Kapitel 19

 

In dem kleinen Park - einer grob dreieckigen Anlage an der Kreuzung First Avenue, James Street und Yesler Way - wimmelte es von Goblins. Es mussten mindestens fünfzehn sein. Sie waren gedrungene, brutal aussehende Geschöpfe mit trüber, grüner Haut und schulterlangem Haar, das ihnen verfilzt um die Köpfe hing. Sie hatten dicke, aber muskulöse Bäuche und bewegten sich mit o-beiniger Großspurigkeit. Ihre nadelspitzen Zähne glitzerten feucht, während sie die gefallenen Polizisten beäugten.

Goblins waren durchaus in der Lage, ihre Feinde zu fressen. Mein Magen brachte sich in Deckung, um das Frühstück nicht wieder hergeben zu müssen.

Iris' Barriere hielt noch, aber ich spürte, wie sie schwächer wurde, als der Goblin-Schamane eine Art schildbrechende Magie in unsere Richtung schickte. Ich beschleunigte meine Schritte und stürmte voran, die anderen dicht hinter mir. Als wir in Reichweite waren, legte ich mit meinem Energiestrahl los, der als silbriger Blitz aus meinen Händen hervorschoss. Die Barriere fiel, und zwei Goblins kreischten, als der Strahl sie traf.

Ich hielt den Atem an, aber von einem magischen Rückstoß war nichts zu spüren. Eins zu null für uns.

Morio und Delilah stürmten vor und verwickelten die Rohlinge in den Nahkampf, während Iris ihren neuen Zauberstab ausstreckte und wieder melodisch vor sich hinmurmelte. Ich drehte mich um und sah mich plötzlich einem der Mistkerle gegenüber, der mich angriff. Er war gut zwanzig Zentimeter kleiner als ich, aber er schwang einen hässlich aussehenden Dolch, und ich hatte keine Lust, nähere Bekanntschaft mit dieser Klinge zu machen.

Als ich meine eigene Klinge zog - er war schon zu nahe, um es mit einem weiteren magischen Angriff zu versuchen -, stürzte er sich auf mich.

Das Pflaster unter unseren Füßen war rutschig, und als ich beiseite sprang, glitt ich mit einem Fuß aus und landete auf dem Hintern. Der Goblin lachte und holte mit dem Dolch aus. Als er ihn herabsausen ließ, rollte ich mich nach links weg, und das Metall knallte auf den nassen Gehsteig. Mit einem Schlachtruf kam ich auf die Füße und griff ihn an. Wir gingen beide zu Boden, aber ich landete oben. Während er nach seinem Dolch tastete, stieß ich ihm meine Klinge in die Brust und lehnte mich so schwer darauf, wie ich konnte.

Das Silber sprühte Funken, und er kreischte - Silber bekam Goblins nicht so gut. Er schlug um sich, während eine ganze Lache Blut aus der Wunde quoll. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken, nur zum Handeln. Ich sprang von ihm herunter auf die Füße.

Als ich mich umdrehte, sah ich, dass wir uns in der Anzahl unserer Gegner getäuscht hatten. Eine weitere Gruppe von mindestens zwölf Goblins kam über die Straße gerannt, um ihren kreischenden Kameraden zu helfen. Wo zum Teufel kamen die denn plötzlich her?

Iris hatte zwei erstarren lassen - eine Art Gefrierzauber -und zückte nun vor meinen Augen etwas, das aussah wie ein geschärfter Eiszapfen. Sie schlitzte ihnen damit die Kehlen auf und stieß sie einfach um, als sie mit ihnen fertig war.

Delilah und Chase prügelten sich mit einer Gruppe von drei Goblins und hatten offenbar schon zwei weitere niedergeschlagen. Morio hatte vollends Dämonengestalt angenommen, hielt einen Goblin mit den Zähnen an der Kehle gepackt und schüttelte ihn. Blieben also acht übrig, von denen nur drei beschäftigt waren. Dazu noch die zwölf, die jetzt im Anmarsch waren.

Ich wirbelte herum, als ein Geräusch von hinten mich warnte. Zwei Goblins hatten es auf mich abgesehen. Ich musste hier weg. Mit einem konnte ich es in einem normalen Kampf aufnehmen. Zwei wären definitiv zu viel gewesen. Ich rannte den Bürgersteig entlang, parallel zu dem niedrigen Eisenzaun, der den künstlerischen Totempfahl und die Bäume in der kleinen Parkanlage umschloss. Meine Gegner folgten mir. Sie waren schnell, aber ich war schneller, und als ich genug Abstand zwischen uns gebracht hatte, fuhr ich herum und rief einen Blitz zu mir herab.

Als er knisternd aus meinen Fingerspitzen hervorschoss, wurde ich von einem schrillen Schrei abgelenkt, der nach Delilah klang. Mein Zauber geriet ins Schlingern, lief dann völlig aus dem Ruder und spaltete einen der riesigen Bäume. O Scheiße! Die Platane erbebte, als ihr Stamm gespalten wurde, und mit einem mächtigen Seufzen kippte der halbe Baum weg und krachte auf den Boden, direkt auf den schmiedeeisernen Pavillon, der erst vor ein paar Jahren restauriert worden war. Ich verzog das Gesicht. Verdammt, so hätte das nicht laufen sollen.

Ich warf hastig einen Blick zu Delilah hinüber, die ihren linken Arm umklammert hielt, ehe ein heiseres Lachen meine Aufmerksamkeit wieder auf den Kampf lenkte.

Die beiden Goblins hatten innegehalten, doch nun rückten sie wieder vor. Ich versuchte es noch einmal mit Magie, diesmal mit dem Mordente-Zauber, den Morio mir beigebracht hatte. Ich benutzte ungern Todesmagie, wenn er mir nicht dabei half, weil sie ziemlich vertrackt war, aber Adrenalin und Wut fachten meine Kräfte an.

»Mordentant, mordentant, mordentant...« Ich konzentrierte mich einzig und allein auf die beiden Goblins, die auf mich zukamen, und spürte, wie sich in mir ein finsterer Schatten er hob. Ein Schatten wie von Krähen, von Käfern und Spinnen und Fledermäusen. Er sickerte langsam meine Arme hinab bis in die Finger, wie kleine Rinnsale aus Eis und Stahl.

Die Energie schlug gegen mein Herz, und wie immer gab mir ein leiser Zweifel Angst davor ein, mich ihr zu öffnen, doch der Ausdruck auf den Gesichtern der Goblins reichte aus, um mich aus meinem Zögern aufzuschrecken. Ich gab meinen Widerstand auf und ließ die Woge aus Schatten durch mein Herz spülen, durch meine Seele, durch jede Zelle meines Körpers.

»Mordentant, mordentant, mordentant...«

Sie donnerte durch mich hindurch wie eine aufgewühlte Wolkenbank - grau, schwer und unheilschwanger. Dann rollte sie aus meinen Händen hervor und hüllte die heranstürmenden Goblins ein. Nur sie und ich konnten diese Wolke sehen, und sie rissen die Augen auf, als der dunkle Nebel in ihre Körper einsickerte, in ihre Lungen drang, ihnen die Luft aus dem Leib drückte, Organe abwürgte und das Leben aus ihren Seelen rinnen ließ.

Die Wolke löste sich rasch wieder auf. Ich war nicht stark genug, um den Zauber bei beiden ganz zu Ende zu bringen. Stöhnend fielen sie zu Boden. Sie wanden sich unter schrecklichen inneren Qualen. Während ich ihrem Ringen zusah, kam mir plötzlich der Gedanke, dass die Mondmutter mich nicht verstoßen hatte, obwohl ich inzwischen auch Todesmagie praktizierte. Nein, die Mondherrin hatte selbst ihre dunkle Seite, und wenn sie schwieg, kamen die Fledermäuse, Untoten und Spinnen zum Spielen hervorgekrochen.

Ich rüttelte mich aus meinen düsteren Gedanken auf und beeilte mich, die Goblins zu erledigen. Zwei rasche Stiche mit meinem silbernen Kurzschwert, und sie waren Geschichte.

Ich drehte mich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie Iris um ihr Leben rannte, einen Goblin dicht auf den Fersen. Doch ehe ich ihr zu Hilfe eilen konnte, stürmte Morio von hinten heran, rammte das Mistvieh und schleuderte es in hohem Bogen auf die Straße hinaus.

Delilah und Chase hatten es geschafft, ihre drei niederzumachen, und standen schon der nächsten Schlange von Angreifern gegenüber. Allmählich fürchtete ich, dass wir verdammt viel Glück brauchen würden, um das hier zu überstehen, ohne dass einer von uns ernsthaften Schaden nahm. Wir brauchten etwas Wirkungsvolleres als das, was wir jetzt aufboten.

Die nächste Truppe Übeltäter lief in meine Richtung los, und als ich mich bereitmachte, donnerte der Lärm eines pfeifenden Güterzugs über mich hinweg. Ehe ich wusste, wie mir geschah, erschien Smoky neben mir, zweifellos schnurstracks vom Ionysischen Meer. Er warf einen einzigen Blick auf das Chaos um sich herum, und seine Lippen verzogen sich zu einem feinen Lächeln, als er sich die drei aussuchte, die auf mich zugerannt kamen. Sie bellten etwas, das ich nicht verstand, und griffen nun stattdessen ihn an.

Smoky streckte die Hände aus, und seine Nägel wuchsen sich zu Klauen aus. Dann verschwamm er in einem Strudel, der sich so schnell drehte, dass meine Augen nicht mitkamen. Er schoss um die Goblins herum, die erschrocken kreischten, und schlug ein Mal, zwei Mal, drei Mal zu. Binnen Sekunden lagen die Goblins tot in einer zähen Blutlache, und er war zur nächsten Gruppe weitergezogen. Sein tiefes Lachen hallte durch den Park.

Der Gestank dieses Blutvergießens war ekelhaft süßlich, und ich konnte mich kaum mehr konzentrieren. Wie lange wir schon hier waren, wusste ich nicht, aber allmählich kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Doch mir blieb keine Zeit, mich auszuruhen. Ein weiterer Goblin griff mich an, und weiter ging's.

Ich hatte so viel Energie auf den Todeszauber verwendet, dass ich kaum noch Reserven hatte. Also war ich auf mein Kurzschwert angewiesen.

Wieder einmal segnete ich die weise Voraussicht meines Vaters, der uns diese Silberdolche geschenkt hatte. Mit Zaubern verstärkt, waren sie zwar nicht allzu mächtig, aber es reichte, um Geschöpfe mit extradicker Haut zu verletzen. Menolly besaß auch einen, aber da sie nun Vampyr war, konnte sie ihn nicht mehr berühren.

Der Goblin und ich umkreisten einander. Er wirkte vorsichtiger als seine gefallenen Kameraden, und ich bezweifelte, dass er so leicht in irgendwelche Fallen tappen würde. Das war nicht gut für mich. Ich wurde allmählich müde, und müde Kämpfer lebten meist nicht mehr lange.

Er parierte meinen Hieb, und ich schoss zur Seite. Dabei erhaschte ich einen Blick auf die Fassade gegenüber. Das war der Eingang zu Underground Seattle, dem unterirdischen Museum. Die Stadt war im Jahr 1889 fast vollständig niedergebrannt, und beim Wiederaufbau hatte man sie einfach über den Ruinen errichtet, bis zu zehn Meter höher als vorher. 1907 hatte man die unterirdisch verbliebenen Stadtteile wegen eines Ausbruchs der Beulenpest endgültig aufgegeben. Aber ein ansehnlicher Teil des alten Seattle war noch öffentlich zugänglich und wie ein Museum zu besuchen.

Mehrere weitere Goblins kamen aus dem Eingang. Mist! Ich wich dem Dolch meines Angreifers aus und kreischte so laut ich konnte, wobei ich mit beiden Händen auf die andere Straßenseite zeigte: »Sie kommen aus dem Eingang vom Underground Seattle!

Da unten muss ein Portal sein!«

Was zum Teufel sollten wir jetzt tun? Irgendjemand musste da unten reingehen und die Kontrolle über das Portal übernehmen, damit wir die Goblins - und was immer auf der anderen Seite sonst noch Schlange stehen mochte - daran hindern konnten, weiter durchzubrechen.

»He, du mit den großen Titten! Wie wär's, wenn du dich ergibst? Dann lass ich dich leben. Noch 'ne Weile.« Der Goblin sprach Calouk, und falls er mich mit diesen Worten hatte wütend machen wollen, so war ihm das gelungen.

Ich war wütend, müde und hatte das Ganze so gründlich satt, dass ich beschloss - zum Teufel damit. Wenn ich dabei ein bisschen angesengt wurde, na und? Ich hob die Arme, rief einen Blitz herab und spürte, wie sich die Ladung in mir aufstaute wie vor einem gewaltigen Gewitter; sie fegte durch meinen ganzen Körper. Womöglich würde ich mir selbst einen Kurzschluss verpassen, aber verdammt noch mal, ich hatte die Schnauze voll von diesem Abschaum. Statt direkt auf einen bestimmten Goblin zu zielen, richtete ich die Energie auf den Eingang zur Underground Tour und schickte einen Blitz los, der die Luft zerriss und die Wand um die Tür herum bröckeln ließ.

Das Gebäude erbebte, und einen Moment lang glaubte ich, ich hätte nur ein kräftiges Wackeln verursacht. Das Haus blieb stehen. Die Tür und das Mauerwerk darum herum jedoch nicht. Eine Lawine aus Schutt löste sich, donnerte auf die hervorströmenden Goblins herab und erschlug diejenigen, die nach draußen entkommen wollten.

Rasch blockierten Steinbrocken, Mauerstücke und geborstene Holzträger den Eingang, und die Goblins draußen, die noch lebten, hielten mitten im Kampf inne und starrten mich an.

Mein Gegner wich langsam vor mir zurück, das Gesicht verzerrt vor Angst. Die Energie des Blitzes hatte in mir einen rasenden Zorn hinterlassen, ein Überbleibsel des Gewitters, das aus meinen Händen hervorgeschossen war. Nun marschierte ich mit erhobenem Dolch auf ihn zu. Er brabbelte etwas und ergriff die Flucht, doch ich war ihm dicht auf den Fersen und machte ihn schließlich ohne Gegenwehr nieder.

Die übrigen Goblins auf dem Platz suchten hektisch nach einem Fluchtweg, und wir erledigten in dem Durcheinander einen nach dem anderen.

Ich sah Iris zu dem erschütterten Gebäude laufen; sie presste die Hände auf den Gehsteig davor und murmelte etwas. Eine Barriere bildete sich um das Pioneer Building. Sie wirkte wie aus Eis, doch Eis würde schmelzen, selbst an einem so kühlen Tag. Ich eilte zu ihr hinüber. »Was machst du da?«

»Ich verhindere größeren Schaden. Die Barriere wird nicht lange halten. Chase - ruf die Stadtverwaltung an, die müssen schnell jemanden herschicken und die Statik des Gebäudes überprüfen. Aber erst einmal müssen wir verhindern, dass noch mehr Goblins aus dem Portal da unten kommen. Wir brauchen Wachen, und zwar sofort.«

Iris winkte Delilah herbei. »Wie wäre es mit dem Puma-Rudel? Könnten die uns helfen?«

»Ich kümmere mich sofort darum. Ich hole ein paar ÜW -gute Kämpfer. Wir postieren sie an dem Portal, bis wir Asteria kontaktieren können.« Sie klappte ihr Handy auf und wählte Zacharys Nummer. Kaum eine Minute später hatte sie sein Versprechen, fünf der stärksten Rudelmitglieder herzuschicken, die uns aushelfen würden, während wir die dauerhafte Bewachung arrangierten.

»Bis sie hier sind, sorge ich für Ordnung. Ich komme leicht durch den Schutt da rein«, sagte Smoky, trat hinter mich und schlang die Arme um meine Taille. Dann beugte er sich vor und gab mir einen schnellen Kuss.

»Danke.« Ich atmete tief durch und blickte mich um. Der Pioneer Square war mit toten Goblins übersät. Wir alle sahen aus wie Flüchtlinge, die einem Massaker entkommen waren, bis auf Smoky, dessen weißer Trenchcoat und weiße Jeans so makellos wie immer waren. Ich musste ihn unbedingt irgendwann fragen, wie er das anstellte. Ich war von Kopf bis Fuß mit Goblinblut beschmiert, und auch - so vermutete ich - mit meinem eigenen. Mindestens zwei Polizisten waren schwer verwundet oder tot. Chase sah gerade nach ihnen.

»Geh, bitte. Sorge dafür, dass keine mehr durchbrechen, bis wir jemanden hier postieren können.« Ich drückte Smokys Hand an meine Wange, und sie fühlte sich kühl, beruhigend und stark an.

Er nickte und verschwand binnen Sekunden in die Ionysischen Strömungen. Ich machte mir keine Sorgen. Smoky war kaum in Gefahr. Falls da unten irgendetwas passierte, konnte er einfach wieder auf den Dimensionsstrom hüpfen.

Ich war erschöpft und hätte einen ganzen Eimer Wasser trinken können - von den Blitzen war ich völlig ausgedörrt. Müde ließ ich mich auf die Bordsteinkante sinken.

Delilah setzte sich zu mir und nahm meine Hand.

»Das ist zu viel. Wir können nicht gegen alle kämpfen, die kommen«, sagte sie.

»Ich weiß. Wir brauchen Hilfe.« Ich schwieg einen Moment lang. »Vielleicht hat Morgana recht. Wenn sie die Feenhöfe wieder aufbauen, könnten wir die um Hilfe bitten.« Ich erzählte ihr rasch, was ich bei meinem kleinen Ausflug zu Smoky erfahren hatte.

Delilah überlegte eine Weile und schüttelte dann den Kopf. »Sie würden sich von Halbblütern nichts sagen lassen, Camille. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es anders wäre als früher in Y'Elestrial, als wir noch klein waren. Wir werden immer Außenseiterinnen bleiben, ganz gleich, wo wir sind. Sie würden versuchen, die Führung an sich zu reißen, obwohl sie keine Ahnung haben, was sie tun. Den Feenköniginnen ist ihr eigenes Prestige viel wichtiger als das Schicksal der Menschheit. Was meinst du, wie lange es dauern würde, bis sie einen Waffenstillstand mit den Dämonen aushandeln? Zumindest die Dunkle Königin.«

»Das würden sie nicht tun«, beharrte ich. »Die Erdwelt ist nur eine Durchgangsstation für Schattenschwinge, und Morgana - und jetzt auch Titania - weiß das. Sie können uns nicht verraten, ohne sich selbst zu schaden.«

Aber Delilahs Befürchtungen ließen leise Zweifel in mir aufkeimen. Wie weit konnten wir Titania wirklich trauen? Und Morgana? Großmutter Kojote hatte uns bereits davor gewarnt, dass Morganas Machtgier eine ihrer größten Schwächen war. Was, wenn Schattenschwinge ihr die Herrschaft über alle Erdwelt-Feen versprochen hatte? Würde sie den Köder schlucken und das Volk ihres Vaters wie das ihrer Mutter verraten?

Iris kam zu uns herüber. Auch sie sah müde aus, und ihr weißes Gewand war mit Blut bespritzt. Die kleine Talonhaltija hatte mehr Mut als die meisten wesentlich größeren Feen, die mir je begegnet waren. Ich lächelte sie dankbar an.

»Ohne dich hätten wir es nicht geschafft. Ich danke dir.« Ich starrte auf die Straße vor mir. Ohne unsere Freunde wären wir längst tot gewesen. Und wenn wir schon Smoky brauchten, um mit einem Häuflein Goblins fertig zu werden, was zum Teufel sollten wir dann tun, wenn Schattenschwinge mehr als nur ein paar Dämonen auf einmal schickte?

Delilah stand auf und streckte die Hand nach meiner aus. Ich reichte sie ihr und ließ mich von ihr auf die Füße ziehen. »Also gut, sehen wir erst mal nach, wie es um Chases Männer steht«, sagte sie.

Ich wollte nur noch nach Hause, ins Bett fallen und eine Woche lang schlafen, aber ich folgte ihr hinüber zu Chase, der zurückgetreten war, während zwei Polizisten auf Rollbahren in zwei Krankenwagen verfrachtet wurden.

»Einer hängt am seidenen Faden«, sagte er, ehe wir danach fragen konnten. »Ich weiß nicht, ob er auch nur bis ins Krankenhaus durchhält. Ich habe ihn schon für tot gehalten, aber noch lebt er. Der andere ist schwer verletzt, aber er dürfte es überleben und vielleicht sogar vollständig genesen, wenn alles gut geht. Aber seine Werte, Puls, Atmung und so weiter, sind völlig durcheinander, und wir wissen noch nicht, was das bedeutet.«

»Das Gift!« Delilah schauderte. »Chase, wahrscheinlich wurden beide Männer vergiftet. Schick sofort einen AETT-Mediziner zum Krankenhaus, er soll die beiden auf Tetsa-Gift untersuchen. In euren Bluttests wird davon nichts zu sehen sein, aber unsere Heiler wissen, wonach sie suchen müssen. Tetsa kann sowohl auf Klingen als auch auf Pfeile aufgetragen werden.«

»Und wenn du schon dabei bist, lass auch deine Wunde auf Gift untersuchen.« Ich deutete auf den Riss, der sich über seine Wange zog. Er blutete nicht mehr, aber sein Gesicht war mit halb getrocknetem Blut verkrustet. Köpfe und Hände bluteten eben stark. Die Wunde sah zwar hässlich aus, war aber nicht lebensbedrohlich, solange sie sich nicht entzündete. »Ich fürchte, das wird eine Narbe geben.«

Er zuckte mit den Schultern. »Das musste in meinem Beruf irgendwann passieren.«

»Damit wirst du nur umso verwegener aussehen«, sagte Delilah und hängte sich an seinen Arm.

»Klar ... Hauptsache, dir gefällt es, Süße«, erwiderte er. »Was ist mit euch? Jemand verletzt?«

Delilah streckte den linken Arm aus. Ihre Jacke war aufgeschlitzt, und als ich ihr half, sie auszuziehen, zuckte sie vor Schmerz zusammen. Die Klinge des Goblins war durch Jacke und Bluse gegangen und hatte ihr eine klaffende Wunde am Arm beigebracht. Zum Glück waren keine wichtigen Adern betroffen, aber sie würde eine ganze Weile ziemliche Schmerzen haben.

»Lass das lieber untersuchen. Wir sind zwar gegen einige Gifte halbwegs immun, aber du könntest trotzdem Schaden nehmen. Ach, was soll's, am besten gehen wir gleich alle zu Sharah, ziehen uns aus und lassen uns von Kopf bis Fuß anschauen. Mir tut alles so weh, dass ich nicht mal sagen kann, wo ich einen Treffer abbekommen habe und wo nicht.« Müde schleppte ich mich zum Auto.

Morio schlang den Arm um meine Taille, und ich lehnte mich an seine Schulter.

»Brauchst du Hilfe? Ich kann dich tragen«, sagte er. »Das schaffe ich schon.«

»Lügner.« Ich lächelte ihn an. »Du siehst genauso fertig aus wie wir anderen. Nein, ich brauche noch keine Gehhilfe.« Ich warf einen Blick zurück auf die vielen Goblin-Leichen. »Wer räumt jetzt diese Schweinerei auf?«

»Ich habe schon ein paar Einheiten angefordert. Alle Leichen werden ins AETT-Leichenschauhaus gebracht. Zumindest müssen wir uns diesmal keine Sorgen machen, dass sie als Vampire wiederauferstehen könnten.« Chase schüttelte den Kopf.

»Apropos, wir haben immer noch nicht den geringsten Hinweis auf die Vampire, die uns vor ein paar Monaten entkommen sind. Das gefällt mir nicht.«

»Such nicht noch nach Ärger«, sagte Delilah. »Zuerst stellen wir uns dem, was direkt vor uns ist. Um die Vampire kümmern wir uns, wenn und falls sie zum Problem werden.« Doch sie warf mir einen besorgten Blick zu, den ich erwiderte. Nach einer Mordserie vor ein paar Monaten liefen immer noch mehrere abtrünnige Vampire frei in der Stadt herum, und so sehr Menolly und Wade - der Vampir, der die Anonymen Bluttrinker leitete -sich auch bemühten, sie hatten sie bisher nicht aufspüren können.

Wir kamen an einem Übertragungswagen von Channel 11 vorbei. Super. Die würden ein paar tolle Aufnahmen von den Goblin-Leichen machen können, ehe Chases Leute alle wegschaffen konnten. Trotz aller Anstrengungen gelang es den Medien doch immer wieder, dahin vorzudringen, wo wir sie am wenigsten gebrauchen konnten. Nicht, dass ich die Pressefreiheit nicht zu schätzen gewusst hätte, aber verantwortungsvolle Journalisten waren eine Seltenheit. Im Lauf des vergangenen Jahres waren wir schon allzu oft in die Schlagzeilen der Boulevardblätter und des Skandalfernsehens geraten. Ich hörte Chase leise fluchen.

Iris räusperte sich. »Ich weiß, es wäre dir lieber, wenn solche Dinge unter Verschluss blieben, und ich verstehe, warum. Aber seit die ersten Portale geöffnet wurden, bilden Menschen und Feen wieder eine Schicksalsgemeinschaft. Neuigkeiten werden sich herumsprechen, und ob es uns gefällt oder nicht: Wir müssen einräumen, dass die Feen auch schlechte Seiten haben, genau so, wie immer wieder faule Apfel der menschlichen Gesellschaft entlarvt werden. Goblins haben einen Polizisten getötet, woraufhin sie ihrerseits ausgeschaltet wurden. Warum sollte das etwas anderes sein als eine Schießerei, bei der ein mit Crack zugedröhnter Verbrecher schließlich von der Polizei niedergestreckt wird?«

»Ich fürchte nur, dass solche Vorfälle Gruppierungen wie den Freiheitsengeln noch mehr Vorwand für ihre rassistischen Angriffe liefern. In deren Augen ist sowieso nur eine tote Fee eine gute Fee. Sie sind fanatische Eiferer und gewaltbereit - eine gefährliche Kombination.« Chase hielt inne und lehnte sich an das Gebäude, an dem wir gerade vorbeigingen. Die James Street war ziemlich steil, wie die meisten Straßen in Seattle, und er war offensichtlich außer Atem.

Während er und Iris ihre Unterhaltung fortsetzten, überkam mich ein seltsames Gefühl - als würden wir beobachtet. Ich drehte mich um. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein großer Parkplatz. Ohne darüber nachzudenken, überquerte ich die Straße, blieb an der Einfahrt stehen und suchte den Platz nach jemandem ab, der uns beobachten könnte.

Und dann sah ich ihn. Sie. Zwei Männer und eine Frau, die neben einem roten BMW standen. Die Frau war bezaubernd schön mit langem, fließendem Haar so schwarz wie die Nacht, einem zart getönten Teint und mandelförmigen Augen, so grün wie aus flüssigen Smaragden. Sie trug ein hellgrünes Chiffonkleid.

Einer der Männer war groß und schlank. Mit dem hellblonden, glatt zurückgekämmten Haar hätte er beinahe zu den Feen gehören können. Sein Gesicht war hager und zerfurcht, doch in seinen Augen glomm ein seltsames Feuer, und ich merkte, dass ich ihre Farbe nicht bestimmen konnte.

Als ich den zweiten Mann ansah, machte mein Herz einen Satz, aber nicht, weil er dermaßen fesselnd aussah. Macht ging in mächtigen Wogen von ihm aus, und mein Instinkt wollte, dass ich sofort ein Versteck suchte. Dieser Mann bedeutete eine Unmenge Ärger.

Und dennoch ... ich konnte den Blick nicht abwenden. Er war groß und kräftig, hatte eine Glatze, und seine Augen waren so dunkel, dass ich das Gefühl hatte, ich könnte hineintauchen und niemals den Grund erreichen. Sein Anzug sah teuer aus, aber ein wenig altmodisch. Der Mann wandte sich mir zu, und langsam breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht.

Die Frau sagte etwas zu ihm, drückte seinen Arm und blieb dann zurück, als er auf mich zukam; die beiden anderen folgten mit einigem Abstand.

Mein Herz hämmerte von dem Alarm, der in meinem Verstand tobte, und ich wäre gern weggelaufen, konnte mich aber nicht rühren. Als er sich langsam näherte, schwand der Drang zu fliehen, und ich konnte den Blick nicht mehr von seinem Gesicht abwenden. Er blickte sich auf dem Parkplatz um. Jetzt um die Mittagszeit herrschte reger Betrieb, Leute eilten auf dem Weg von oder zu ihren Autos an uns vorbei. Sie schienen uns überhaupt nicht zu bemerken.

Er blieb knapp einen Meter vor mir stehen, zog lässig eine Zigarette aus einer Packung und zündete sie an. Vom Gestank nach Tabak und Nelken musste ich husten, doch darunter lag noch ein anderer Duft, der mich wieder in Alarmbereitschaft versetzte.

»Mein Name ist Karvanak. Wer du bist, weiß ich natürlich, aber wie wäre es, wenn du dich mir trotzdem vorstellen würdest?« Er sprach mit einem leichten Akzent. Ich versuchte ihn zuzuordnen, aber dieser Duft, vermutlich sein Aftershave, machte es mir beinahe unmöglich, mich zu konzentrieren.

Und da wurde mir klar, wer das war. Der glatzköpfige Mann roch nach Orangen, Jasmin und süßer Vanille, schon beinahe faulig. Ich stand dem Räksasa gegenüber.