Kapitel 4

 

Ich hatte keine Ahnung, was meine Schwestern sagen würden, wenn ich mit einem Einhorn zu Hause auftauchte. Feddrah-Dahns ruhte hinten in Chases neuem SUV. Ich war überzeugt davon, dass er dieses Monstrum gekauft hatte, um irgendwelche testosteronbedingten Unsicherheiten zu überwinden, doch das würde er niemals zugeben. Im Augenblick war ich allerdings dankbar für seinen gigantischen Spritfresser.

Ich hatte ihn ganz schön lange beschwatzen müssen, bis er Feddrah-Dahns schließlich erlaubt hatte, hintendrin mitzufahren.

Zum Glück waren die Einhörner der Anderwelt etwas kleiner als ihre erdseitigen Verwandten. Wir hatten die Schultern gegen sein prachtvolles weißes Hinterteil gestemmt, und mit vereinten Kräften war es uns gelungen, ihn in den leeren Laderaum des SUV zu quetschen.

»Wenn er hier reinmacht, bezahlst du die Reinigung.« Chase schloss die Heckklappe vorsichtig. »Wir sind doch beide verrückt. Du, weil du das vorgeschlagen hast, und ich, weil ich auf dich höre.«

Ich ging einfach über seinen finsteren Blick hinweg. »Lass es gut sein, Johnson. Du bist genauso von ihm verzaubert wie alle anderen auch, gib es zu.«

Chase schnaubte. »Klar doch. Märchen und Feen und Einhörner. Rutscht mir doch den Buckel runter.«

»Ich bestimmt nicht, aber Delilah zufolgte findest du ihren Buckel ganz toll«, sagte ich und duckte mich, als er spielerisch nach mir schlug. »Also, hast du in meinem Büro noch irgendetwas herausgefunden?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts, was wir nicht schon wüssten. Los jetzt, fahren wir endlich. Setz dich in Bewegung, Weib, sonst werfe ich dich über die Schulter, und wir lassen deinen Lexus über Nacht hier auf der Straße stehen, damit die Jungs aus der Stadt ihn plündern können. Die Uhr tickt.«

»Du scheinst aber reichlich Zeit zu haben, um mit Delilah Katz und Maus zu spielen.«

Ich grinste frech und rannte zu meinem Auto. Chase war mit meiner Schwester zusammen, aber er flirtete trotzdem gern. Zumindest bei mir war seine Flirterei aber harmlos, und er wusste, dass er damit nichts erreichen würde.

Unser Haus war eine dreistöckige viktorianische Villa, voll unterkellert, am Rande von Belles-Faire, einem etwas schäbigen Vororts von Seattle. Wir hatten das Haus gekauft, als wir erdseits gekommen waren, mit dem Geld aus einem Treuhandfonds, den unsere Mutter uns hinterlassen hatte. Maria D'Artigo war früh verwaist und hatte sich mitten im Zweiten Weltkrieg in Madrid in unseren Vater verliebt.

Da sie nichts in der Erdwelt hielt - ihre Stiefeltern waren ein paar Jahre zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen-, kehrte Maria mit Vater in die Anderwelt zurück. Dort heiratete sie ihn und fand sich in das Leben im äußersten Zirkel um Hof und Krone ein, doch sie gab ihre Bindung an die Erdwelt nie ganz auf. Sie sorgte dafür, dass auch wir Wurzeln in dieser Welt hatten, indem sie jeder von uns eine Sozialversicherungsnummer, eine Geburtsurkunde mit ein paar falschen Angaben und ein Bankkonto besorgte. Als die Portale geöffnet worden waren und die hiesige Regierung sich der Wahrheit über Feen hatte stellen müssen, hatten wir die Geburtsurkunden in Ordnung bringen lassen. Jetzt stand als Geburtsort »Y'Elestrial, Anderwelt« darauf, und auch Name und Rasse unseres Vaters waren ergänzt worden.

Bis zu ihrem Todestag hatte Mutter uns beschützt und war immer für uns eingetreten.

Auch unser Vater liebt uns. Wer könnte sich mehr wünschen? Doch bedauerlicherweise macht unser gemischtes Blut uns manchmal das Leben zur Hölle.

Ich bin Camille D'Artigo, die Älteste, und eine geschworene Dienerin der Mondmutter. Man hat mich schon als alles Mögliche bezeichnet - Schlampe, Verführerin, leidenschaftlich, gefährlich, verdreht. Aber im Grunde bin ich nur eine Hexe, die an ihrer Magie, ihrer Familie und ihren Liebhabern hängt. Und ein Make-up-Junkie. Und ja, meine Magie neigt zu Kurzschlüssen - manchmal in wirklich ungünstigen Augenblicken. Aber nie zu wissen, wo der Blitz einschlagen wird, macht das Leben doch auch sehr aufregend.

Delilah, die Zweitälteste, ist eine Werkatze. Sie verwandelt sich in ein Tigerkätzchen, wenn sie von Familienstreitigkeiten gestresst ist, und in Vollmondnächten. Und seit unserer Begegnung mit dem Herbstkönig - glauben wir jedenfalls - kann sie sich auch in einen schwarzen Panther verwandeln, wenn er das für nötig hält. Er hat sie als eine seiner Todesmaiden erwählt, weshalb sie nun verpflichtet ist, zur Ernte am Samhain-Abend Seelen für ihn einzufahren. Aber das ist eine andere Geschichte. Wir redeten meist darum herum, weil niemand diese Sache ungeschehen machen konnte.

Und dann ist da noch Menolly. Zu Hause in der Anderwelt war sie Akrobatin - eine getunte Spionin, könnte man sagen -, bis sie einer Gruppe abtrünniger Vampire in die Hände fiel. Dredge, der bösartigste Vampir, den es je gegeben hat, folterte sie, bis sie um den Tod bettelte, und dann zwang er sie, von seinem Blut zu trinken. Sie starb, er half ihr, sich zu erheben, und schickte sie dann nach Hause, damit sie über unsere Familie herfiel. Ich schaffte es, Hilfe zu holen, ehe sie uns etwas antun konnte. Aber seit dieser Nacht war unsere Familie nie wieder dieselbe. Menolly lernt immer noch, damit zu leben. Auch daran lässt sich nichts ändern, also ist es ganz richtig, dass sie versucht, das Beste daraus zu machen. In letzter Zeit scheinen sich Abenteuer dieser Art bei uns zu häufen.

Meine Schwestern und ich arbeiten für den AND, oder vielmehr taten wir das, bis zu Hause der Bürgerkrieg ausbrach. Da in Y'Elestrial eine Todesdrohung über uns verhängt wurde, haben wir beschlossen, hübsch erdseits zu bleiben. Und selbst, wenn wir nach Hause gehen könnten, würden wir es nicht tun. Denn hinter all diesem Aufruhr lauert eine Gefahr, die Erdwelt wie Anderwelt auslöschen könnte.

Schattenschwinge, ein Höherer Dämon und Fürst der Unterirdischen Reiche, hat es auf die Geistsiegel abgesehen - magische Gegenstände, mit denen sämtliche Portale zwischen den drei Welten gesprengt werden können. Wenn ihm das gelingt, werden seine Horden Erdwelt und Anderwelt überrennen und in Grund und Boden trampeln.

Wenn wir es schaffen, die Siegel vor ihm zu finden, können wir das empfindliche Gleichgewicht bewahren, über das die Ewigen Alten wachen.

Im Augenblick steht es zwei zu null für uns. Und Schattenschwinge ist sauer, was ihn noch viel gefährlicher macht. Und unseren Job sehr viel schwieriger.

Ich sprang aus dem Auto und sah mich im Vorgarten um. Iris war in den vergangenen Wochen fleißig gewesen. Ich hatte es immer so eilig gehabt, dass ich kaum darauf geachtet hatte. Aber jetzt entdeckte ich blühende Narzissen unter den Eichen und Ahornen - eine Fülle gelber Blüten in einem Meer aus Grün, das allerdings eher aus Moos denn aus Gras bestand.

Rosenbüsche bekamen die ersten Blattknospen, und später würden Hunderte satter, roter Blüten die Luft mit ihrem Duft erfüllen. Um das Haus herum schmiegte sich ein Regenbogen aus Iris- und Gladiolenbeeten, die bald erblühen würden, und zwischen üppigen Flecken aus Hasenglöckchen, Primeln und Tulpen kuschelten sich auch ein paar Traubenhyazinthen.

Vor einem großen Beet blieb ich stehen. Mein Kräutergarten. Ich hatte ihn früh im letzten Jahr angelegt, als wir noch nicht gewusst hatten, wie lange wir bleiben würden.

Deshalb hatte ich auch ein paar Setzlinge eingepflanzt, für den Fall, dass wir doch länger hier sein sollten. Jetzt war ich froh um diese Weitsicht. Belladonna und Brennnessel, Thymian und Rosmarin, Minze, Ringelblume und Lavendel und drei Dutzend andere Pflanzen drängten sich in den Beeten, die ich mit Pflastersteinen eingefasst hatte.

Ich kniete mich neben die Kräuter und konnte sie miteinander flüstern hören.

Was sie sagten, verstand ich nicht ganz. Dazu hätte ich mich auf sie einstellen, geistig tief in den Boden greifen und mich mit ihnen verbinden müssen. Aber sie waren aktive und bewusste Lebewesen.

Keine von meinen Schwestern schien mit Pflanzen sprechen zu können, doch bei mir war es Bestandteil meiner Vereinigung mit der Mondmutter. An mehr als einem warmen Sommernachmittag hatte ich mich lang und breit mit irgendwelchen wilden Brombeerranken unterhalten. Natürlich waren die Pflanzen zu Hause in der Anderwelt viel freundlicher und offener als hier.

Ich atmete tief den Duft satter, lehmiger Erde und nasser Zedern ein, stand auf und ging zu Chase und seinem SUV hinüber. Er öffnete die Heckklappe, und gemeinsam halfen wir Feddrah-Dahns aus dem überdimensionierten Kofferraum.

Erleichtert stellte ich fest, dass das Einhorn Chase keine Hinterlassenschaften beschert hatte, bis auf ein paar seidige, weiße Haare auf dem Teppich.

Chase schüttelte stumm den Kopf, knallte die Heckklappe wieder zu und folgte uns zur Treppe.

»Langsam auf den Stufen«, warnte ich Feddrah-Dahns, als seine Hufe hastig auf dem Holz klapperten. Um ehrlich zu sein, machte ich mir mehr Sorgen um unsere vordere Veranda als um seine Gesundheit. Mit diesen Hufen, über die lange Haare von den Fesseln herabfielen, konnte er an schwächeren Stellen vermutlich glatt ein Loch die Planken treten.

Als ich die Tür öffnete, prallte ich beinahe gegen Iris, die auf dem Weg in die Küche durch den Flur ging. Sie trug ein Tablett mit halb aufgegessenen Sandwiches, einer Schüssel abgestandener Cheetos und zwei offenen Getränkedosen vor sich her. Delilahs Hinterlassenschaften, kein Zweifel.

Iris lächelte mir knapp zu. Das Einhorn hatte sie noch nicht entdeckt.

»Camille, du musst etwas unternehmen. Sprich du mit De-lilah. Ich bitte sie ständig, ihren Müll wegzuräumen, aber das kommt einfach nicht bei ihr an. Man sollte doch meinen, dass sie als Werkatze sehr auf Sauberkeit und Ordnung achtet, aber sie verkommt zusehends ...« Sie verstummte und starrte an mir vorbei. »Da steht ein Einhorn vor der Tür.«

»Ja ... also ... ich habe da einen Gast mitgebracht«, sagte ich und lächelte schuldbewusst.

»Wo in aller Welt... wie ... Du meine Güte! Ich bringe nur schnell das Tablett weg!«

Verlegen eilte Iris in die Küche, und ich führte Feddrah-Dahns ins Wohnzimmer.

Ich schob den Schaukelstuhl beiseite, damit er genug Platz hatte, bequem zu stehen.

»Chase, könntest du oben nachschauen, ob Delilah zu Hause ist? Menolly wird bald aufstehen.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. Fünf nach sechs. In zehn Minuten würde sie aufwachen.

Chase ging zur Treppe, und Iris wuselte herein. Vorsichtig näherte sie sich dem Einhorn und verneigte sich tief. Sie war im Vergleich zu dem gehörnten Hengst so winzig, dass ich hoffte, er würde nicht gerade jetzt vor irgendetwas erschrecken. Wie leicht hätte er sie zertrampeln können.

Doch Feddrah-Dahns blickte auf sie hinab und ließ sich dann langsam sinken, bis er auf den Vorderbeinen vor ihr kniete. Er senkte den Kopf.

»Priesterin«, sagte er nur, doch dieses eine Wort sprach Bände. Wir hatten erst vor kurzem erfahren, dass Iris eine Priesterin der Undutar war, der finnischen Nebelgöttin.

Sie arbeitete mit Eis- und Schneemagie, und ich hatte das Gefühl, dass wir nur an der Oberfläche gekratzt hatten, was die wahren Fähigkeiten der Talonhaltija anging.

Iris knickste, hob die Hände und strich über das weiche Fell an seiner Stirn. Es sah ganz so aus, als genieße er die Aufmerksamkeit. Sie flüsterte ihm etwas zu, und er wieherte. Dann entfernte sie sich ein paar Schritte rückwärts und zupfte mich am Ärmel.

»Komm und hilf mir in der Küche.«

Ich folgte ihr und fragte mich, was sie mir wohl zu sagen hatte. Kaum hatten wir die Küche betreten, da wirbelte Iris mit großen Augen zu mir herum.

»Weißt du eigentlich, wer das ist?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Feddrah-Dahns, ein Einhorn aus dem Windweidental.

Er ist heute auf der Straße vor meinem Laden aufgetaucht, mit einem Schlägertrupp aus der Anderwelt auf den Fersen. Sie wollten ihn mit einem Blasrohr erlegen. Anscheinend hat er irgendeinem Pixie geholfen oder so.«

Iris schüttelte verwundert den Kopf. »Camille, das ist nicht einfach irgendein Einhorn, das da in eurem Wohnzimmer steht. Er ist der Kronprinz.«

Ich starrte sie an. »Wie war das bitte?«

»Feddrah-Dahns wird einmal die Krone der Dahns-Einhörner erben. Ihr habt einen Kronprinzen im Wohnzimmer sitzen - äh, stehen.«

»Heilige Mondmutter.« Ich sank auf einen Stuhl und wusste nicht, was ich davon halten sollte. »Woher weißt du das? Er hat nichts dergleichen gesagt. Bist du sicher?«

»Hast du denn die Gravur an seinem Horn nicht gesehen?« Iris lehnte sich an die Küchenzeile. »Du warst doch wohl kaum so lange erdseits, dass du alles vergessen konntest, was du zu Hause einmal gelernt hast? Verdammt, ich bin eine Erdwelt-Fee und habe sofort erkannt, wer er wirklich ist.«

»Sieh mal nach, warum Chase so lange braucht, ja?« Ich eilte zurück ins Wohnzimmer. Im Laden hatte ich nicht genug Zeit gehabt, mir Feddrah-Dahns' Horn gründlich anzuschauen. Ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen, Lindsey vor Schaden zu bewahren und das Einhorn vor der Goblin-Brigade zu beschützen.

Als ich langsam das Wohnzimmer betrat, blickte Feddrah-Dahns zu mir herüber, und im selben Augenblick sah ich, was mir zuvor so gründlich entgangen war. Vielleicht hatte er es auch vor mir versteckt - es wäre ein Leichtes für ihn, die Zeichen an seinem Horn zu verbergen. Nun flackerte ein goldenes Glühen auf, und als ich näher hinsah, erkannte ich die schwachen Zeichen, die in das goldene Horn graviert waren und ihn tatsächlich als Mitglied der königlichen Familie auswiesen.

Ich erschauerte. Selbst in der Anderwelt waren Einhörner selten. Einem Einhorn von königlichem Blut zu begegnen war alles andere als ein alltägliches Erlebnis.

Hof und Krone in Y'Elestrial hatten meine Schwestern und mich meist wie Luft behandelt. Wir waren Außenseiter, Windwandler, Halbblüter.

Doch nun, da wir unter Todesandrohung erdseits feststeckten und es mit einem Haufen Dämonen aufnehmen mussten, wurden wir offenbar zu Magneten für den eher ungewöhnlichen Hochadel. Elfenköniginnen und Einhornprinzen tauchten quasi vor unserer Haustür auf wie streunende Katzen.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Feddrah-Dahns zu und sank in einen tiefen Knicks. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, Euer Hoheit. Ich habe Euch eben erst erkannt. Eine schwache Entschuldigung, aber sie entspricht der Wahrheit. Was können wir für Euch tun?«

Feddrah-Dahns stieß ein langes Wiehern aus, das beinahe wie ein Seufzer klang. »Die Frage lautet, was ich für Euch tun kann, junge Hexe. Die neuen Portale, die sich wie von selbst geöffnet haben, bringen Chaos der schlimmsten Sorte hervor. Ich sagte Euch ja, dass der Goblin und seine Gesellen mir etwas gestohlen haben. Es war ein Geschenk, das mein Gehilfe Euch überbringen sollte.«

»Mir? Was solltet Ihr mir denn schicken? Wir sind uns doch zuvor noch nie begegnet.«

Plötzlich wurde mir furchtbar schwindelig, und ich musste mich an der Lehne des Sessels vor mir festhalten. Erdschieben. Wenn bedeutende Vorzeichen über den Himmel schössen oder eine Hexe vor einer schicksalhaften Wegkreuzung stand, löste der Ruck in der Realität eine spürbare Druckwelle aus. Von diesen Verschiebungen wurde mir immer entsetzlich schwindelig. Zu Hause in der Anderwelt hatte ich sie kaum bemerkt, weil die Magie so tief in das Land selbst eingebettet war, aber in der Erdwelt trafen sie mich mit voller Wucht.

Feddrah-Dahns blähte die Nüstern, und eine kleine Dampfwolke schoss hervor.

»Möchtet Ihr warten, bis Eure Schwestern sich uns angeschlossen haben? Die Angelegenheit betrifft Schattenschwinge.«

Ich rieb mir die Schläfen. Das Zwicken hinter meinen Augen drohte sich zu heftigen Kopfschmerzen auszuwachsen. »Ich glaube, ich brauche eine Tasse Tee.«

Er schüttelte seine Mähne. »Wie Ihr wünscht, Mylady.«

»Delilah und Chase kommen gleich. Sie sind an irgendetwas im Computer hängengeblieben«, erklärte Iris, die gerade hereinkam. Sie warf mir einen wissenden Blick zu und sagte: »Ich habe schon das Wasser für eine Kanne Richya-Tee aufgesetzt. Ich dachte mir, dass du eine Tasse vertragen könntest.«

»Da hattest du recht.« Ich warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach sechs. Im offenen Durchgang in Richtung Küche erschien Menolly in ihrer wachsbleichen Schönheit. Sie war zierlich und bleich, kupferfarbene, dünne Zöpfchen fielen ihr über die Schultern, und ihre Haut war weißer, als die Haut einer Frau je sein sollte. Doch abgesehen davon sah man ihr kaum an, dass sie tot war - bis man ihr ins Gesicht schaute. Ihre Geschichte schimmerte aus dem leicht gequälten Blick, mit dem sie die Welt betrachtete. Menolly hatte viel zu viel Schmerz erlitten, um je wieder unschuldig zu wirken.

»Guten Abend«, sagte sie leise und betrachtete Feddrah-Dahns. »Wie ich sehe, haben wir Besuch.«

Delilah und Chase polterten die Treppe herunter. Verglichen mit Menolly war Delilah beinahe eine Riesin. Mit einem Meter zweiundachtzig überragte sie sowohl mich als auch unsere jüngste Schwester.

»Chase behauptet - du meine Güte, er hat recht.« Delilah blieb abrupt vor dem Einhorn stehen und sank auf die Fußbank hinab. »Du bist wunderschön.«

Feddrah-Dahns ließ den Schweif durch die Luft sausen. »Ich danke Euch, feline Dame. Nun, da ihr alle hier seid, könnten wir zur Sache kommen?« Der Hauch von Ungeduld in seiner Stimme deutete bei einem Einhorn so etwas wie einen Wutanfall an.

»Selbstverständlich.« Ich bedeutete Menolly, sich zu mir aufs Sofa zu setzen.

»Feddrah-Dahns ist der Kronprinz der Dahns-Einhörner. Ich bin ihm heute vor der Buchhandlung begegnet, als drei Schläger aus der Unterwelt versucht haben, ihn zu töten. Es hatte irgendetwas mit einem Pixie-Diebstahl zu tun.«

»Ah«, sagte Menolly nickend. »Pixies sind berüchtigte Diebe. Fast so schlimm wie Goblins.«

Feddrah-Dahns stieß einen Laut aus, der sich verdächtig nach einem herablassenden Schnauben anhörte. »Pixies sind mit Goblins in nichts zu vergleichen. Und nicht alle Pixies sind Schurken. Derjenige, um den es hier geht, arbeitet zufällig für mich - er ist mein Gehilfe. Er trug etwas von ungeheurem Wert bei sich, das ich ihm anvertraut hatte. Er kam durch eines der neu entdeckten Portale hierher, doch wir merkten zu spät, dass er verfolgt wurde.«

»Der Goblin und seine Kumpels?«, fragte ich. Dass die drei auf der Spur des Pixies hierhergekommen waren, erschien mir viel wahrscheinlicher als eine zufällige Begegnung.

Das Einhorn wieherte. »Ja. Sie haben gewartet, bis er hier drüben war, und es dann gestohlen. Sie haben versucht, Mistelzweig zu töten, doch er konnte entkommen. Über einen Flüsterzauber nahm er Verbindung zu mir auf, und ich kam sofort erdseits, um ihm zu helfen. Ich hätte ihm diese Aufgabe gar nicht erst übertragen sollen, aber wenn ich in die Zukunft schauen könnte, würden wir diese Unterhaltung jetzt nicht führen.«

»Mistelzweig? Ich nehme an, das ist der Pixie?«, fragte De-lilah und lehnte sich an Chases Schulter. Sie himmelte das Einhorn an und sah aus, als wäre sie ihm am liebsten um den Hals gefallen, um ihm einen dicken Schmatz auf die Nase zu geben. Delilah liebte alles, was auf vier Füßen lief. Na ja, fast alles.

»Ja. Er ist jetzt schon seit zweihundert Jahren bei mir und wirklich ein vorzüglicher Gehilfe. Mistelzweig konnte sich das Objekt zurückholen, kurz bevor ich durch das Portal kam. Ich war auf dem Weg zu unserem Treffpunkt in der Nähe Eures Geschäfts, als der Goblin und seine Begleiter wieder auftauchten. Aber diesmal kam ich ihnen in die Quere. Und Ihr. Mistelzweig scheint derweil verloren gegangen zu sein. Er hat seit dem Nachmittag nicht mehr versucht, mich zu kontaktieren.«

»Wo genau ist dieses Portal?«, fragte ich und stupste Delilahs Arm an. »Hol die Karten, damit wir es eintragen können.« Sie rappelte sich auf, holte unseren kleinen Atlas von Seattle und Umgebung vom Bücherregal und schlug die Seite auf, auf der wir im Stadtplan die wichtigsten Szeneclubs und magischen Verbindungspunkte markiert hatten.

Feddrah-Dahns schüttelte die Mähne. »Das Portal führt vom Windweidental direkt in einen kleinen Park in der Nähe Eurer Buchhandlung. Er ist überwuchert und wirkt vernachlässigt. Ein winziger Park. Mit einer Stechpalme und einer Eberesche.«

Delilah suchte den Plan ab. »Ich hab ihn. Muss der hier sein.« Sie zeigte uns ein kleines grünes Rechteck auf dem Stadtplan. Wentworth Park. Und er schien tatsächlich höchstens eine Größe von zwei mal zwei Häuserblocks zu haben.

»Wir sehen uns das nachher an. Wir müssen eine Wache an dem Portal postieren.

Jemand, der nicht auffallen wird.« Ja, klar, kein Problem. Ein weiterer Punkt auf unserer ohnehin schon überlangen Liste. Falls es irgendwelche VBM schaffen sollten, durch das Portal in die Anderwelt zu gelangen, würden wir ernsthafte Schwierigkeiten bekommen.

Der AND hatte den Erdwelt-Regierungen zugesichert, dass wir Menschen nur ausnahmsweise und in Begleitung in die Anderwelt lassen würden.

Delilah machte sich eine Notiz. »Okay. Vielleicht könnten wir dort ein paar Devas auftreiben, die bereit wären, uns zu helfen.«

»Gute Idee.« Die ortsgebundenen Naturgeister würde sicher niemand bemerken. Ich wandte mich wieder Feddrah-Dahns zu. »Bitte, fahrt fort.«

»Mistelzweig war noch nie in der Erdwelt. Mein Gespür sagt mir nichts von seinem Tod, also hat er sich vermutlich nur verirrt. Aber ich bin sicher, dass der Goblin und die Humberfee ihn weiterhin verfolgen. Ihr müsst ihn vor den beiden finden. Das Geschenk, das er bei sich trägt, darf ihnen nicht in die Hände fallen.«

Delilah warf mir einen Blick zu und schob die Hände in die Taschen ihrer Jeansweste.

»Tja, wozu bin ich Privatdetektivin? Es dürfte nicht allzu schwer sein, ihn zu finden.

Pixies sind in der Stadt recht selten, und ein Pixie aus der Anderwelt müsste auffallen wie Mary Poppins auf einem Hardrock-Konzert.« Der schwarze Halbmond, der auf ihre Stirn tätowiert war, schimmerte auf, und plötzlich zog eine kalte Brise durch den Raum.

Ich verschränkte die Arme, als sich eine düstere Vorahnung spürbar über das Wohnzimmer senkte. Etwas Großes, Beängstigendes tauchte auf meinem Radar auf, und es kam direkt auf uns zu. »Was um alles in der Welt habt Ihr in die Erdwelt gebracht? Und woher wisst Ihr von Schattenschwinge und unserem Kampf gegen ihn?«

Feddrah-Dahns sah mir in die Augen, und ich fiel in diese funkelnden Tiefen. »Ich hatte kürzlich eine interessante Unterhaltung mit Pentakle, der Mutter der Magie.«

Daher also wusste er über Schattenschwinge Bescheid. Pentakle war eine der Ewigen Alten, und sie arbeitete mit Königin Asteria zusammen, um uns von der Anderwelt aus so gut wie möglich in unserem Kampf gegen die Dämonen zu unterstützen.

Plötzlich gähnte ein Abgrund in meiner Magengegend, der mich zu verschlingen drohte. Ich wollte die Antwort auf meine nächste Frage eigentlich gar nicht hören, aber fragen musste ich. »Der Goblin und seine Kumpels arbeiten nicht allein, richtig?

Ihr sagtet doch, sie hätten die Verfolgung schon in der Anderwelt aufgenommen.«

»Nein, sie handeln nicht aus eigenem Antrieb.« Feddrah-Dahns scharrte mit einem Huf auf dem Teppich. »Sie arbeiten für einen von Schattenschwinges Spionen.

Anscheinend haben die Dämonen auch Augen und Ohren in der Anderwelt. Königin Asteria, Pentakle und ich sind uns einig, dass Ihr diese Waffe tragen solltet. Nachdem ich Mistelzweig damit ausgesandt hatte, stellte Pentakle fest, dass wir beschattet wurden. Der Goblin und seine Schläger gehören zu einem Netzwerk von Spionen, das sich sowohl über die Anderwelt als auch über die Erdwelt erstreckt. Es wird von einem Höheren Dämon hier in Seattle geleitet. Soweit wir feststellen konnten, ist er einer von Schattenschwinges Generälen.«

»Scheiße«, sagte Menolly und stand auf. Sie schwebte zur Decke hinauf und blieb in der Nähe des Kronleuchters in der Luft hängen. »Ich frage mich gerade, ob das etwas mit dem dritten Geistsiegel und diesem Räksasa zu tun hat, von dem Rozurial uns erzählt hat.« Rozurial war ein Incubus, der uns geholfen hatte, Menollys Meister zu besiegen. Außerdem war er einfach umwerfend, aber ich wusste es besser, als mich darauf einzulassen.

»Natürlich!« Ich sprang auf. »Der indisch-persische Dämon.« Ich wirbelte zu Feddrah-Dahns herum. »Haben wir recht?«

»So ist es.« Er nickte ernst. »Er ist sehr gefährlich und lässt seine Feinde oft am Leben, um sie in seinen Dienst zu zwingen. Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass mehrere Söldner wie Rozurial bereits versucht haben, ihn auszuschalten, doch keinem ist es auch nur annähernd gelungen. Er hat Helfer, das wissen wir, doch die meisten verschwinden nach etwa einem Jahr.«

»Dann reicht Schattenschwinges Arm jetzt tatsächlich bis weit in die Erdwelt und die Anderwelt hinein.« Ich runzelte die Stirn. »Das ist sehr beunruhigend. Wenn sie es auf das abgesehen haben, was Ihr uns bringen wolltet... es ist doch nicht das dritte Geistsiegel, oder?«

Feddrah-Dahns schüttelte den Kopf und wieherte leise. »Nein, doch was ich Euch anbiete, wird Eure Magie gegen die Dämonen stärken, und das wollen sie selbstverständlich verhindern. Während die Feen einander bekämpfen und die wachsende Bedrohung ignorieren, ist die Kryptiden-Allianz übereingekommen, Euch in der wichtigeren Schlacht zu helfen. Mit dieser Entscheidung stellen wir uns hinter Königin Asteria und Pentakle.«

Ich stieß einen langen Seufzer aus. Wenn es so aussah, als stünden wir in unserem Kampf ganz allein da, brach manchmal so ein Hoffnungsschimmer hervor. Ich blickte zu Feddrah-Dahns auf, und Dankbarkeit rührte mich bis ins Herz. »Wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können«, sagte ich.

Er senkte den Kopf und schnupperte sacht an meinem Gesicht. »Wischt Euch die Feuchtigkeit aus den Augen, Camille. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, damit Ihr nicht allein dasteht. Wir können Euch keine Armee schicken, aber Euch unterstützen, wo es geht.«

»Was hat Mistelzweig denn bei sich?«

Feddrah-Dahns schüttelte den Kopf, und seine Mähne schimmerte im Licht der Wohnzimmerlampe. »Einen Gegenstand aus vergangenen Zeitaltern, den unsere Familie seit Generationen hütet. Mein Vater bat mich, ihn Euch zu bringen, da Eure Not so groß und der Feind so gefährlich ist. Es ist meine Schuld, dass Mistelzweig in Gefahr geraten ist - ich dachte, er wäre der Aufgabe gewachsen.«

Seine Stimme erstarb, und seine üppigen, langen Wimpern flatterten wie in einer unsichtbaren Brise.

Worum es auch gehen mochte, das Ding musste verdammt machtvoll sein. Der Kronprinz der Dahns-Einhörner riskierte ganz sicher keine Reise in die Erdwelt, wenn er nicht einen verdammt guten Grund dafür hatte. Ich wartete.

Nach einer langen Pause stieß Feddrah-Dahns ein tiefes Seufzen aus. »Wir bieten Euch etwas an, das kein Mensch ... keine Fee ... jemals zuvor sehen oder berühren durfte. Ich bringe Euch das Horn des Schwarzen Einhorns.«