Kapitel 11

 

Als wir nach Hause kamen, mampfte Feddrah-Dahns sich gerade durch ein Fleckchen hohes Gras, das Iris ihm gezeigt hatte. Das würde ihr die Mühe ersparen, es zu mähen und zu jäten, und er kam auf diese Weise zu einem netten Mittagessen. Er erzählte uns, dass sie zur Buchhandlung gegangen war und Maggie mitgenommen hatte, also waren nur Delilah, Morio, Mistelzweig und ich da. Und das Einhorn. Feddrah-Dahns'

Augen leuchteten auf, als er den Pixie entdeckte, und Mistelzweig flatterte zu seinem gehörnten Herrn und landete auf seiner Schulter.

»Alle Mann rein, Leute. Wir haben Dinge zu besprechen, die besser geheim bleiben.«

Ich schloss die Augen und erspürte die Banne, mit denen ich unser Haus und das riesige Grundstück sicherte. Ja, sie hielten gut. Allerdings hatten wir das auch Morio zu verdanken. Er hatte meine Banne überarbeitet, meine Magie verstärkt, wo sie schwach war, und sie aufgefüllt, wo sie lückenhaft geblieben war.

Sobald wir im Wohnzimmer versammelt waren, stellte ich Morio Feddrah-Dahns vor.

Feddrah-Dahns musterte ihn aufmerksam und mit geblähten Nüstern.

»Dämonenspross, aber nicht widerwärtig«, stellte das Einhorn schließlich fest. »Das Windweidental würde dir gefallen. Es ist eine riesige, weite Ebene, wo es viele von deiner Art gibt, Fuchsspross.«

Morio blickte überrascht drein. »Es gibt Yokai in der Anderwelt?«

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, deine Art sei auf die Erdwelt beschränkt?« Nun war es Feddrah-Dahns, der überrascht blinzelte. »Denk daran - ihr wandelt zwischen Welten. Wäre es da nicht möglich, dass die Erde nicht eure einzige Heimat ist?«

Morio sank in den Lehnstuhl, einen nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht. »An diese Möglichkeit hatte ich noch gar nicht gedacht. Meine Eltern sprechen nicht gern über ihre eigene Geschichte. Meine Mutter hält sich sehr bedeckt, seit ihre Mutter von Kriegern getötet wurde, die sie als Freiwild betrachteten. Mutter und Großvater - der bei dem Versuch, meine Großmutter zu retten, schwer verletzt wurde - konnten entkommen. Großvater hat sie bei seiner Schwester untergebracht.«

Ich starrte ihn an. Davon hatte er mir noch nie erzählt. »Dann hat deine Mutter sicher große Angst vor Menschen.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie gibt die Schuld daran nur den Männern, die ihre Mutter getötet haben. Aber mein Großvater hasst VBM bis heute. Mein Vater hätte allen Grund, die Menschen zu hassen, aber auch da sind sich meine Eltern sehr ähnlich.«

»Was ist passiert?«, fragte ich begierig. Morio sprach sehr selten von seiner Kindheit oder seiner Familie, und wenn er einmal bereit war, sich zu öffnen, dann war ich mehr als bereit, ihm zuzuhören.

»Vater musste mit ansehen, wie seine gesamte Familie in der Achikaga-Zeit von einem Großgrundbesitzer ermordet wurde. Obwohl noch zwei Jahrhunderte vergingen, bis er das Mannesalter erreichte und meine Mutter heiratete, verfolgt ihn die Angst bis heute. Meine Eltern haben mich gelehrt, meine Abstammung geheim zu halten und nur auf Großmutter Kojotes Geheiß irgendjemandem zu enthüllen, wer ich bin. Sie geben der Menschheit als Ganzes nicht die Schuld an dem, was sie erlebt haben ... aber ...«

Verflucht, was für schreckliche Erinnerungen. Ich nahm seine Hand. »Warum Großmutter Kojote? Wie genau sieht eure Verbindung zu ihr aus ? Das hast du mir noch nie erklärt:«

Er warf einen Blick auf das Einhorn und den Pixie und sah dann wieder mich an.

»Großmutter Kojote hat Yoshiro, meinen Vater, damals gerettet. Er hat sich im Wald versteckt und musste zuschauen, wie seine Eltern und Geschwister abgeschlachtet wurden. Großmutter Kojote kam zufällig vorbei. Sie hat meinen Vater mit sich nach Hause genommen - sie hat auch ein Portal in Japan, nicht nur hier - und ihn großgezogen wie ihren eigenen Sohn.«

»Dein Vater ist bei Großmutter Kojote aufgewachsen?« Bei dem Gedanken lief mir ein Schauer über den Rücken. Delilah starrte ihn mit offenem Mund an, die Hand über der offenen Fritos-Tüte erstarrt.

»Ihr guten Götter«, platzte sie heraus. »Dein Vater hatte eine der Ewigen Alten zur Stiefmutter? Es wundert mich, dass er das Mannesalter überhaupt erlebt hat.«

Morio lächelte. »Das hat ihn sehr zäh gemacht. Nach ein paar Jahren beschloss Großmutter Kojote, nach Amerika zurückzukehren, und vertraute ihn Kimiko an, die seine Patin wurde. Kimiko ist eine kleine Naturgottheit in Japan. Sie herrscht über die Devas und Blumengeister meiner Heimatregion. Sie hat Vater gelehrt, seine Macht zu gebrauchen, und sie ist der Schutzgeist, dem unsere Familie Tribut zollt. Aber es ist Großmutter Kojote, der mein Vater sein Leben verdankt. Ohne ihr Eingreifen wäre er ganz sicher gestorben. Wir erfüllen ihre Bitten. Immer.«

Er lächelte leicht, und plötzlich verstand ich meinen dämonischen Liebhaber und seine erstaunliche Loyalität viel besser.

Ich dachte an unsere eigenen Großeltern, die uns kaum beachtet hatten, weil wir halb menschlich waren. Wir hatten sie nur selten gesehen, und das Letzte, was ich von ihnen gehört hatte, war, dass sie bei irgendeinem seltsamen Unfall ertrunken waren. Mein Vater hatte sich längst von ihnen abgewandt, weil sie die Liebe seines Lebens strikt abgelehnt hatten.

»Großmutter Kojote ist für dich also tatsächlich eine Art Großmutter. Aber ich nehme an, dass sie eher selten Kekse für dich backt.«

Morio schnaubte. »Wohl kaum. Und ich würde sie nie Oma nennen, da kannst du sicher sein.«

Ich vergewisserte mich, dass Feddrah-Dahns genug Platz hatte, und setzte mich dann vor Morio auf den Fußschemel. Er legte die Arme auf meine Schultern, und ich lehnte mich zurück und sah ihm ins Gesicht. Er presste die Lippen auf meine. Obwohl wir uns kaum berührten, entflammte mich die Hitze zwischen uns bis in die Zehenspitzen.

Trillians Leidenschaft war ein Pulverfass, das explodierte, wenn wir einander berührten. Morios war eher wie flüssige Lava, die sich durch meine Adern wälzte. In seinen dunklen Augen schimmerten rotgoldene Fleckchen, die sich auf das ganze Auge ausbreiteten, wenn er seine Dämonengestalt annahm. Wie immer, wenn sich unsere Energie miteinander verband, fiel ich in den tiefen, lockenden Abgrund der Magie, und diese Kraft zwischen uns begann sich wirbelnd zu drehen.

»Ahem«, räusperte sich Delilah. »Wenn ihr beide dann so weit wärt, könnten wir vielleicht diese Unterhaltung fortsetzen?«

Ich grinste. »Entschuldigung, ich war nur ...«

»Schon gut«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Ich weiß. Können wir jetzt trotzdem fortfahren?«

Ich straffte die Schultern. »Gut. Das Wichtigste zuerst. Mistelzweig, geht es dir auch gut? Haben diese Diebe dich verletzt?«

Der Pixie schüttelte den Kopf. »Nein. Wie ich Eurer Schwester bereits im Wagen sagte, geht es mir sehr gut, Mylady.«

Er hatte jedenfalls wesentlich bessere Manieren als die meisten anderen Pixies, die ich bisher kennengelernt hatte. Normalerweise gehörten sie eher zur ordinären, flegelhaften Sorte, auch weibliche Pixies pöbelten für ihr Leben gern. »Hast du das Horn denn noch?«, fragte ich und bemühte mich, nicht allzu begierig zu erscheinen.

Aber ich konnte es nicht leugnen -ich wollte das Ding unbedingt sehen.

Mistelzweig nickte. »Ja, Mylady. Euer Hoheit, wünscht Ihr, dass ich es jetzt hole?« Er kniete auf Feddrah-Dahns' Schulter nieder.

»Ja, mein Freund, und gib es gleich Camille. Sie besitzt die Kraft und innere Stärke, es zu gebrauchen, obwohl sie selbst an sich zweifelt«, fügte das Einhorn hinzu und starrte mir dabei in die Augen. Sein Blick bohrte sich in meinen, und es war beinahe, als könnte er tief in mein Herz schauen und meine Ängste und Selbstzweifel erkennen.

Mistelzweig pfiff einen langgezogenen Ton, der sich anhörte wie von einer silbernen Flöte. Er sprang von Feddrah-Dahns' Rücken, schwirrte leicht zu Boden und öffnete seine Tasche. Ich beobachtete ihn neugierig und fragte mich, woher er das Horn holen würde. Da entdeckte ich, dass sich in dem Beutel ein Strudel bildete. Er griff in die herumwirbelnden Farben, und als er die Hand wieder hervorzog, hielt er ein mit Samt bezogenes Kästchen darin.

»Sehr schlau«, sagte ich. »Du hast es in einem interdimensionalen Portal versteckt.«

»Ich wünschte, das hätte ich gleich getan, als mein Herr es mir anvertraute«, entgegnete der Pixie errötend. Seine Haut war eigentlich mintgrün, und mit dem Rot auf seinen Wangen erinnerte er an einen Weihnachtsbaum. »Ich habe einen äußerst peinlichen Fehler gemacht und kann nur hoffen, mir das Vertrauen Seiner Hoheit erneut verdienen zu dürfen.«

Ich blinzelte verblüfft. Er hörte sich nicht pompös an, obwohl er so altmodisch sprach.

»Warst du denn schon einmal erdseits, Mistelzweig?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe die englische Sprache gelernt, als ein Sterblicher sich unglücklicherweise durch ein Portal verirrte. Er betrat vor weit über hundert Erdwelt-Jahren das Windweidental, und Seine Hoheit gewährte ihm Schutz.

Er war ein angehender Poet, und er blieb eine Weile bei uns, bis es uns gelang, ihn in seine Heimat zurückzuschicken. Seither habe ich nur mit wenigen Feen Englisch gesprochen, die zwischen den Reichen hin- und herreisen.«

Ich sah ihn erstaunt an. Vor hundert Jahren war ein Mann durch die Schleier spaziert, in der Anderwelt gelandet und hatte seinen Platz neben dem Kronprinzen der Dahns-Einhörner eingenommen. »Das muss für den armen Kerl ein ziemlicher Schock gewesen sein.«

»Mitnichten«, meldete sich Feddrah-Dahns zu Wort. »Er war weder schockiert, noch hatte er Angst. Nein, er war hocherfreut, und es hat uns große Anstrengung gekostet, ihn zur Rückkehr in seine Heimat zu überreden. Ich hätte ihn bei uns bleiben lassen, aber Arachnaese, die Weberin, bestand darauf, dass er in die Erdwelt zurückkehren müsse. Anscheinend hatte William Butler hier eine für das Schicksal bedeutsame Rolle zu spielen und durfte deshalb nicht in der Anderwelt bleiben -sonst wäre das Gleichgewicht gestört worden.«

»Hier«, sagte Mistelzweig und überreichte mir das Samtkästchen. »Seid vorsichtig, wenn Ihr es öffnet. Das Horn ist machtvoll und könnte Euch leicht verschlingen, wenn Ihr nicht auf die ungeheure Energie vorbereitet seid.«

Ich starrte das Kästchen an. Hier in meinen Händen lag eines der seltensten, wertvollsten magischen Artefakte der Anderwelt. Viele Schatzsucher hatten im Lauf der Jahre danach getrachtet, und manche hatten bei der Jagd nach dieser legendären Kostbarkeit ihr Leben gelassen. Tausend Magi würden alles dafür geben, jetzt an meiner Stelle zu sein, und ein paar von denen waren nicht besonders freundlich. Genau genommen würden eine Menge von denen, wenn sie wüssten, dass ich das Horn besaß, mich kurzerhand in Stücke sprengen, um es mir zu stehlen.

Ich holte tief Luft, legte mir das Kästchen in den Schoß und öffnete langsam den Deckel. Schimmernder Stoff kam zum Vorschein, aus fein gesponnenem Gold gewoben. Dieses Tuch allein war ein kleines Vermögen wert, hier wie auch in der Anderwelt. Delilah schnappte nach Luft und lehnte sich vor, um es genauer zu betrachten. Morio riss die Augen auf und legte mir eine Hand auf den Rücken, um mir Kraft zu geben.

Während ich stumm den Stoff auseinanderfaltete, begannen meine Finger zu kribbeln.

Dann meine Hand. Schließlich bebte mein ganzer Körper so heftig, als wollte er mir die Zähne aus dem Kiefer rütteln. Zitternd starrte ich auf das Horn hinab, das in den Falten des Tuchs ruhte. Es war gut fünfundvierzig Zentimeter lang und bestand aus purem, diamanthartem Kristall, in den goldene, schwarze und silberne Fäden eingeschlossen waren wie Venushaar in einer Kristallkugel aus Quarz. Es summte mit einem tiefen, leisen Ton, und zögernd griff ich danach - ich rechnete damit, dass es aufflammen und mir die Hand verkohlen würde.

»Nehmt es«, sagte Feddrah-Dahns. »Es ruft nach Euch.«

Ich schloss die Augen und lauschte. Da - eine schwache Stimme im Wind. Die Worte konnte ich nicht verstehen, sie klangen fremdartig und fern, aber eine Einladung hallte in meinem Herzen wider, in meiner Seele, im silbrigen Schimmer der Tätowierung auf meinem linken Schulterblatt, wo ich während des Einweihungsrituals als Kind der Mondmutter gezeichnet worden war. Das Horn wollte mich ebenso sehr.

Als ich die Finger um den spitz zulaufenden Stab schloss, brach die Erinnerung an die Nacht meiner Initiation mit aller Macht über mich herein. Plötzlich stand ich wieder in der Grotte, wo ich meinen Eid geschworen und meine Seele fürs ganze Leben der Mondmutter anvertraut hatte.

Der Mond stand hoch, golden und voll am Himmel, erfüllt vom Versprechen der Magie. Ich hatte eine jahrelange, harte Ausbildung hinter mir bis zu diesem Augenblick, der Nacht der Auswahl, in der meine Mentoren darüber berieten, ob man mir gestatten sollte, den Eid abzulegen.

»Sie wird sich niemals über diesen Punkt hinaus weiterentwickeln«, sagte Lyra. »Sie sollte die Stadt verlassen und eine mindere Hexe bleiben.«

Lyra war schon immer meine Gegnerin, meine Nemesis gewesen. Die Aufgaben, die sie mir stellte, waren immer ein bisschen zu schwer, ihre Ansprüche immer gerade so nicht zu erfüllen. Nichts, was ich tat, fand Gnade vor ihren Augen, und ich hatte mich wohl hundert Mal in den Schlaf geweint, ihre grausamen Kränkungen noch in den Ohren.

Nigel schüttelte den Kopf. »Ich glaube, in unserer Camille steckt mehr, als man auf den ersten Blick meinen mag.« Als mein wichtigster Lehrer und Mentor hatte er mich ebenso hart gefordert wie Lyra, aber er war nicht annähernd so barsch. »Es dauert vielleicht noch seine Zeit, aber sie wird weiter reisen, als du oder ich jemals kommen werden. Sie wird härter kämpfen und es mit viel stärkeren Gegnern aufnehmen, als wir uns träumen lassen.«

Er legte mir die Hände auf die Schultern und sah mir fest in die Augen. »Camille, hör mir gut zu. Du bist eine Anführerin mit einer Achillesferse.

Dieser Makel wird dir für immer bleiben, doch dein Mut wird deinen Mangel an Fähigkeiten ausgleichen. Fürchte dich nicht davor, dich der Mondmutter hinzugeben, wenn sie nach dir ruft. Nimm ihre Hilfe an, wenn sie sie dir schickt, auch wenn diese Hilfe von unerwarteter Seite kommen sollte. Ich stimme dafür, dich den Eid ablegen zu lassen.«

Ich schwieg. Lektion Nummer eins: Schüler dürfen nur sprechen, wenn ihnen eine direkte Frage gestellt wird. So war es schon immer gewesen, und so würde es auf ewig bleiben.

Heute Nacht würde der Zirkel der Mondmutter mir entweder erlauben, den Eid abzulegen und mein volles Potenzial zu entwickeln, oder mich schmachvoll abweisen.

Dazwischen gab es nichts. Entweder man schaffte es oder eben nicht.

Diejenigen Schüler, die die Prüfung nicht bestanden, verließen Y'Elestrial meist in Schimpf und Schande und streiften durch das Land, bis sie ein Dorf fanden, das ihnen Kost und Logis für einfache magische Dienste anbot. Oft ergänzten sie die Arbeit der Heiler und Wächter dieses Ortes.

Diese Ausgestoßenen führten meist ein stilles, zurückgezogenes Leben. Nie wieder durften sie die Tempel der Mondmutter betreten, obwohl die meisten für sich allein zu ihr beteten, in jenen Nächten, wenn sie voll und rund am Himmel stand.

Mis-Mis, das dritte Mitglied des Zirkels, erhob sich von ihrem Stuhl. »Eine Stimme dafür und eine dagegen. Ein Unentschieden haben wir selten. Meist sprechen die Fähigkeiten einer Anwärterin für sich. Daher müsst ihr vor die Hohepriesterin treten und ihr das endgültige Urteil überlassen.« Mis-Mis durfte nicht abstimmen. Sie war die Mediatorin und als solche gezwungen, ihre eigene Meinung für sich zu behalten.

Nigel stieß einen leisen Pfiff aus. »Ja, vielleicht ist es so am besten. Die Hohepriesterin wird Herz und Seele dieses Mädchens viel klarer durchschauen als du und ich, Lyra. Sie wird den Willen der Mondmutter erkennen.«

Lyra wandte sich stirnrunzelnd ab. »Ich warne dich, wenn das Halbblut den Eid ablegt, werden wir das noch bereuen. Halb Fee, ich bitte dich. Es überrascht mich, dass sie überhaupt so weit gekommen ist.«

Ich zwang mich, den Mund zu halten. Wenn ich jetzt versuchte, meine Ehre oder meine Familie zu verteidigen, würde ich meine Chancen vollends ruinieren.

»Derisa ist die beste Entscheidung«, erklärte Mis-Mis bestimmt. »Das Mädchen wird sich nicht schlecht behandelt fühlen, wenn das ablehnende Urteil von ihr kommt.

Auch wird es dem Vater dann nicht möglich sein, Einspruch aufgrund irgendwelcher Voreingenommenheiten zu erheben.«

Na toll. Als könnte ich nicht jedes Wort hören, das sie sagten. Aber ich beherrschte mich und tat nicht das, wonach mir zumute war, nämlich herauszuplatzen: »Entschuldigung, aber ich stehe direkt neben euch, Leute.« Es mochte ja sein, dass ich manchmal ziemlich übereilt handelte, aber heute Abend würde ich das gewiss nicht tun.

Mis-Mis gab mir mit dem Zeigefinger einen Wink. »Folge mir.«

Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und ging flott auf den Tempel zu. Ich folgte ihr, so rasch ich konnte, doch wir gingen nicht hinein. Stattdessen eilten wir an den schimmernden marmornen Mauern vorbei hinter das Gebäude, wo am Waldrand ein kleines, bescheidenes Häuschen stand.

Mis-Mis hob die Hand. »Warte hier.« Sie betrat die Hütte und ließ mich allein draußen stehen.

Ich blickte zum Mond auf. »Lass mich nicht im Stich«, flüsterte ich der glänzenden Scheibe zu. »Weise mich nicht ab. Bitte.« Mein ganzes Leben hatte sich um zwei Dinge gedreht: mich als Hexe der Mondmutter zu weihen und mich seit dem Tod unserer Mutter um meine Schwestern zu kümmern. In der zweiten Aufgabe schlug ich mich ganz gut, aber in der ersten war ich nicht gerade spitze. Selbst wenn ich es schaffte, mich der Mondmutter zu verpflichten, würde ich es wohl nie zur Priesterin schaffen.

Gleich darauf erschien Mis-Mis wieder vor der Hütte. Teribeka folgte ihr nach draußen. Sie war eine der ältesten Priesterinnen der Mondmutter und eine der mächtigsten. Doch als Anwärterin auf das Amt der Hohepriesterin war sie stets über-gangen worden, und niemand wusste, warum.

»Wie ich höre, ist es dir bestimmt, den Hain aufzusuchen«, sagte Teribeka zu mir und gab Mis-Mis einen Wink, die abrupt den Weg einschlug, den wir gekommen waren.

Ich schluckte. Verdammt, wenn Lyra nur nachgegeben und Nigel zugestimmt hätte, dann würde ich jetzt meinen Eid ablegen und meine erste Nacht mit der Wilden Jagd verbringen.

»Ja«, antwortete ich, plötzlich nervös. Von dieser Nacht hing so viel ab.

Doch zu meiner Überraschung lächelte die alte Hexe nur. »Dann sollten wir uns beeilen, Mädchen. Wir dürfen die Hohepriesterin nicht warten lassen.«

Die Hohepriesterin der Mondmutter hatte keine anderen Interessen, keine andere Aufgabe, als dem Willen der Herrin zu dienen. Ihr Treueid galt allein der Mondgöttin, der sie ihr Leben und ihren Tod geweiht hatte. Sie war das Tor zur Göttin.

Während Teribeka mich für unseren Weg vorbereitete, betrachtete ich die dichtgedrängten Sterne über mir, die ihr glitzerndes Licht herabregnen ließen. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und starrte die uralte Scheibe dort oben an, während Teribeka einen gravierten Gürtel um meine Taille befestigte und mir dann die Hände mit silbernen Schellen und Ketten hinter dem Rücken fesselte.

Sie warf einen Blick zum Himmel. »Auch ich spüre ihren Sog«, sagte sie nur, doch ihre Worte beruhigten mich. Ich warf ihr ein vorsichtiges Lächeln zu, und wir machten uns auf den Weg in den Wald. Wir folgten einem Pfad zwischen den Bäumen hindurch. Die Nachtluft war erfüllt von Vogelstimmen und dem leisen Rascheln der Wildkatzen auf ihrer Jagd.

Als wir den Eingang zum Hain erreichten, blieb Teribeka stehen. »Ich kann nicht weitergehen, Kind. Diese Reise kann nur eine machen, du musst Derisas Garten allein betreten.«

Sie zögerte und legte mir dann sanft die Hand auf den Arm. »Überlege es dir gut, ehe du den Fuß auf diesen Pfad setzt. Wenn die Hohepriesterin Derisa einverstanden ist und du noch heute Nacht vor der Göttin niederkniest, wird dein Leben nie wieder dir selbst gehören. Dein Herz und deine Seele werden unwiderruflich an die Mondmutter gebunden sein.«

Ich blickte zu der silbrigen Scheibe auf und lauschte dem Atem des Waldes. Meine Brust hob sich im Rhythmus des Waldlandes um mich her.

»Ich habe keine andere Wahl«, sagte ich. »Mutter Mond ruft seit meiner Geburt nach mir. Es gibt für mich keinen anderen Weg.« Ich ließ die Silberketten an meinen Handgelenken klimpern. »Ihre Fesseln sind viel schwerer und stärker, als Eure es je sein könnten.«

Teribeka nickte. »Überlege dir jedes Wort, ehe du sprichst. Der Tod ist nicht so schrecklich wie der Zorn der Götter. Die Hohepriesterin hält das Licht der Herrin in Händen, und sowohl sie als auch die Mondmutter ahnden Dummheit mit einem schnellen, aber schmerzhaften Tod. Mutter Mond beherrscht nicht nur die Nacht, sie ist auch die Essenz des Waldes. Sie ist die Lichte Mutter der funkelnden Magie und die Dunkle Jägerin, die ihr Rudel anführt. Sie wird dich verschlingen, falls du straucheln solltest.«

Ich zwang meine Füße vorwärts. Die Zweige und vermodernden Blätter hielten mich an den Knöcheln zurück, als wollten sie mir zurufen: Halt, geh nicht! Aber ich trat sie mir aus dem Weg. Als ich die Baumreihe erreichte, die den Eingang zum Hain markierte, erkannte ich Eiche und Weide - Kraft und Intuition.

Ich schob mich durch die Zweige und hielt inne, um die Stirn an einen knorrigen Stamm zu lehnen. Die uralten Wächter des Hains waren so groß, ihre Stämme so mächtig, dass in ihren Spalten die Leichen von Priesterinnen aus vergangenen Zeitaltern steckten; in der traditionellen Bestattungshaltung zusammengekauert, wurden sie hier beigesetzt. Elfenbeinweiße Knochen schimmerten in den Höhlungen der Stämme. Der Instinkt trieb mich voran, und ich knickste vor jedem Grab und ehrte damit die Reihe der Ahnfrauen, aus denen der Orden der Mondmutter hervorgegangen war.

Jenseits der Baumwächter befand sich ein Torbogen, dicht von wilden Rosen umschlungen, die an dem steinernen Durchgang emporkletterten. Glyzinienranken hingen schwer und üppig von dem Bogen herab. Ihr Duft war berauschend, köstlich mit einem Hauch von Verwesung an den Rändern.

Die Last meiner Ketten wurde mit jedem Schritt schwerer. Würde ich bald dauerhaft von Narben gezeichnet sein? Verbrannt vom kalten Feuer des Silbers? Oder war dies nur eine Mahnung, dass ich mich dem Hain näherte?

Der Wind sank zu einem Flüstern herab, als ich das Reich der Mondmutter betrat.

Der Thron der Hohepriesterin, von den Händen lange Verstorbener aus einem uralten Eichenstamm gehauen, war mit eingelegten Smaragden und Peridot, Granaten und Mondstein geschmückt. Polierte Armlehnen umschlossen Derisa wie in einer Umarmung und krümmten sich wie die Füße eines gewaltigen Drachen. Schillernde Metallschuppen bedeckten die Rückenlehne, an der ihr Kopf ruhte. Halb liegend, ein gestiefeltes Bein über die Armlehne gehängt, ruhte die Hohepriesterin der Mondgöttin schweigend auf ihrem Thron, bis ich vor ihr stehen blieb.

Dann stand sie auf. Ihre Silhouette hob sich als hoher Schatten vor dem Mondlicht ab.

Sie war für die Jagd gekleidet, in Pflaumenblau und Schwarz - Kittel, enganliegende Hose, Stiefel. Ein Nimbus aus lavendelfarbenem Feuer umgab sie, und ihre Aura knisterte vor Magie. Dunkel war sie und schön, mit schwarzen Locken, die ihr bis zu den Knien reichten, und feiner Haut, so unglaublich hell, dass sie dem Mondschein glich. In ihren Augen funkelte kaltes Feuer, während sie mich begutachtete; ihr Blick drang mir bis auf die Knochen.

Meine Beine gaben nach, und plötzlich kniete ich auf dem Boden und berührte mit der Stirn die Erde am Fuß des Throns.

Derisa stieg herab und stupste mir sacht mit einer Stiefelspitze in die Rippen. »Lyra rät dazu, dich hinauszuwerfen, Nigel empfiehlt, dir den Eid abzunehmen. Was sagst du? Falls es notwendig sein sollte, bist du wirklich bereit, deine Familie im Stich zu lassen, dein Leben aufzugeben, ja selbst deine Seele?«

Ihre Stimme fegte in einem zornigen Windstoß an mir vorbei, und ihre melodisch gesprochenen Worte wanden sich in mein Herz, schlugen dort Wurzeln und zogen mich in ihren Bann.

In entsetzlicher Angst sah ich zu ihr auf, schaffte es aber dennoch, ihrem Blick zu begegnen.

»Die Mondmutter hat mich gerufen, als ich noch ein kleines Kind war«, flüsterte ich.

»Dies ist der einzige Weg, den ich je im Leben gehen wollte. Ich brauche sie - ich kann ihren Ruf nicht ignorieren.«

Derisa zögerte und kniete sich dann neben mich. Sie streckte die Hand aus, legte die Finger unter mein Kinn und hob meinen Kopf an, um mir direkt in die Augen zu sehen. Mein Zittern hörte abrupt auf. Sie allein würde über mein Schicksal entscheiden, sie und Mutter Mond. Die Angst stahl sich davon wie eine Schlange, die ihre Haut abwarf, und ich holte tief Luft und blickte in ihr wunderschönes Gesicht.

Nach einer langen Weile sprach sie, und diesmal war ihre Stimme leise. »Lyra sagt, es könnte dir an Begabung mangeln. Das ist wahr, aber es sieht womöglich nur so aus, weil deine Gabe gelegentlich den falschen Weg einschlägt. Auch Nigel spricht Wahres. Camille Sepharial te Maria, die Mondmutter blickt in dein Herz und deine Seele und findet beides rein und klar. Du bist sowohl aufrichtig als auch mutig, Halbblut oder nicht. Komm, Kind, steh auf.«

Ich stand auf.

Derisa beugte sich vor. »Mutter Mond hat Antwort gegeben. Sie wird dich als ihre Dienerin annehmen. Ich frage dich noch einmal, ehe du den Eid ablegst, denn dann wird es kein Zurück mehr geben: Wirst du dich ihr überlassen, damit sie mit dir tun kann, was ihr beliebt?«

Ich nickte und erhaschte einen Hauch ihres Parfüms - Flieder und Zitrone.

»O ja«, antwortete ich atemlos. »Ich widme ihr mein Leben. Und meinen Tod.«

»Dann werde ich dir den Eid abnehmen. Hör gut zu, Mädchen, und dann antworte mir.« Wind erhob sich, peitschte wild um uns her und ließ die Silberketten zart klimpern.

»Camille Sepharial te Maria, trittst du aus eigenem Wunsch und Willen in den Dienst der Mondmutter als eine ihrer Hexen und schwörst ihr die Treue vor allem anderen, was dir heilig ist, auch vor dem eigenen Leben?«

Mein Herz begann zu pochen. Dies war der Augenblick: Ich würde mich durch den Eid an die Mondmutter binden, und alles in meinem Leben würde klar und einfach sein. Nichts würde mir je wieder Kummer bereiten, solange ich die Jägerin der Nacht in meinem Herzen festhielt.

»Ja, o ja, ich schwöre meinen Eid.«

»Camille Sepharial te Maria, nimmst du das Joch der Hexe an in dem Wissen, dass du womöglich niemals die Gewänder einer Priesterin tragen wirst, dass du niemals frei sein wirst, dich einer anderen Göttin hinzugeben, dass dein Geist für immer gebunden sein wird und keinen anderen Göttern huldigen kann als der Mondmutter, solange du in diesem Körper auf der Welt weilst?«

Ich konnte kaum mehr atmen. Derisas Stimme drang wie aus weiter Ferne zu mir, und ich erhob mich aus meinem Körper, während mein Herz wie das Echo Tausender Stakkato schlagender Trommeln pochte.

»Darauf schwöre ich meinen Eid.«

Dann kamen die Fragen rasch nacheinander, so schnell, dass ich kaum denken konnte.

Camille Sepharial te Maria, wirst du für die Mondmutter leben ...

Darauf schwöre ich ...

Wirst du für die Mondmutter heilen ...

Darauf schwöre ich ...

Wirst du für die Mondmutter töten ...

Darauf schwöre ich ...

Wirst du für die Mondmutter sterben ...

»Darauf schwöre ich meinen Eid.« Die Böen wurden kalt und scharf, und die Hohepriesterin schob mir das Gewand von der Schulter. Es fiel herab und entblößte meine Brust, und sie trat hinter mich, strich mir das Haar auf die rechte Seite und presste die Handfläche auf mein linkes Schulterblatt.

Ein Blitzstrahl fuhr vom sternenhellen Himmel herab in Derisa hinein, zuckte durch ihren Arm und ihre Hand und brannte sich in meinen Rücken. Der Schock, die Kälte wie in Hels gefrorenen Reichen, drohte mich zu verzehren. Ich biss die Zähne zusammen und unterdrückte einen Aufschrei, zitternd vor Schmerz. Die Energie besaß ein eigenes Bewusstsein, sie bewegte sich, als bissen eisige Zähne eine dünne Spur durch mein Fleisch. Sie füllte die neue, blutige Vertiefung an meinem Schulterblatt mit flüssigem Silber, bis eine Tätowierung in Form eines Labyrinths entstanden war.

Ich rang nach Atem, hielt aber aus, bis das Mal fertig war. Derisa zog mich in ihre Arme und küsste mich auf den Mund. Ihre Zunge suchte nach meiner und hieß mich leidenschaftlich willkommen, die Schellen und Ketten fielen von meinen Händen, und der Gürtel landete auf dem Boden. Mit einer einzigen Bewegung zog die Hohepriesterin mir das Gewand aus, so dass ich nackt und zitternd im Mondlicht stand.

Ich schnappte nach Luft, streckte die Arme aus und spürte das kalte Licht meiner Herrin, das sich in mich ergoss, meine Adern füllte und wie zäher Honig durch meinen ganzen Körper floss. Ein Lachen hallte durch den Hain, und mir wurde schwindelig vor Kraft, als die Mondmutter mich verführte. Derisa zog mich an sich und küsste mich erneut, langsam, gemächlich, und ließ die Hände über meinen Körper gleiten.

»Willkommen, jüngste Tochter des Mondes«, flüsterte sie.

Mir stockte der Atem, als mir vollkommen klar wurde: Ich hatte mich für immer der Herrin verpflichtet. Ihr Wille war der meine. »Ich gehöre ihr ...«, sagte ich, und die jubelnde Freude war mir deutlich anzuhören.

Derisa lächelte mich wild an, und ihre Augen blitzten schalkhaft fröhlich. Ich sagte nichts mehr. Was hätte ich auch sagen können? Meine Welt hatte sich für immer verändert, und ich konnte nur den Kopf in den Nacken legen und zum Himmel hinaufblicken, geborgen in der Umarmung der Hohepriesterin.

Und dann begann ein schwacher Laut in meinem Hinterkopf widerzuhallen. Die Mondmutter flüsterte mir etwas zu.

Das Flüstern wurde zu einem tosenden Tumult, einer Kakophonie aus Gedichten und Liedern. Ich spürte, wie ich am Rand des Chaos schwankte. Sie rief nach mir. Rief mich in die Wälder, wo ich mit ihr laufen sollte. In die Wälder, auf die Jagd, mit dem wilden Rudel über den Himmel rasen. Ich konnte sie sehen: Hunde und Hasen, Bären und Panther, längst verstorbene Krieger und Jäger und wilde Hexen, die der Herrin der Nacht schon vor Äonen ihren Eid geschworen hatten. Und an ihrer Spitze führte die Mondmutter selbst die Wilde Jagd, eine Silhouette aus glühendem Silber mit dem Bogen über einer Schulter, die wüst und heulend durch die samtene Nacht hetzte.

»Komm, spiel mit uns ... komm, lauf mit uns ...«, lockten die Stimmen.

Mit einem Aufschrei sah ich Derisa an und erkannte, dass auch sie dem Ruf folgen würde. Sie griff nach meiner Hand, und ich überließ sie ihr voller Vertrauen, Vertrauen in die Mondmutter. Als Derisas Finger sich um meine Handfläche schlossen, wurden wir plötzlich in die Luft erhoben, angezogen von der Wilden Jagd.

Im Strudel der Jagdgesellschaft, die jeden Monat bei Vollmond über den Himmel zog, sprangen wir in den Astralraum - mit Leib und Seele - und flogen in den Himmel hinauf, behütet von unserer riesigen, leuchtenden Göttin, die auf uns herabblickte.

Alles verschwamm außer der Leidenschaft für die Jagd, dem Trieb, jene zu suchen und zu fangen, die der Nacht gehörten. Die Vernunft sickerte aus meiner Seele, silbrig schimmernd schwoll die Mondmagie in meinem Herzen an, und ich ließ meinen letzten besorgten Gedanken los, meine allerletzte Angst, und überließ mich auf immer und ewig der Mutter Mond.