Kapitel 13

 

Du kannst nicht einfach hier hereinplatzen und mich so herumkommandieren. Ich wollte ja bald zu dir rausfahren, also mach nicht so einen Wind!« Ohne darüber nachzudenken, packte ich Smoky am Arm und riss ihn zu mir herum, als wir das Wohnzimmer erreichten. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden war ziemlich derb mit mir umgesprungen worden, und ich war ein bisschen empfindlich.

Er starrte kurz auf meine Finger an seinem Arm, hob dann den Blick und sah mir in die Augen. Er wirkte nicht belustigt, und ich hatte das Gefühl, dass ich noch zwei Sekunden von einer wahrhaft scheußlichen Strafe für meine Dreistigkeit entfernt war.

Lass langsam den Drachen los und weiche zurück ... Hol tief Luft, lass die Hände sinken, mach ein zerknirschtes Gesicht... Dann verspeist er dich vielleicht nicht zum Mittagessen.

Oder vielleicht doch, und es gefällt dir sogar, kitzelte mich eine schlüpfrige Stimme im Hinterkopf.

Und dann flammte meine Empörung auf, und ich gab mich einer Mischung aus Arger und Selbstmitleid hin. »Hör zu, in den vergangenen vierundzwanzig Stunden habe ich gegen einen Grottenschrat, einen Goblin und eine Humberfee gekämpft. Ich habe mitgeholfen, zwei Dubba-Trolle zu töten, einem Haufen wildgewordener Pixies Bescheid gesagt und einen vermissten Pixie gefunden.« Ich zählte jedes Ereignis an den Fingern ab und schluckte meine Angst herunter; er wartete darauf, dass ich fortfuhr.

»Was noch? Ach ja, dann war da die Kleinigkeit mit dem Blitzstrahl, dem ich entgehen konnte. Er hätte die ganze Stadt in Schutt und Asche legen können, so stark war er, aber nein -er zielte direkt auf mich. Wenn ich bei dieser Prüfung versagt hätte, hätte ich nicht nur auf dieses todschicke Horn vom Schwarzen Einhorn verzichten müssen, das neuerdings mir gehört, sondern ich wäre im Astralraum zu Asche verbrannt, und mein Körper hätte einen Herzinfarkt erlitten.«

»Sonst noch was?«, fragte er und grinste hämisch.

Jetzt war ich eher wütend als verängstigt - Smokys Launen waren offensichtlich ebenso unberechenbar wie meine. Also stemmte ich die Hände in die Hüften. »Jetzt, da du es erwähnst, ja. Wenn du dich mächtig aufblasen und einen Riesenwirbel machen willst, bitte, tu das ruhig. Aber deswegen werde ich keine Minute früher fertig sein, als ich vorhatte. Ich habe Hunger. Ich bin gestresst. Und im Augenblick wünsche ich mir nur, ich könnte mich in ein Tigerkätzchen verwandeln wie Delilah und mich zu einem friedlichen Nickerchen zusammenrollen!«

Morio und Feddrah-Dahns starrten mich an, als wäre mir gerade ein zweiter Kopf gewachsen. Vielleicht war ich ein bisschen zu laut geworden? Dampf ablassen war eine Sache. Aber jemanden derart anzubrüllen, war eigentlich nicht meine Art. Und Smoky war für nichts von alledem verantwortlich, was mir heute widerfahren war.

Er warf mir einen nachdenklichen Blick zu. »Ich kenne ein hervorragendes Heilmittel gegen Stress. Wir werden es später damit versuchen.« Dann marschierte er an mir vorbei zu dem Morris-Sessel, lehnte sich daran und sagte zu Feddrah-Dahns: »Da wären wir wieder. Ihr habt Euren Pixie also gefunden?«

Feddrah-Dahns wieherte und schüttelte seine fließende Mähne. »Ja, dank Lady Camille und ihrer Schwester.«

»Was? Was ist mit mir?«, fragte Delilah, die gerade mit einem Tablett voll Sandwiches und Getränkedosen aus der Küche kam.

Mistelzweig folgte ihr und beäugte argwöhnisch den winzigen Kelch Cola, den sie ihm eingeschenkt hatte. Eigentlich war der Kelch ein Fingerhut, was für ihn einem riesigen Humpen gleichkam.

»Ich weiß nicht recht«, sagte er mit schmalen Augen. »Ich habe noch nie Erdwelt-Speisen gekostet. Seid Ihr ganz sicher, dass Ihr mich damit nicht verhexen wollt? Das Gebräu brodelt.«

»Das ist Kohlensäure, keine Hexerei«, mischte ich mich ein. »Aber wirklich, Kätzchen, warum hast du ihm nicht ein Glas Met oder Wein angeboten?«

»Weil ich nicht daran gedacht habe«, erwiderte Delilah und bemerkte Smoky. »Hallo.

Ich habe dich gar nicht reinkommen gehört. Möchtest du auch etwas essen?«

Er rieb sich die Schläfen und schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Jedes Mal, wenn ich hier bin, streiten sich mindestens zwei von euch herum. Was um alles in der Welt tut ihr, wenn euer Besuch nach Hause geht? Wälzt ihr euch kreischend über den Boden und reißt euch gegenseitig die Haare aus?«

Delilah und ich fuhren gleichzeitig zu ihm herum und sagten: »Pass bloß auf!« Dann brach sie in schallendes Lachen aus, während ich die Sandwiches auf dem Tablett mit knurrendem Magen beäugte.

»Sogar in Stereo«, stöhnte er. »Camille, bitte hol deine Sachen, du musst unbedingt mit dieser Frau auf meinem Land sprechen. Sie macht mich wahnsinnig, und wenn du nicht mitkommst und feststellst, was sie will, dann schwöre ich, ich werde sie grillen und mich dann auf die Reste setzen, bis sie flach ist wie eine Wanze. Sie weiß, was ich bin, und sie löchert mich ständig, ob ich nicht wüsste, wo Titania steckt...«

Feddrah-Dahns schauderte. »Lasst Euch nicht von ihr täuschen. Sie mag lästig erscheinen, aber sie ist eine gefährliche Gegnerin, falls Ihr von Morgana sprecht. Im Tal trauen wir ihr nicht über den Weg.

Deshalb haben wir sie verjagt.«

»Trillian hat mir erzählt, dass König Vodox sie sogar aus Svartalfheim verbannt hat«, sagte ich und warf Morio einen Blick zu. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und wartete. Ich ging langsam auf Smoky zu und legte ihm sacht eine Hand auf die Schulter.

»Lass mich zu Mittag essen. Dann muss ich jemanden anrufen. Und danach komme ich mit dir. Delilah, wie wäre es, wenn du dir heute Nachmittag mit Morio dieses Teppichgeschäft vornimmst? Schau einfach, was du herausfinden kannst.«

»Ist gut«, sagte Delilah mit vollem Mund. Sie reichte mir ein Sandwich, und als ich danach griff, schlang Smoky einen Arm um meine Taille und zog mich auf seinen Schoß.

»Du stehst darauf, mich auf dem Schoß zu haben, was?«, fragte ich.

Er lächelte. »Das ist anregend. Iss schnell auf«, sagte er. »Delilah, sei ein braves Mädchen und pack deiner Schwester ein paar Nachthemden ein. Camille, da ihr offensichtlich mit etwas Wichtigem beschäftigt seid, habe ich beschlossen, mir einzelne Tage und Nächte mit dir auszusuchen, wie es mir passt. Betrachte heute Nacht als die erste. Ich lasse es dich wissen, wenn eine volle Woche zusammengekommen ist.«

Ich starrte ihn an. Oh, das alles war ja so wunderbar, dass ich mich einfach nur noch hätte übergeben mögen. Konnte denn nicht ein einziges Mal irgendetwas klappen, ohne dass etwas ins Getriebe geriet?

»Du wirst es mich wissen lassen, wenn ich eine volle Woche mit dir verbracht habe?

O nein, so läuft das nicht. Trillian wird das nicht mitmachen ...« Ich verstummte, als Delilah mir ein Schinkensandwich in die Hand drückte. Automatisch hob ich es zum Mund und begann zu kauen.

»Trillian hat in dieser Angelegenheit nichts zu sagen«, erklärte Smoky, und seine hellen Augen wurden eisig. »Dein Freund ist mir weder verhasst, noch mag ich ihn, aber eines kann ich dir sagen: Er wird sich nicht einmischen. Unsere Abmachung gilt zwischen uns beiden, nicht zwischen ihm und mir. Das sollte Trillian lieber schnell begreifen, ehe er meine Geduld erschöpft.« Er holte tief Luft und fügte hinzu: »Im Gegensatz zu deinen früheren Spekulationen bin ich nämlich sehr wohl in der Lage, jemanden zu töten und zu fressen, der mir in die Quere kommt.«

 

Ein eisiger Stachel bohrte sich in mein Herz. Unter diesem kultivierten, gewinnenden Äußeren lauerte das Herz eines Drachen, nicht das eines Menschen. Und Drachen spielten nach ihren eigenen Regeln, in ihrem eigenen Tempo. Das vergaß ich immer wieder, und dieser Fehler könnte sich als tödlich erweisen. Wenn nicht für mich, dann eben für Trillian.

»Hick!« Ein japsendes Rülpsen durchbrach die plötzliche Stille und löste die Spannung. Ich wirbelte herum und sah Mistelzweig auf einem der Beistelltischchen landen. Sein Schluckauf und der darauffolgende Rülpser hatten ihn wie einen ange-stochenen Luftballon durch den Raum katapultiert.

»Mistelzweig!« Feddrah-Dahns trat nervös von einem Huf auf den anderen und versuchte, sich zwischen den Möbeln zu dem Pixie durchzuschieben.

Delilah war schneller und kniete sich neben den Tisch. »Geht es dir gut? Mistelzweig?

Bist du verletzt?«

Der Pixie kam taumelnd auf die Füße. »Meine Güte, welch ein Flug«, brummte er.

»Was für ein Gift ist in diesem Gebräu, das Ihr mir gegeben habt?«

Ich befreite mich aus Smokys Umarmung und eilte hinüber, um zu helfen. »Pixies vertragen wohl keine Kohlensäure. Was macht dein Magen? Spürst du einen Druck im Bauch? Hast du Blähungen?«

Delilah warf mir einen angewiderten Blick zu. »Warum fragst du ihn so etwas?«

»Wenn er Blähungen hat, könnte das wieder passieren. Er ist eine kleine Rakete.« Ich schnaubte. »Gratuliere. Nur du könntest eine Möglichkeit finden, einen Pixie in den Weltraum zu schleudern, Delilah. Wir müssen uns überlegen, wo wir ihn sicher unterbringen, damit er sich nicht noch das Genick bricht.« Ich blickte mich um. »Das Problem ist nur, dass wir keine Gummizelle in Pixie-Größe da haben. Carbonisierung ist eine sehr wirkungsvolle Technik. Es erstaunt mich, dass die VBM noch keine Möglichkeit gefunden haben, sie als Waffe zu benutzen.«

In Wahrheit mochte ich keine Limo oder Cola. So gern ich auch Süßes aß, dieses Zeug war mir zu klebrig. Ich konnte jede Menge Zucker in meinem Kaffee vertragen, aber als kalte Getränke waren mir Wein oder Wasser lieber.

Mistelzweig funkelte Delilah böse an. »Nur eine Katze würde mir etwas geben, das meinen Magen krank macht.« Er rieb sich den Bauch. »Ich fühle mich gar nicht gut.

Meine Eingeweide scheinen wirklich etwas aufgebläht zu sein.« Und tatsächlich konnte ich es in seinem Bauch gurgeln hören.

Ich blickte mich um. »Ich hab's! Delilah, polstere die Wände von Maggies Laufstall mit Kissen, da setzen wir ihn rein, bis sich die Kohlensäure ausgeblubbert hat.«

Der Pixie beklagte sich unablässig, während Delilah ihn in die Küche brachte. Ich wandte mich wieder Smoky zu. »Ich erledige jetzt diesen Anruf, dann können wir fahren«, erklärte ich schwach. Seine gute Laune würde nicht mehr lange halten, und ich wollte aus dem Haus kommen, ehe seine Geduld mit einem kleinen Rauchwölkchen verpuffte.

»Schön«, sagte er mit genervter Miene.

Ich eilte in die Küche, wo Delilah gerade die Gummizelle für den Pixie herrichtete. »Himmel, das sind die absurdesten zwei Tage, die wir seit langem erlebt haben.« Ich holte meinen Notizblock hervor und wählte die Nummer des Mountain Aspen Retreat, die ich schon nachgeschlagen hatte.

»Wen rufst du denn an?«, fragte Delilah.

»Dieses Irrenhaus, von dem Morio uns erzählt hat. Da lebt ein Mann, der etwas über das dritte Geistsiegel weiß. Das Problem ist nur, er ist als Patient dort eingesperrt, und ... Moment«, sagte ich zu ihr, als ich am anderen Ende der Leitung eine Stimme hörte.

»Mountain Aspen Retreat, was kann ich für Sie tun?«

Ich dachte mir schnell etwas aus. »Ich bin eine Verwandte eines Ihrer Patienten und würde ihn gern besuchen. Bei wem muss ich den Besuch denn anmelden?«

»Einen Augenblick bitte«, sagte die Frauenstimme, und ich hing in der Warteschleife.

Delilah kniff die Augen zusammen. »Gib mir seinen Namen, dann jage ich den mal durch Chases Computer, ehe Morio und ich mir dieses Teppichgeschäft anschauen.«

Ich bedeutete ihr, mir einen Stift zu bringen, und kritzelte Bens Namen auf ein Blatt Papier, mitsamt der genauen Bezeichnung der Anstalt. Als ich ihr den Zettel reichte, hatte ich eine andere Frau in der Leitung. »Empfang, Sie sprechen mit Miss Marshall.

Was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gern einen Termin vereinbaren, für einen Besuch bei meinem ... Cousin.

Er ist Patient bei Ihnen.« Cousin war gut.

Ich konnte meinen Glamour verbergen, wenn ich mir Mühe gab. Für diesen besonderen Anlass ein schlichtes Kleid kaufen. Na klar doch, dachte ich. Nein - falls sonst nichts half, konnte ich wenigstens die Empfangsdame so bezaubern, dass sie mich durchließ.

»Den Namen, bitte?«

»Ben. Benjamin Welter.« Ich überlegte rasch und fügte dann hinzu: »Ich weiß, dass er nicht richtig ansprechbar ist, aber ich würde ihn trotzdem gern sehen und einfach eine Weile bei ihm sitzen.«

Kurze Pause. »Wie ich sehe, hatte er zuletzt vor sieben Wochen Besuch. Sind Ihr Onkel und Ihre Tante denn immer noch auf ihrer Kreuzfahrt?« Ich hörte einen Anflug von Missbilligung in ihrer Stimme. Ihre Patienten lagen Ms. Marshall offenbar mehr am Herzen als deren eigenen Angehörigen. Ich beschloss, das auszunutzen.

»Ich habe keine Ahnung. Ich studiere im Ausland und bin jetzt zum ersten Mal seit zwei Jahren nach Hause gekommen. Ich wusste nicht einmal, dass mein Cousin solche Probleme hat, bis jetzt. Ich heiße übrigens Camille.«

»Wann wollten Sie denn zu uns herauskommen, Miss Welter?«

Ich korrigierte sie nicht. Sollte sie ruhig glauben, dass ich väterlicherseits mit ihm verwandt war - was machte das noch für einen Unterschied? »Wäre morgen zu kurzfristig? Gegen drei Uhr?«

Ich hörte das Klappern einer Tastatur, dann sagte sie: »Ich habe Sie für morgen auf unserer Besucherliste eingetragen. Danke, dass Sie herkommen, Camille. Wir ermuntern die Familien immer, ihre Angehörigen so oft wie möglich zu besuchen.

Selbst wenn Patienten so wenig Reaktionen zeigen wie Benjamin, scheint es ihnen doch gutzutun. Dass nur jemand da ist, der sich um sie kümmert, wissen Sie?«

Als ich auflegte, kam ich mir vor wie eine miese Ratte. Andererseits wollte Benjamin ja möglichst wenig menschliche Gesellschaft. Ob ich nun seine Cousine war oder eine Wildfremde, würde ihm vermutlich gleichgültig sein. Und vielleicht, nur vielleicht, konnte ich ihm ja ein bisschen helfen. Ich schob den Stuhl zurück und stand auf.

Delilah warf mir einen Blick zu. Sie hatte es geschafft, den Laufstall für Mistelzweig auszupolstern, der mit kläglicher Miene auf der Matratze lag. Stöhnend rieb er sich den Bauch.

»Ich muss los. Sonst explodiert Smoky noch. Außerdem wüsste ich ja selbst gern, was Morgana da draußen treibt.« Ich holte tief Luft. »Es sollte eigentlich keine Probleme geben, aber ... nur für den Fall, dass ...«

»Soll ich mitfahren?«, erbot sie sich sofort. »Du kannst die Abmachung auch brechen.

Wir finden schon eine andere Möglichkeit, unsere Schuld bei ihm zu begleichen.«

Sie nahm mich in den Arm, und der schwarze Halbmond, der auf ihre Stirn tätowiert war, pulsierte in einem schnellen Rhythmus.

Ich starrte das Mal an. Als wir auf ihren Vorschlag hin den Herbstkönig um Hilfe ersucht hatten, war ihr eine furchtbare Last aufgebürdet worden, und sie beklagte sich fast nie. Delilah war an den Elementarfürsten gebunden, als eine seiner Todesmaiden, doch sie fand sich damit ab, so gut sie konnte.

Der Herbstkönig hatte ihr keine Wahl gelassen. Smoky hatte mir immerhin den Preis genannt. Wenn ich eine Woche mit ihm verbrachte, würde er uns helfen, mit dem Herbstkönig in Kontakt zu treten. Eine Woche erotischer Genüsse, verglichen mit einem ganzen Leben furchterregender Verpflichtungen gegenüber einem Elementarfürsten? Ich hatte wirklich kein Recht, mich zu beklagen.

Ich räusperte mich. »Wird schon gut gehen. Eigentlich freue ich mich sogar darauf.«

Das stimmte. Fast. Ja, ich hatte Angst, und ja, Smoky würde mein Leben vermutlich gewaltig durcheinanderwirbeln. Aber wer hatte in den vergangenen sechs Monaten eigentlich keinen Eimer Chaos in unser Leben gekippt? Da war mir doch dieser große, coole Cocktail aus Mensch und Drache noch am liebsten.

»Morgen bin ich wieder zu Hause«, sagte ich zu ihr. »Dann sprechen wir darüber, was du und Morio bis dahin festgestellt habt und was ich über Morgana herausfinden konnte.«

Sie lächelte mir ein wenig schief zu und zog mich noch einmal an sich. Während mein Kopf unter ihrem Kinn ruhte - mit über einsachtzig war sie gut fünfzehn Zentimeter größer als ich -, schloss ich die Augen. Es fühlte sich beinahe so an, als hielte Mutter mich fest im Arm, für immer sicher und geborgen. Delilah ließ mich widerstrebend los, und ich trat zurück.

»Viel Spaß.« Sie zwinkerte mir zu. »Smoky mag dich. Er wird dir nicht weh tun. Und wenn doch ... nehmen wir uns ihn vor.«

Über diese Vorstellung musste ich lachen. Ich ging von der Küche ins Wohnzimmer, wo Morio gerade Smoky einen kleinen Beutel reichte.

»Wie ich sehe, konntest du die Finger schon wieder nicht von meinen Sachen lassen«, sagte ich und streckte ihm die Zunge heraus.

»Ich habe meine Finger gern an deinen ... Sachen«, erwiderte Morio mit hochgezogenen Augenbrauen. Er küsste mich lang und genüsslich auf den Mund. So ganz anders als Trillian. Betörend statt fordernd. Trillian überwältigte, eroberte, rannte Tore ein, während Morio seine Eroberung dazu brachte, ihm ohne die geringste Reue einfach den Schlüssel auszuhändigen. Trillian war ein Alpha. Morio stand außerhalb dieses ganzen Testosteron-Wettbewerbs und wartete ruhig einen günstigen Zeitpunkt ab.

Ich wäre gern noch länger in seinen Armen geblieben, doch er zwickte mich spielerisch in den Po. »Sieh zu, dass du wegkommst«, sagte er und beugte sich dann dicht an mein Ohr heran. »Ich werde heute Nacht da draußen sein und auf dich aufpassen.« Ohne ein weiteres Wort trat er zurück und wies mit großer Geste auf mich. »Sie gehört dir, Smoky. Geh achtsam mit ihr um.«

Smoky stieß genervt den Atem aus. »Ich hatte nie etwas anderes vor«, erwiderte er und wandte sich der Tür zu.

Ich eilte zu Feddrah-Dahns hinüber. »Bleibt doch noch bis morgen. Ihr wollt doch gewiss hören, was Morgana im Schilde führt.«

»Lasst sie nur nicht an dieses Horn heran«, warnte er. »Das Horn darf keinesfalls in die falschen Hände geraten.«

Als könnte Morgana einem Blitz von ein paar Millionen Ampere besser standhalten als ich, dachte ich, sprach es aber nicht aus. »Verstanden.« Ohne weitere Umstände machten wir uns auf den Weg.

»Wir fahren mit meinem Auto?«, vermutete ich, doch Smoky winkte mich zu sich heran.

Er schlang mir einen Arm um die Schulter. »Jetzt wirst du herausfinden, wie ich reise.« Klang geheimnisvoll, war mir aber Warnung genug, mich für etwas sehr Ungewöhnliches zu wappnen.

Ich biss die Zähne zusammen, als ein magischer Strudel um uns hochschoss, dessen Mittelpunkt wir bildeten. Drachenmagie. Ich hatte sie schon oft in Smokys Aura gespürt, aber diese Energie hatte mich noch nie durchströmt so wie jetzt.

In einem Augenblick stand ich im Vorgarten, seinen Arm um die Schultern. Im nächsten öffnete sich der Himmel, Sterne wirbelten über uns, und die Welt schien einen Satz zu machen. Eiseskälte, schlimmer als aus einem Grab, bohrte sich in meinen Körper, als hätte mir jemand einen Dolch aus Eis zwischen die Schulterblätter gestoßen. Dies war uralte Magie, alt und raffiniert wirbelte sie um uns herum, als wären wir zwei Blätter im Wind. Wir stürzten ins Nichts. Donner krachte, dann stieg Nebel auf, und ich hörte das leise Säuseln von Wellen, die rhythmisch auf einen Strand liefen. Oje, ich wusste, wo wir waren.

Wir schwammen, aber nicht so wie irgendein Fisch, Wal oder Delphin, den ich je gesehen hatte. Nein, Smoky hatte uns zwischen die Schleier versetzt, und wir sausten durch die eisigen Strömungen des Ionysischen Meeres.

Dem körperlichen, physischen Leben erschienen der Astralraum, die ätherische Ebene und die geistigen Sphären alle nebulös und vage. Eine astrale oder ätherische Wesenheit konnte durch eine körperliche Gestalt hindurchgleiten, und diese Person bekam vielleicht kurz ein Gefühl eisiger Kälte oder spürte eine Präsenz, doch die beiden Reiche würden sich nie denselben Raum streitig machen.

Doch draußen im Astralraum gesellten sich zu diesen drei Reichen ungreifbarer Macht noch mehrere weitere Dimensionen, und alle zusammen bildeten die Ionysischen Lande. Die Energie, die sie miteinander verband, hielt sie jedoch auch voneinander getrennt, denn sie waren ständig umeinander in Bewegung. Dieselbe Energie ließ jedoch auch den Übertritt von einem Land ins nächste zu. Sie wirbelte um die Ionysischen Lande herum, in Kanälen wie die Wasser von Venedig.

Das Ionysische Meer war ein gewaltiger, wilder Ozean voller Strömungen, die verhinderten, dass die Reiche der unterschiedlichen Kräfte zusammenstießen. So eine Kollision war eine ganz schlechte Idee. Ein Zusammenstoß unterschiedlicher Ionysischer Länder konnte eine Kettenreaktion auslösen, die vernichtend genug wäre, das Leben, wie wir es kannten, vollständig auszulöschen.

Im Grunde war das Ionysische Meer eine Demarkations-Knie, ein Niemandsland: offen für alle, gefährlich für alle und ewig bestehend. Sehr wenige Geschöpfe, und nur selten solche aus Fleisch und Blut, reisten die Kanäle entlang, durch welche die unbeständigen Wogen des Meeres geleitet wurden.

Geschöpfe der Nordlande, deren Lebenskraft von Eis und Schnee, Wind und Nebel herrührte, konnten wohl einen Weg da hindurch finden. Mythische Eismeer-Schlangen durchquerten oft das Ionysische Meer. Und offenbar auch einige Drachen.

Ob es das Blut des silbernen oder des weißen Drachen war, das ihm die Reise auf den Energieströmen ermöglichte, wusste ich nicht. Und dies war nicht der passende Zeitpunkt, ihn danach zu fragen. Auf keinen Fall wollte ich Smoky irgendwie ablenken. Wer konnte schon wissen, wie schwierig es für ihn sein mochte, den Schutz aufrechtzuerhalten, der die heftigen Strömungen daran hinderte, uns zu Staub zu zermalmen? Also würde ich lieber den Mund halten, bis wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten.

Smokys Arm um meine Schulter fühlte sich inzwischen verdächtig wie ein großer Flügel an, und nun sah ich, dass wir in eine Art Barriere gehüllt waren. Sie war kugelförmig und umgab uns wie eine kaum sichtbare Blase.

Wie lange wir über das Meer reisten, hätte ich nicht sagen können. Hier existierte die Zeit nicht mehr. Eine Sekunde konnte sich anfühlen wie ein Jahr, und ein Jahr verflog vielleicht als eine scheinbare Woche. Nach einer Weile wurde ich sehr müde. Ich lehnte den Kopf an seine Schulter und ließ mich vom Schaukeln der Wellen in den Schlaf wiegen.

»Camille? Wach auf. Wir sind da.«

Zunächst erkannte ich die Stimme gar nicht. Das war nicht Trillian. Morio auch nicht.

So weit war ich mir sicher. Ich fragte mich, warum ich mich so steif fühlte - normalerweise schlief ich tief und gut -, und zwang mich, die Augen zu öffnen. Die gleißende Nachmittagssonne blendete mich, aber sie brachte keine Hitze mit sich. Ich beschirmte die Augen mit der Hand und setzte mich auf. Wo zum Teufel war ich?

Der Boden unter mir federte, und ich schaute nach unten. Ich lag auf einer Luftmatratze - sie war blau und zum Teil mit einem frischen weißen Laken bedeckt.

Hä? Und dann fiel mir alles wieder ein.

»Smoky? Smoky, wo bist du?« Als ich den Kopf rasch nach links drehte, wurde mir furchtbar schwindelig, und ich ließ mich stöhnend auf die Matratze zurücksinken. Die Welt drehte sich um mich, als sei ich an ein großes Glücksrad gefesselt.

»Ich bin hier.« Seine leise Stimme erklang hinter mir. Ich bog den Kopf zurück und sah, dass er wie erstarrt auf dem Boden hockte und mich beobachtete. »Das wird wieder. In etwa zehn Minuten fühlst du dich besser, wenn du dich aufsetzt und das hier trinkst.« Er hielt mir einen Becher mit einer leicht blubbernden Flüssigkeit hin.

Ein Dampfwölkchen stieg daraus auf, und es duftete nach Frühlingswiesen und Wildblumen.

»Was ist passiert? Was ist das? Warum liege ich auf einer Luftmatratze mitten ...«

Langsam - sehr langsam - sah ich mich um. Wald. Vermutlich waren wir in der Nähe von Smokys Hügel. »Mitten im Wald?«

Er stellte den Becher hin, rutschte hinter mich und half mir, mich langsam aufzurichten, bis ich an seiner Brust lehnte. Obwohl mir so schwindelig war, fand ich das gar nicht übel. Ich ließ mich an seine muskulösen Schultern sinken und spürte, wie sein gestählter Körper mich stützte. Das nehme ich zurück. Ganz und gar nicht übel.

Smoky griff mit der linken Hand nach dem Tee, während der rechte Arm fest um meine Taille geschlungen blieb. Er hielt mir den Becher an die Lippen, und ich stützte ihn von unten. »Erst trinken. Dann Fragen stellen.«

Ich kostete das Gebräu. Honig, den schmeckte ich sofort heraus. Und Zitrone.

Hagebutte und Pfefferminze und noch irgendetwas, das ich nicht erkannte.

»Gut«, flüsterte ich, nahm ihm den Becher ab und hielt ihn mit beiden Händen fest.

Das war mir zunächst gar nicht aufgefallen, aber nun merkte ich, dass ich fror bis ins Mark, als hätte ich mich in eine Eishöhle verirrt und dort lange, lange geschlafen.

Während ich trank, kehrte allmählich die Kraft in meine Muskeln zurück, und das Schwindelgefühl ließ nach. Ein paar Minuten später hatte ich den Becher geleert und gab ihn Smoky zurück. Er warf ihn achtlos beiseite, hielt mich an sich gedrückt und knabberte zärtlich an meinem Ohr.

»Und jetzt, da mir nicht mehr nach Umkippen zumute ist, erklär mir das bitte«, sagte ich.

»Wenn Menschen und Feen das Ionysische Meer überqueren, können sie nicht gegen die Energieströme an, selbst wenn sie von einer Barriere geschützt werden. Die Strömung saugt alle Wärme aus deinem Körper, entzieht dir Energie und kehrt das Ganze dann wieder um. Wenn wir lange genug auf dem Meer gereist wären und du dort erwacht wärst, hättest du dich besonders gut und stark gefühlt. Und dieses Muster hätte sich immer weiter fortgesetzt: leeren, wieder aufladen. Aber wir hatten nur ein kurzes Stück zurückzulegen, deshalb warst du nicht lange genug auf dem Meer, als dass es dich hätte erfrischen können.«

Er drückte mir einen zarten Kuss aufs Ohrläppchen, dann einen auf den Nacken. Ich erschauerte, und diesmal nicht vor Kälte. Er war ein Geschöpf, älter als fast jedes andere, das mir je begegnet war. Und dennoch begehrte er mich. Die Vorstellung war überwältigend, doch im vergangenen Jahr waren mir zu viele bizarre Dinge widerfahren, um das als bloße Laune abzutun.

Ob es an irgendetwas in dem Tee lag oder an den Nachwirkungen meiner Reise über das Ionysische Meer, ich spürte eine Regung in mir, ein züngelndes Begehren, das rasch zu einer Flamme anwuchs. Sie schoss von meinen Brüsten hinab in meinen Bauch und entfaltete sich weiter wie Farnwedel, die sich schnell entrollten. Mir stockte der Atem, und er spürte es.

»Du willst mich, nicht wahr? Du willst mich so sehr wie ich dich. Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich, dass ich dich haben muss. Dass ich dich haben würde.« Seine Stimme klang jetzt tiefer, fordernder. »Ich begehre dich. Für mich beginnt jetzt die Brunftzeit, und du bist es, mit der ich mich paaren will.«

Die Zeit war gekommen. Ich spürte es in meinem Herzen. Es gab kein Zurück mehr, und jetzt, da es ernst wurde, glitt die Angst von mir ab wie Wasser von einer Entendaune. Smoky und ich würden jetzt eine Verabredung einhalten, die wir im Grunde schon in jenem ersten Moment getroffen hatten, als ich in die leuchtenden Augen des Drachen geblickt hatte, der majestätisch mit ausgebreiteten Schwingen vor mir stand, bereit, mich zu töten, falls ich auch nur den geringsten Fehler beging.

Ich drehte mich herum, schmiegte mich in seine Arme und empfing seinen Kuss. »Ich will dich«, hörte ich mich sagen. »Nimm mich mit in deine Welt und zeig mir, was es heißt, einen Drachen zu lieben.«