Kapitel 3

 

Als ich gerade Inventur machte, was in meinem Büro sonst noch fehlen könnte, gab es vorn im Laden einen Aufruhr. Ich sauste zwischen den Regalen hindurch, und Chase war mir so dicht auf den Fersen, dass er es tatsächlich schaffte, auf den Saum meines Samtrocks zu treten. Hinten fiel der Rock bis auf den Boden, vorn bis zur Hälfte der Oberschenkel. Die Verkäuferin im Laden hatte das als asymmetrische Schnittführung bezeichnet, aber ich fand es inzwischen nur noch nervig.

»Runter von meinem Rock, du Esel.« Ich warf einen finsteren Blick über die Schulter und bremste heftig, damit nichts abriss.

Chase prallte gegen mich. »Sehr freundlich«, brummte er, hob aber den Fuß.

Ich schüttelte den Saum aus, eilte um die letzte Ecke und reckte den Hals, um zu sehen, was da vorging.

An den Regalen schien alles in Ordnung zu sein. Allerdings nutzte Henry Jeffries die Gelegenheit, sich in der Ecke mit den Science-Fiction-Klassikern umzuschauen. Er war ein SF-Fan, der Asimov und Heinlein atmete und lebte, und er hatte so ziemlich jeden Schund gelesen, der es in die Buchhandlungen schaffte, aber er beließ es keineswegs dabei. Er hatte sich durch Greg Bears Bibliographie gearbeitet, durch Anne McCaffrey und auch sonst praktisch jeden Autor, den man irgendwie dem Fantasy- oder Science-Fiction-Genre zurechnen konnte.

Wir hatten viele Nachmittage lang Geschichten ausgetauscht, während er versucht hatte, mit Iris zu flirten. Iris war ein finnischer Hausgeist, sie wohnte bei meinen Schwestern und mir und half mir oft im Laden aus. Anscheinend hatte ihm die kurze Unterhaltung mit Feddrah-Dahns genügt, und jetzt war er so in seine tintenbekleckste Seligkeit vertieft, dass er das Geschrei völlig ignorierte.

Der Lärm kam von der Sitzecke ganz vorn. Diverse Lesegruppen sowie der Club der Feenfreunde trafen sich im Indigo Crescent, um ihre monatliche Literaturauswahl zu diskutieren. In dieser Sitzgruppe hatte ich Feddrah-Dahns zwischen zwei alten Ledersofas Platz geschaffen. Mit den Kniekehlen an einem neu gepolsterten, mit zartem Rosenstoff bezogenen Zweiersofa stand nun meine Freundin Lindsey Cartridge vor dem Einhorn.

»Bitte, lass mich doch dein Horn anfassen - ich will es doch nur einmal anfassen.«

Sie klang so verzweifelt, dass ich mich innerlich wand und überlegte, ob ich wirklich herausfinden wollte, was da los war. Aber es gab kein Zurück. Dies war mein Geschäft, und ich war dafür verantwortlich, hier für Ruhe und Frieden zu sorgen.

Ich kam gerade rechtzeitig um den Raumteiler herum, um zu sehen, wie Lindsay nach dem Horn des Einhorns grapschte. Teufel auch, sie würde sich noch eine hässliche Stichwunde einfangen! Feddrah-Dahns scharrte mit den Hufen und schüttelte den Kopf, um ihr auszuweichen. Alle anderen waren mit besorgten Mienen zurückgewichen.

Das war auch sehr klug von ihnen. Einhörner waren gefährlich und unberechenbar.

All dieser Blödsinn von wegen Sanftmut und Reinheit war nur ein weiteres Beispiel dafür, wie die Erdwelt-Geschichte ein machtvolles, sinnliches Wesen in rosa Zuckerwatte gepackt hatte. Genauso war es dem Volk meines Vaters ergangen, ehe wir wieder offen hierher zurückgekehrt waren. Immerzu tanzende Naturgeister, die mit Bäumen Händchen hielten, waren wir jedenfalls nicht. Das fiel eher in den Zuständigkeitsbereich der Elfen.

Ein wütendes Einhorn war das Letzte, was ich in meinem Laden haben wollte. Es konnte sich jederzeit aufbäumen und Lindsey mit den Vorderhufen erschlagen oder sie auf sein Horn aufspießen. Ich war ziemlich sicher, dass meine Versicherung für das Ladengeschäft sich nicht eben entgegenkommend zeigen würde, falls ich versuchen sollte, einen Schaden durch »Einhornangriff« geltend zu machen.

Ich eilte hinüber, trat zwischen die beiden und schob Lindsey an den Schultern zurück.

»Was zum Teufel soll denn das? Hast du völlig den Verstand verloren, Mädel?«

Hastig wandte ich mich zu Feddrah-Dahns um und sagte: »Ich bitte um Verzeihung.

Bitte, sie weiß nicht, wie man sich-gegenüber einem Geschöpf von Eurer Bedeutung benimmt.«

Er blinzelte, und seine Augen von der Farbe geschmolzener Schokolade wärmten mich bis ins Herz. »Anscheinend geht sie irrigerweise davon aus, ich könnte ihr helfen, schwanger zu werden«, sagte er auf Melosealför. »Das hört sich an, als nähme sie irgendwelche Märchen ernst.«

Ich starrte ihn an. »Wunderbar. Ich hatte keine Ahnung, dass es hier so ein Gerücht gibt.«

»Ich bin ziemlich sicher, dass sie mich genau darum gebeten hat. Aber das geht allein körperlich nicht... sie würde schwere Verletzungen davontragen.« Feddrah-Dahns blickte so verblüfft drein, wie mir zumute war.

Ich wandte mich zu Lindsey um und senkte die Stimme. »Hast du ihn wirklich gebeten, dir zu helfen-, schwanger zu werden?« Wenn ja, dann hoffte ich inständig, dass sie sich das irgendwie anders vorgestellt hatte als in dem zweitklassigen Pornofilmchen, das sich gerade vor meinem inneren Auge abspielte. Und anscheinend auch vor Feddrah-Dahns'. O ja, ich hatte sogar schon eine Idee für den Titel - irgendwas mit Füllhorn.

Lindsey blickte zu Boden. Als Leiterin eines Frauenhauses, des Green Goddess Women's Shelter, setzte sie sich sehr für eine Menge Frauen ein, die Selbstbestimmung und einen neuen Anfang im Leben brauchten. Sie war manchmal ein bisschen verdreht, aber unbeugsam stur und eine entschlossene Fürsprecherin von Frauenrechten und sozialen Hilfsprogrammen.

»Ich ... ja, das habe ich. Gewissermaßen.«

Mir blieb der Mund offen stehen. »Das kann nicht dein Ernst sein. Du willst doch nicht ... er ist kein Werwesen, er kann sich nicht mit...«

»Was?« Sie fuhr zurück. »Du glaubst, ich hätte es so gemeint? Du machst wohl Witze!«

Ich atmete erleichtert auf. »Okay, beruhig dich. Und jetzt sag mir ganz genau, was du zu ihm gesagt hast. Englisch ist für ihn immerhin eine Fremdsprache.« Feddrah-Dahns' Aussprache war zwar vorzüglich, aber das sagte nichts über sein Vokabular aus.

Lindsey errötete. »Er dachte doch hoffentlich nicht, dass ich mit ihm ... o nein!«

Ich legte ihr eine Hand auf den Arm, und sie seufzte tief. »Schon gut, schon gut. Ich habe in irgendeinem Buch über Mythologie gelesen, dass die Berührung eines Einhorn-Horns unfruchtbaren Frauen helfen kann, schwanger zu werden. Und ich versuche schon ...« Sie hielt inne und biss sich auf die Lippe, als ihre großen braunen Augen sich mit Tränen füllten. Ich fühlte den angestauten Schmerz in ihr, der knisterte wie unterdrücktes Wetterleuchten. »Wir versuchen es schon so lange ...«

»Warte einen Moment.« Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter und blickte in die Menge der Zuschauer. »Es ist alles in Ordnung. Nichts passiert. Also, Leute, ich weiß, dass ihr euch sehr freut, ein Einhorn kennenzulernen, aber ich muss den Laden jetzt schließen.« Ich beugte mich vor und flüsterte Lindsey ins Ohr: »Bleib hier - und behalte bloß die Hände bei dir, Süße.«

Als ich die enttäuschte Schar zur Tür hinausschob, erhaschte ich einen Blick auf Sharah und Mallen, die mit den Überresten des Grottenschrats und dem Dynamit davonfuhren. Solange ich das nicht machen musste ...

Ich versicherte allen, dass ich mir Mühe geben würde, Feddrah-Dahns zu einem weiteren Besuch zu ermuntern. Dann schloss ich die Tür hinter ihnen zu und lehnte mich dagegen. Ich seufzte tief, legte den Hinterkopf an die kühle Scheibe und schloss die Augen.

Manchmal machte mich dieser enge Kontakt zum Volk meiner Mutter fertig, und ich fühlte mich angekratzt von ihren Emotionen. Ich mochte meine Kunden, aber ihre Begeisterung über Feddrah-Dahns hatte sich in einer Art prasselndem Energiefeuer bemerkbar gemacht, das meinen Schutzschilden zusetzte.

Nachdem ich dieses emotionale Störfeuer abgeschüttelt hatte, kehrte ich zum Ladentisch zurück. Dort stand Chase, der mich stirnrunzelnd aufhielt, als ich an ihm vorbei wollte, und leise fragte: »Dauert das noch lange?«

Ich warf einen Seitenblick zu Lindsey hinüber. »Warum? Hast du eine dringendere Verabredung? Hör mal zu, ich bin gerade ausgeraubt worden, ein Goblin und irgendeine durchgeknallte Humberfee sind auf Einhornjagd, und jetzt ...« Ich schüttelte den Kopf. »Warum siehst du dich nicht in meinem Büro um, während ich mich um Lindsey kümmere? Sie braucht wirklich dringend jemanden zum Reden.«

Wortlos verschwand Chase nach hinten.

Lindsey tupfte sich die Augen, und ich schlang ihr einen Arm um die Schultern und führte sie zu dem Klapptisch, an dem ich morgens immer meinen Iced Latte trank und in Zeitschriften oder dem Buch blätterte, das ich gerade las.

Ich hatte mein Koffein eben gerne süß und kalt und meine Literatur in Tinte auf Papier, nicht in Computerpixeln.

Wir setzten uns, und ich nahm ihre Hände in meine. Lindsey leitete nicht nur das Frauenhaus, sie hatte außerdem meiner Freundin Erin Matthews, Besitzerin der Scarlet Harlot Boutique, sehr geholfen.

Erin hatte in jüngster Zeit durch meine Schwester Menolly eine einschneidende Verwandlung erfahren. Obwohl wir ihr damit das Leben gerettet hatten, sofern man es so nennen konnte, musste Erin sich erst noch in ihrem neuen Dasein als Vampir zurechtfinden. Lindsey war einer der wenigen Menschen, die wussten, dass Erin verwandelt worden war.

Vorerst sorgten wir dafür, dass alle glaubten, Erin mache einen längeren Urlaub, und Erin unterstützte uns, indem sie alle möglichen Freundinnen anrief und so tat, als sei sie im fernen Ausland. Lindsey hatte den Vorsitz im Verein der Feenfreunde übernommen und rekrutierte aus dem Frauenhaus Aushilfen für Erins Laden.

Im Green Goddess gab es immer Frauen, die ein paar Dollar zusätzlich gut gebrauchen konnten, um wieder auf die Beine zu kommen. Deshalb schuldete ich Lindsey mehr als nur einen beiläufigen Gefallen.

»Sag mir, was los ist.« Ich ließ meine Masken sinken und meinen Glamour aufleuchten, damit sie sich weniger verlegen fühlte, wenn sie mit mir sprach.

Zur Hälfte Fee zu sein hatte seine Vorteile, und Freunde gewinnen und Leute beeinflussen zu können gehörte zu den angenehmsten. Ich bemühte mich, brav zu sein und diese Fähigkeit nicht auszunutzen, aber es erstaunte mich immer wieder, welche Macht unser natürlicher Charme bei VBM - Vollblutmenschen - entfaltete.

Sie schluckte gegen ihre Tränen an und lächelte schwach. »Ron und ich versuchen schon seit drei Jahren, ein Kind zu bekommen, aber ich werde einfach nicht schwanger. Inzwischen hätte ich schon mindestens zwanzig Mal empfangen müssen, aber nichts passiert. So eine Fruchtbarkeitsbehandlung können wir uns nicht leisten.

Also wollten wir ein Kind adoptieren, aber wegen Rons Behinderung will die Behörde uns kein Baby geben.«

Ich lehnte mich zurück und überlegte. In letzter Zeit hatten eine Menge Leute Babys im Kopf. Erst hatte unsere Freundin Siobhan Morgan, eine Werrobbe, Probleme damit gehabt, schwanger zu werden. Sharah und einige andere AND-Mediziner hatten die Ursache dafür herausgefunden - leicht zu beheben -, und erst vor einer Woche hatten sie und ihr Freund Mitch uns die frohe Kunde überbracht. Jetzt hatte Lindsey, die mit VBM-Magie arbeitete, ähnliche Schwierigkeiten. War vielleicht irgendein Gott auf die Idee gekommen, ein Moratorium über magische Babys zu verhängen?

»Die haben euch wirklich gesagt, dass ihr wegen seiner Behinderung als Adoptiveltern nicht in Frage kommt? Könnt ihr dagegen nicht gerichtlich vorgehen?

Ich dachte, diese Art von Diskriminierung wäre Vergangenheit, zumindest für Menschen.« Offenbar hatte ich mich geirrt.

»Sie haben es nicht direkt gesagt, aber ich habe eine Freundin, die dort als Sekretärin arbeitet, und die hat mal einen Blick in unsere Akte geworfen. Sie haben uns ans unterste Ende der Liste verschoben, und die Sozialarbeiterin hat auf unserem Antrag vermerkt, wir seien ein Paar mit hohem Risiko, wegen Rons Zustand und weil ich mit misshandelten Frauen arbeite.« Lindsey runzelte die Stirn. »Wenn wir das Geld hätten, könnten wir schon vor Gericht gehen, aber selbst dann würde es wohl Jahre dauern, bis die Sache endgültig geklärt ist.« »Das darf doch nicht wahr sein.«

Lindsey und Ron hätten großartige Eltern abgegeben. Ron mochte von der Hüfte abwärts gelähmt sein, aber er ließ sich von einer Kleinigkeit wie einem Rollstuhl nie an irgendetwas hindern. Und Lindsey hatte es im Judo zum schwarzen Gürtel gebracht. Sie wurde mit jedem wütenden Angreifer fertig, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Aber die Geschichte erklärte immerhin, warum sie verzweifelt genug war, nach dem Horn eines Einhorns zu grapschen, ohne auch nur um Erlaubnis zu bitten.

»Ich zerstöre nur ungern deine Illusionen, aber diese Ammenmärchen sind nicht wahr.

Das Horn eines Einhorns zu reiben, wird dich nicht fruchtbarer machen. Du könntest dabei getötet werden, aber schwanger wirst du davon ganz sicher nicht.«

Sie umklammerte die Armlehnen des Sessels. »Kannst du nicht vielleicht etwas tun, Camille? Ich hätte nicht von mir aus darum gebeten, aber da wir nun schon mal darüber reden ...«

O Mann, das konnte nicht ihr Ernst sein. Ich versuchte, mir das Lachen zu verkneifen, aber es sprudelte aus mir heraus. Ich fiel im Sessel zurück und lachte, dass mir Tränen in die Augen traten.

»Ach, Schätzchen, glaub mir eines: Mich lässt du besser nicht an deine Gebärmutter ran!« Ich fuhr mir mit dem Ärmel über die Augen. »Zunächst einmal bin ich keine Heilerin. Zweitens könnte meine Magie alles Mögliche anrichten, weil durch meine gemischte Abstammung gern mal etwas schiefgeht.

Am Ende bist du dann schwanger von einem Oger ... oder Schlimmerem ... falls es bei meinem Zauber einen Kurzschluss gibt.«

Der melancholische Ausdruck auf ihrem Gesicht verschwand, und sie grinste mich von der Seite an. »So schlimm ist es, hm?«

»Ja, im Ernst, so etwas könnte passieren. Lass mich mal überlegen.« Es war sehr unklug, als Fee auf magischer Ebene mit Menschenleben herumzuspielen, aber manchmal fanden wir einen rationalen Vorwand, um eine Ausnahme zu machen. »Ich mache dir einen Vorschlag. Ich werde mich mal umhören, vielleicht finde ich ja etwas heraus.«

Lindsey strahlte und richtete sich auf. »Wirklich?«

»Ich kann dir aber nichts versprechen«, warnte ich sie. »Also mach dir keine falschen Hoffnungen. Aber ich werde mich erkundigen. Haben die Ärzte euch denn gesagt, wo genau das Problem liegt?« Ehe sie ganz aus dem Häuschen geriet, sollte ich lieber gleich herausfinden, ob das Problem womöglich von der Sorte war, die nur die Götter beheben konnten.

Sie biss sich auf den Daumennagel. »Nein. Sie können nicht feststellen, warum ich nicht schwanger werde. Rons Samenqualität ist gut, und meine Ovulation ist auch nicht gestört, aber ... es ist beinahe, als wollte irgendetwas verhindern, dass wir ein Baby bekommen. Wir sind beide am Boden zerstört. Vor allem seit dieser Katastrophe mit der Adoption.«

Ich nickte. »Also gut. Ich muss mich an die Arbeit machen, aber ich rufe dich an, so bald ich kann. Besuchst du Erin heute Abend?« Menolly verbrachte jeden zweiten Abend mit ihr, aber Erin musste auch lernen, die Nähe von Menschen - lebenden Menschen, meine ich - auszuhalten, ohne durchzudrehen und auf der Stelle über sie herzufallen. Das war für ihre Besucher manchmal etwas beängstigend, aber mit jedem Tag gelang es Erin ein bisschen besser, ihre Gier und ihre sich neu entwickelnden Kräfte zu zügeln. Dafür sorgte auch Sassy Branson. Sie hatte sich Erin als eine Art persönliches Projekt vorgenommen.

Lindsey nickte. »Ja. Bis später dann.« Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick in Richtung Feddrah-Dahns verließ sie die Buchhandlung, und die Tür fiel mit einem bestimmten Klicken hinter ihr ins Schloss.