus, als sei das gerade eben nicht der Fall gewesen.

»Mein Verstand war wohl der Meinung, er brauchte mal Urlaub.« Ich holte tief Luft und genoss die Wachheit, die eine gute Lunge voll Sauerstoff meinen Gedanken brachte. Atmen wirkte doch Wunder fürs Gehirn. »Ich glaube, ich bin in etwas Tieferes gefallen als eine Trance. Wenn mich nicht alles täuscht, bin ich aus der Zeit herausgetreten, habe mich bilokalisiert und in die Nacht meiner Initiation zurückversetzt«, sagte ich und hüstelte. »Ich könnte schwören, dass ich gerade die ganze Nacht noch einmal durchlebt habe - aber sechs Minuten? Das reicht wirklich nicht ganz.«

»Das Horn hat Euch aber doch kein Leid getan?« Feddrah-Dahns' Augen blitzten.

»Leid? Nein, ganz und gar nicht.« Vorsichtig griff ich wieder nach dem Kristall. »Ich war nur nicht auf die Macht seiner Energie vorbereitet. Dieser Kristallstab hat es ganz schön in sich. Der Schock hat mich zu ... zu einem anderen Moment in meinem Leben versetzt, als eine große Macht mich ergriffen hatte.«

Mich ergriffen, Zähne und Klauen in mich geschlagen und nie wieder losgelassen hatte.

Als ich nach dem Horn griff, kam mir der Gedanke, dass es ein eigenes Bewusstsein haben könnte. Ich spürte einzelne Gedanken und Emotionen, die von ihm ausgingen, und sie waren bei niemand anderem im Raum geerdet.

Ich legte den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete allen, still zu sein.

Dann drang ich tief in meine Aura hinab und verwurzelte meine Energie mit der Erde, den Ästen und Wurzeln und Zweigen vor unserer Tür. Obwohl ich keine Erdhexe war, konnte ich mich sehr gut mit Wäldern und Pflanzen verbinden. Ihr Mana würde mich in meinem Mittelpunkt halten.

Solcherart vorbereitet, legte ich sacht die Finger um das Horn und holte es erneut aus dem Kästchen.

Als die tosende Macht diesmal über mich hereinbrach, konnte ich mich auf ihrer Oberfläche halten. Mühsam zappelte ich in einem Meer aus Energie und zwang mich zur Konzentration, auf das Horn in meiner Hand, auf den Stuhl unter meinem Hintern, auf Feddrah-Dahns und Mistelzweig und Delilah und Morio, die mich allesamt ängstlich beobachteten.

Und dann hörte ich einen fernen Ruf, von so weit weg, dass ich nicht einmal erraten konnte, woher er kam. Ich schloss die Augen, ließ los und folgte seiner Aufforderung.

Ich blinzelte. Ich saß in einer Wiese voller Apfelbäume und Geißblatt und so hohem Gras, dass es meine Knie kitzelte. Als ich tief Luft holte, schmeckte ich den Duft von Pflaumen und Jasmin auf der Zunge. Das Horn lag in meinem Schoß, und Apfelblüten regneten sacht auf meine Schultern herab.

»Was zum ...« Ich stand auf. Wo zum Teufel hatte es mich denn jetzt schon wieder hinverschlagen? Die Nacht meiner Initiation hatte ich sofort erkannt, aber das ... Hier war ich noch nie gewesen. Diese Wiese hatte ich noch nie gesehen. Ich wusste nicht einmal, ob ich in der Anderwelt oder erdseits war, obwohl ich vermutete, dass es mich in die Anderwelt gerissen hatte, weil sich die Bäume freundlicher anfühlten.

Die melodiöse Stimme, ein bisschen wie Glöckchenklingeln, war so leise, dass ich sie beinahe überhört hätte, doch etwas kitzelte meine Handfläche, die neben dem Horn ruhte. Ich schaute hinab und sah einen winzigen Mann darin stehen, der sich am Horn festhielt. Er war etwa fünfzehn Zentimeter groß und erinnerte mich an einen Eichen-Deva, mit tiefbrauner Haut und sattgrüner Kleidung. Aber er war viel kleiner als irgendeiner der Baumgeister, die mir im Lauf der Jahre so begegnet waren.

»Wer ... was ... du bist doch kein ...« Ich brach ab, als ich merkte, dass ich keine Ahnung hatte, was ich als Nächstes sagen sollte.

Er blickte lang und genüsslich unter winzigen Augenbrauen hervor zu mir auf. »Ich bin der Hüter des Horns.«

Der Hüter des Horns? Ich hatte mir ja schon gedacht, dass es ein eigenes Bewusstsein haben könnte. Das hier bewies, dass ich zumindest zur Hälfte recht hatte. »Wie heißt du?«

»Du wirst dir meinen Namen verdienen, oder auch nicht, das hängt ganz davon ab, was geschieht. Wenn du dir meinen Namen verdienst, darfst du das Horn gebrauchen und über seine Kräfte gebieten.« Plötzlich grinste er, und ich sah, dass er sehr spitze Zähne hatte. Hastig wich ich ein Stück zurück.

»Bist du ein Dschinn?«

Er zuckte mit den Schultern und verzog keine Miene. »Nein. Also, beantworte mir dies: Sage ich dir die Wahrheit?«

Na toll, ein kleiner Witzbold. Doch als ich ihm ins Gesicht sah, merkte ich, dass er ganz gewiss keine Witze machte. »Ich habe keine Ahnung«, sagte ich nach kurzer Überlegung. Ich konnte seine Energie nicht deuten, konnte nicht einmal seine Aura richtig lesen. Er roch nicht nach Dämon, aber ganz gewiss hatte ich keine Feld-, Wald-und Wiesenfee vor mir.

»Da du keine Ahnung hast, ob ich lüge oder nicht - warum hast du dann überhaupt erst gefragt? Nicht besonders klug, würde ich meinen.« Er lehnte sich an das Horn, verschränkte die Arme und begann vor sich hinzupfeifen.

Ich runzelte die Stirn, eher über seine Einstellung als über das, was er gesagt hatte.

Immerhin hatte er recht. Ihn zu fragen, ob er ein Dschinn sei, war dämlich gewesen.

Wenn er einer wäre, hätte er mich vermutlich einfach belogen. Dschinns waren nicht grundsätzlich böse, aber ziemlich gefährlich, und sie genossen es, Aufruhr zu verursachen. Und wenn er keiner war - nun, dann garantierte mir das noch längst nicht, dass er die Wahrheit sagte.

Ich blickte mich um und fragte: »Wo sind wir denn hier? In der Anderwelt?«

Der seltsame Geist sprang von meiner Hand auf das Kästchen. Dort ließ er sich im Schneidersitz nieder, stützte die Arme hinter sich auf und lehnte sich zurück. »Nein, eigentlich nicht. Dennoch, erdseits sind wir auch nicht.«

»Astralraum?« »Nein.«

Allmählich ging er mir ernsthaft auf den Keks. »Hör mal, Kleiner, ich habe keine Zeit für so was. Ich kann Quizsendungen und Ratespielchen nicht leiden. Also hör mit diesem Blödsinn auf und sag mir, was ich wissen muss.«

»Du hast nicht viel Geduld, nicht wahr?« Er sprang von dem Kästchen auf den Boden.

Binnen Sekunden war er in eine grüne Rauchwolke gehüllt. Als sich die Wolke wieder auflöste, stand er immer noch da - zwei Meter groß und lächelnd. Er streckte die Hand aus, und ich erlaubte ihm ein wenig zögernd, mir aufzuhelfen. Das Horn behielt ich aber fest in der Hand. Auf keinen Fall würde ich es ihm überlassen. Vielleicht war er kein Dschinn, und vielleicht war er tatsächlich der Hüter des Horns. In jedem Fall wäre es ziemlich dumm gewesen, ihm das Artefakt in die Hand zu drücken.

Womöglich würde ihn das aus seinem Dienstverhältnis befreien, und so etwas konnte wirklich unangenehm werden.

»Geduld ist etwas für Leute, die den Luxus genießen, nicht von einem Haufen Dämonen gehetzt zu werden.« Ich entzog ihm meine Hand, sobald ich auf den Füßen stand. Die Wiese erschien mir übermäßig hell, und ich konnte nicht weit sehen, selbst wenn ich die Augen mit der Hand gegen das gleißende Licht abschirmte. Der Duft von frischgemähtem Gras trieb mit der Brise vorbei, und die Sonne schien mir so warm auf die Haut, dass ich mich am liebsten hingelegt hätte, um ein Nickerchen zu machen. Ich gähnte. »Allmählich komme ich mir vor wie von einem Pixie genarrt«, bemerkte ich. »Du bist aber kein Pixie, oder?«

»Nein.« Er zuckte erneut mit den Schultern. »Mach dir wegen der Zeit keine Gedanken. Wir befinden uns außerhalb der Zeit, also wird dieses kleine Zwischenspiel deine Terminplanung nicht durcheinander bringen. Bleib einen Augenblick hier stehen.« Er bedeutete mir, zu bleiben, wo ich war, und schneller, als ich blinzeln konnte, befand er sich am fernen Ende der Wiese.

In einem Moment stand ich noch da, das Horn in der Hand, und fragte mich, was zum Teufel hier vorging. Im nächsten Moment schoss ein Blitz auf mich zu wie eine gedopte Rakete. Eine »Ich-grill-deinen- Arsch-kein-Scheiß«-Rakete.

Ehe ich darüber nachdenken konnte, hob ich instinktiv das Horn und konzentrierte mich darauf, mich zu schützen, denn in dem Sekundenbruchteil, der mir noch blieb, würde ich den hundert Millionen Volt, die da auf mich zurasten, niemals ausweichen können.

»Zerstreue!« Eine wabernde Barriere schoss zwischen mir und dem elektrischen Tod empor. Es krachte laut, und der Aufprall schleuderte mich gut zwei Meter rückwärts, wo ich auf dem Hintern landete. Doch die Barriere hatte gewirkt, und der Blitz fuhr harmlos in den Boden.

Da lag ich und starrte die Würmer an, die sich hastig aus dem Boden wanden, erschrocken über diese plötzliche Erschütterung ihrer Heimat. Und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass ich möglicherweise einen klitzekleinen Fehler gemacht haben könnte, indem ich Feddrah-Dahns' Hilfe angenommen hatte.

Der Geist war sogleich wieder an meiner Seite. »Das scheinst du recht gut bewältigt zu haben. Darf ich dir aufhelfen?«

Ich ignorierte seine Hand, rappelte mich aus eigener Kraft hoch und schwankte, als mich ein schwindeliger Schauer überlief. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?

Du hättest mich umbringen können.« Ich behielt ihn argwöhnisch im Auge, während ich mich vergewisserte, dass nichts an mir gebrochen oder angesengt war.

»Ich musste dich prüfen. Nur wenige können die Kräfte des Horns beherrschen, und es ist meine Pflicht, es von jenen fernzuhalten, mit denen es keine Resonanz herstellt.«

Seine Stimme klang so gelassen, dass sie meine Empörung noch mehr anstachelte.

»Und was wäre passiert, wenn ich zu der Mehrheit gehört hätte, die das Horn nicht beherrschen kann? Sag schon, was dann?« Der Schock legte sich allmählich. Gar nicht gut für diesen Benjamin Franklin der Geisterwelt. Der sollte sich lieber schleunigst verziehen.

Wieder zuckte er mit den Schultern. »Dann wärst du gestorben.«

Ich stand da wie angewurzelt.

Mein Unterkiefer hing schlaff herab. Schließlich klappte ich den Mund hastig wieder zu, als eine Libelle unangenehm dicht daran vorbeiflog. Ich stieß ihm den Zeigefinger gegen die Brust. »Gestorben? Du hättest mich tatsächlich sterben lassen?« Wieder dieses beiläufige Nicken, als hätte ich mich erkundigt, ob er Kartoffelsalat möge.

»Was wäre dann mit meinem Körper geschehen, da wir uns ja angeblich außerhalb der Zeit befinden?«

»Herzinfarkt.« Erneut ein dämliches Grinsen.

O Scheiße. Warum machte ich mir eigentlich Sorgen, dass Smoky mich versehentlich grillen könnte, wo ich doch diesen Irren hier hatte, der mich zur Brathexe machen wollte? Magische Kreatur, zum Teufel damit! Ich stieß ihm mit beiden Händen gegen die Brust, womit er nicht gerechnet hatte, und er taumelte zurück.

»Für wen hältst du dich eigentlich, verdammt noch mal? Das stellst du dir also unter einer Prüfung vor? Wir geben ihr eine Chance - eine einzige, ziemlich miese -, und wenn sie das Horn nicht beherrschen kann, verarbeiten wir sie einfach gleich an Ort und Stelle zu Toast? Eines sage ich dir, Kumpel. Mit Butter und Marmelade schmecke ich nicht besonders gut!«

Stinkwütend ballte ich die Fäuste und trat auf ihn zu, bereit, ihm eine runterzuhauen.

»Wie heißt du überhaupt, zum Teufel? Da ich die Prüfung ja nun bestanden habe und das Horn beherrschen kann, sagst du mir lieber sofort, wie du heißt und was für eine Art Geschöpf du bist, denn sonst steche ich dir mit diesem Ding die verdammten Augen aus!«

Er hustete und rückte seine Weste zurecht. »Krieg dich wieder ein. Du bist nicht verletzt. Sonst würdest du dich nicht so aufführen.« Auf mein Knurren hin hob er beide Hände und wich zurück. »Schon gut, schon gut! Ich bin ein Dschindasel.«

Ich blinzelte. Das war ja ganz was Neues. »Ein bitte was?«

»Ein Dschindasel. Wir sind nicht sonderlich bekannt. In gewisser Weise hattest du recht. Wir ähneln den Dschinn, sind jedoch aus dem Geist einer anderen Kreatur geschaffen - üblicherweise einer sehr mächtigen -, um als Wächter zu dienen. Und das Objekt, das wir bewachen sollen, war in den meisten Fällen zuvor ein Körperteil unserer Ursprungskreatur. Das kann eine abgetrennte Hand sein, ein Arm oder - wie in diesem Fall - das Horn des Schwarzen Einhorns.« Während er endlich Luft holte, dachte ich darüber nach. »Mein Name ist Eriskel.«

Unsicher, was ich sagen sollte, räusperte ich mich erst einmal. »Ein Dschindasel namens Eriskel. Wie ... poetisch.« Dann ging mir etwas auf - wenn er aus dem Geist des Schwarzen Tiers erschaffen worden war ... »Du bist also ein Ableger aus dem Geist des Schwarzen Einhorns? Teilst du auch die Gedanken deines Schöpfers?«

»Nicht direkt.« Eriskel sah mich neugierig an. »So hat mich noch nie jemand nach meiner Existenz gefragt. Vielleicht hilft es dir, mich als eine Art mindere Inkarnation des Schwarzen Einhorns zu sehen. Es gab mir ein eigenes Bewusstsein. Ich lebe zwar, um ihm zu dienen und zu gehorchen, doch es gesteht mir eine gewisse Unabhängigkeit zu.«

Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf. Die Affenpfote ... Die Hand... wurden auch sie von solchen Geschöpfen bewacht? Grauenhafte Geschichten, und - so hatte ich bisher geglaubt -nur erfunden. Aber jetzt zweifelte ich daran. Basierten diese Geschichten vielleicht auf altem Wissen über die Dschindasel? Und das Schwarze Einhorn, war er nun Freund oder Feind?

»Erscheinst du immer in dieser Gestalt?«

»Nur, wenn du mich herbeirufst.« Eriskel schüttelte den Kopf. »Nun, da du meinen Namen kennst, kannst du mich aus dem Horn herbeirufen. Wenn du seine Macht missbrauchst, werde ich dich vernichten. Wenn du das Horn weitergibst, werde ich denjenigen prüfen, dem du es gegeben hast. Doch sei gewarnt - dieses Artefakt hat Grenzen. Seine Kraft ist nicht unendlich, und es muss sich jeden Monat zum dunklen Mond wieder aufladen, um seine Macht zu bewahren. Wenn du es zu oft benutzt, wird das Horn dich im Stich lassen.«

»Dann hättest du also den Grottenschrat und den Goblin vernichtet, die es gestohlen haben, ja?« Das wäre ein hübscher Schock für die beiden gewesen. Wenn sie versucht hätten, das Horn selbst zu behalten und zu benutzen, wäre ihr Diebstahl ziemlich vergeblich gewesen.

»Ja, sofern ihre Macht nicht größer ist als die meine. Ich bin jedoch nicht unbesiegbar.

Jeder Höhere Dämon - und sogar ein paar niedere - würde mir einen heftigen Kampf liefern.«

Ich starrte den spitz zulaufenden Stab an, der kühl in meiner Hand lag. »Was kann ich hiermit gegen die Dämonen unternehmen?«

Eriskel lächelte geheimnisvoll. »Viel ... aber was genau, musst du selbst herausfinden.

Alle Antworten kann ich dir nicht geben, weil ich einige selbst nicht kenne. Andere enthalten Wissen, das zu hüten ich geschworen habe. Nur jene, die der Macht des Horns wahrhaft würdig sind, werden einen Weg finden, es einzusetzen. Oder es durch Folter zwingen, ihnen den Weg zu verraten.«

Unsere Blicke trafen sich, und ich verstand, dass er damit eigentlich sagen wollte: »mich durch Folter zwingen«. Eriskel wäre den dunklen Mächten ausgeliefert, denen wir gegenübertraten. Wenn ich das Horn an die Dämonen verlor, würden sie ihn wahrscheinlich zerstören, um die Kontrolle über das Horn zu erlangen. Was bedeutete, dass ich wirklich sehr, sehr gut darauf aufpassen musste. Ich trug die Verantwortung für ein weiteres Leben - wieder einmal.

Ich hielt das Kästchen hoch. »Sollte ich es hier drin aufbewahren?«

Er schüttelte den Kopf. »Nur wenn du es zum Aufladen unter den dunklen Mond legst. Unter dem Samttuch in dem Kästchen wirst du ein spezielles Futteral finden, das am Gürtel getragen werden kann. Und da ist noch etwas.«

Er hielt inne und streckte die Hand aus, als greife er nach etwas. In seiner Hand erschien ein Umhang, schwarz und samtweich. Er schimmerte satt im ätherischen Sonnenlicht, das von überallher auf diese Wiese schien. »Trage diesen Umhang. Er wird dir einen gewissen Schutz bieten, aber verlasse dich nicht darauf, dass er allein dich retten könnte. Verlasse dich nie auf irgendetwas oder irgendjemanden außer dir selbst.«

Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass der Umhang sogar noch leichter war als Spinnenseide. Doch als ich ihn um meine Schultern wirbeln ließ und mit der goldenen Sternblumen-Brosche am Hals schloss, war mir warm, und ich fühlte mich beinahe geschützt. Der Umhang reichte mir bis zu den Knien und hatte vier Taschen auf der Innenseite, eine davon genau in der richtigen Form für das Horn. Dank der Schlitze, durch die man die Arme nach draußen strecken konnte, war er obendrein viel praktischer als die meisten anderen Umhänge. Ich hob den Saum an und strich mir damit über die Wange. Als der weiche Stoff meine Haut berührte, züngelten kleine Energieschauer meine Wirbelsäule auf und ab. Irgendetwas sehr Mächtiges und Uraltes hatte das Material für diesen Umhang geliefert.

Ich fürchtete mich beinahe, danach zu fragen, und flüsterte schließlich: »Pantherfell?«

Delilah würde mich bei lebendigem Leibe häuten, wenn ich in einem Katzenfell nach Hause kam.

Der Dschindasel schüttelte den Kopf. »Nein, viel seltener. Im Lauf der Jahrtausende hat es insgesamt acht Schwarze Einhörner gegeben.«

»Acht? Ich dachte, es gäbe nur eins.«

»Das ist Legende. Nein, es waren acht, jedes ein Nachkomme des vorigen. Ihre Knochen werden an einem heiligen Ort aufbewahrt, der nur dem herrschenden König oder der Königin bekannt ist.«

Plötzlich ahnte ich, was kommen würde, und wollte den Rest lieber nicht mehr hören.

Die Vorstellung war überwältigend. »Ah ... dann ist dieser Samt also ...«

»Aus dem Fell des letzten Schwarzen Einhorns gefertigt. Die Knochen werden gebleicht und begraben und das Fell nur zu solchen Umhängen verarbeitet. Je ein Umhang wird demjenigen geschenkt, der sich das Recht verdient hat, eines der Hörner zu führen. Acht Einhörner im Lauf der Geschichte. Acht Umhänge.«

Ich war so erschüttert, dass ich nur stumm mit den Fingern über das Fell streichen konnte. Die Schwarzen Einhörner warfen ihr Horn also nicht einfach ab, wie ich gehört hatte. Und ich trug gerade ein Vermögen um die Schultern. Ich würde sehr vorsichtig sein müssen und durfte vor allem nie jemandem erzählen, woraus der Umhang bestand, wenn ich noch eine Weile am Leben bleiben wollte.

»Ich werde mich bemühen, gut darauf achtzugeben«, murmelte ich laut vor mich hin.

»Wenn du ihn verlierst - falls er etwas Bösem anheimfällt -, wird der Umhang in Flammen aufgehen. Aber das Horn ... jedes Horn ist ein magisches Artefakt, und jedes Mal, wenn das Schwarze Tier stirbt und sein Horn abfällt, erschafft sein Geist einen Dschindasel, ehe er in den nächsten Körper wandert.«

»Moment mal. Du meinst, wie beim Phönix? Das Schwarze Einhorn wird jedes Mal wiedergeboren?«

Er nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Verstehst du jetzt, warum du das Horn nicht verlieren darfst? Es ist ein heiliger Gegenstand, der dir anvertraut wurde.

Du stehst Dämonen gegenüber, und die sind in der Lage, mich zu überwältigen.

Bedauerlicherweise seid ihr ihnen zahlenmäßig weit unterlegen, und wenn ihr versagt, wird Schattenschwinge die Erdwelt überrennen und in die Anderwelt vordringen.

Deshalb haben sich die Dahns-Einhörner an das Schwarze Tier gewandt und um Hilfe gebeten. Dies ist die Hilfe, die es euch zuteil werden lässt.«

Das Horn hatte also eigentlich gar nicht Feddrah-Dahns gehört. Und vermutlich hatte er die Geschichte deshalb ein wenig ausgeschmückt, um die Wahrheit über das Schwarze Einhorn geheim zu halten. Warum genau er das tun sollte, wusste ich nicht, aber irgendeinen Grund musste er wohl haben. Das Vertrauen, das man da in uns - in mich - setzte, flößte mir Staunen und ehrfürchtige Demut zugleich ein. Ich seufzte tief.

Die Erwartungen an uns wuchsen ständig und schienen mit jedem Tag schwerer zu wiegen.

Ich blickte zu Eriskel auf. »Wir werden unser Bestes tun.«

»Das weiß ich«, entgegnete er. Mit einer überraschend zärtlichen Geste streckte er die Hand aus und strich mir über die Wange. »Der Pfad führt nicht nur durchs Dunkel, Mädchen. Doch die Schatten sind stark, also gib gut acht, dass du unterwegs nicht fällst.«

Und dann wurde alles schwarz, und ich trieb auf einem Teich glitzernden Lichts dahin.

»Camille! Camille! Wach auf!« Wieder durchdrang Delilahs Stimme den Dunst, der mir den Kopf vernebelte. Ich blinzelte ein paarmal und zwang mich, durch die Schleier aufzusteigen, die meine Gedanken einhüllten. Schließlich konnte ich die Augen offen halten. Verwirrt blickte ich in die Runde besorgter Gesichter.

»Wo warst du?«, fragte Morio. »Dein Körper war hier, aber dein Geist hatte offenbar den Expresszug genommen. Wieder einmal.« Er kniete neben mir, die Hand dicht über meiner, in der ich das Horn hielt. »Und woher kommt auf einmal dieser Umhang?«

Ich blickte an mir hinab. Der Umhang war um meine Schultern geschlungen, vollkommen real und materiell. Das war also weder ein Traum noch eine Vision gewesen. »Das ... ist eine lange Geschichte«, antwortete ich. »Ich habe mit dem Hüter des Horns gesprochen. Und ich habe das Recht erworben, es zu benutzen.«

Als ich mich aufsetzte, kam Feddrah-Dahns langsam zu mir herüber, wobei seine Hufe leicht auf dem Parkettboden klapperten.

Er neigte den Kopf und schnupperte an der Brosche. »Dann ist es also wahr. Wer das Horn besitzt, trägt auch den Umhang des Schwarzen Einhorns.«

Steif stand ich auf, und der Umhang bewegte sich auf meinen Schultern, als führte auch er ein Eigenleben. »Ihr hättet mir doch sagen können, dass ich um mein Leben würde kämpfen müssen.«

»Was? Wovon sprichst du?« Delilah berührte den Umhang, und wo ihre Finger ihn streiften, blitzten Funken auf.

Morio legte nur eine Fingerspitze daran und erschauerte. »Ihr Götter, der ist ja vielleicht geladen.«

Ich scheuchte sie ein Stück zurück. »Ich brauche einen Schluck Wasser oder Saft oder so. Ich bin am Verdursten.« Ein schwacher Nachgeschmack des Blitzes hing in meiner Kehle fest, und ich hatte immer noch das Gefühl, um Haaresbreite einem Schicksal als Dessert entronnen zu sein - flambierte Camille. Lecker.

»Ich hole dir was«, erbot sich Delilah und eilte in die Küche.

»Ihr habt nicht zufällig Met im Haus?«, rief Mistelzweig, flatterte hoch und folgte ihr mit schwirrenden Flügelchen.

Langsam wandte ich mich wieder Feddrah-Dahns zu. »Ihr wusstet Bescheid, nicht wahr? Ihr wusstet, dass der Dschindasel mich prüfen würde.«

Er blinzelte, und seine langen Wimpern bebten. »Ich wusste es, ja. Und ich wusste, dass Ihr bestehen würdet. Königin Asterias Wort genügt mir. Sie hat noch nie ein falsches Spiel mit uns getrieben, und ich habe vollstes Vertrauen in ihre Seher.«

Ihre Seher? »Dann hat sie Euch also dazu angestiftet, ja?«

»Sagen wir einfach, wir sind in dieser Angelegenheit zu einer Einigung gelangt. Aber das Schwarze Tier selbst hat die endgültige Entscheidung getroffen.«

Ich schürzte die Lippen. »Aber warum ich? Warum hat sie nicht einen ihrer stärksten Magi ausgewählt? Oder es sich selbst genommen?«

Feddrah-Dahns wieherte. »Weil Euer wertvollster Verbündeter Eure Unberechenbarkeit ist. Ihr und Eure Schwestern seid halb Feen, halb Menschen. Elfen folgen altbekannten Methoden und ändern ihr Vorgehen nur in größter Not. Ihr jedoch und Eure beiden Blutlinien -

Ihr seid wild, Eure Handlungen spontan und unvorhersehbar. Das ist eine Eigenschaft, die oft dazu verhilft, den Feind unvorbereitet zu treffen. Und Ihr habt Wurzeln in beiden Welten, also eine starke Motivation, auch beide Welten zu schützen. Eure Makel sind zugleich Eure stärksten Vorteile. Versucht nicht einmal, alles im Voraus planen zu wollen; es gibt viel zu viele Variablen. Nutzt die Strömungen des Universums, Camille. Lauscht den Gezeiten des Wandels.«

»Mit anderen Worten, sei im Fluss, schwimm mit dem Strom«, sagte ich leise.

»Ja, lasst Euch von der Strömung tragen und betet darum, dass sie Euch nicht an den Felsen zerschmettert«, entgegnete er.

Ein Klopfen unterbrach uns, und in Gedanken immer noch mit seinem Ratschlag beschäftigt, öffnete ich die Haustür. Smoky lehnte am Türrahmen und blickte auf mich herab. Irgendetwas war anders an ihm, aber ich konnte es nicht benennen. Er wirkte intensiver, konzentrierter, als ich ihn je erlebt hatte. Und ich konnte ihn riechen: Begehren und Lust, Gier und Leidenschaft wirbelten um ihn her und rollten auf mich zu wie ein gewaltiger Felsbrocken.

»Du hättest längst bei mir sein sollen«, sagte er. »Komm jetzt. Und bereite dich darauf vor, die Nacht bei mir zu verbringen.« Damit spazierte er an mir vorbei. Auf dem Weg ins Wohnzimmer warf er über die Schulter zurück: »Du hast eine Viertelstunde, und dann nehme ich dich mit, ob du willst oder nicht.«