30
Tödliche Gefahr

Ich sitze im Salon Ivana&CefikaHairstyling&Beauty und lasse mir trotz heftiger Proteste Cefikas die Haare platinblond färben.

»Mädchen, wirst du aussehen wie Kopf in Sack mit Puderzucker gesteckt!«

»Ja, genau, platinblond wie eine Weltraum-Blondine.«

»Bist doch ein schönes Mädchen! Warum blond? Willst du Plastikpuppe sein?«

Ich sag »Ja.«

Sie seufzt und macht sich ans Werk. Die Umlackierung dauert, macht aber nichts. Ich habe Zeit mitgebracht und träume vor mich hin. Ivana und Cefika fahren beruflich zweigleisig, da muss ich nicht nachbohren. Schon bei der Begrüßung, »Hallo, ich bin Cefika, setz dich, Spitzen schneiden?« konnte ich ihre Stimme der Rathaus-Putz-Kombo zuordnen. Und obwohl ich mich dafür schäme, kann ich den Gedanken nicht verdrängen, ob ich vielleicht den Putzschlüssel klauen sollte, um im nächtlichen Amt neue Identitätspapiere abzustempeln? Nein, Quatsch, wir haben kein Schlüsselproblem, sondern ganz andere Sorgen, aber an die will ich nicht denken. Abgesehen von den beißenden Gerüchen entspanne ich mich unter Cefikas fachkundiger Behandlung. Nach zweistündiger Sitzung und letzter Föhnung ist klar, es sieht rattenscharf aus.

»Ich nicht gedacht, dass so gut dir steht«, sagt Cefika anerkennend.

Maria macht den Mund einmal auf und wieder zu, als ich mir die Mütze vom Kopf ziehe. Es verschlägt ihr die Sprache, was ich noch nie erlebt habe.

»Wir sehen aus wie Zwillinge. Jetzt hast du die gleiche Frisur wie ich.« Ich grinse sie an.

Ihre knochige Hand umfasst meine, sie zieht mich zu ihrem kleinen Wandspiegel. Ich bücke mich und wir sehen Kopf an Kopf hinein. Eine gewisse Ähnlichkeit ist nicht zu leugnen.

»Du schpinnsch, Tilly«, sagt sie und warnt mich: »Sag jetzt bloß net ›du auch‹.«

Wir trinken einen Abschiedstee und stecken unsere fast identischen Häupter über ihrem vom Weltgeschehen überholten Diercke-Atlas zusammen. Die deutsch-deutsche Grenze und Jugoslawien sind Geschichte, aber der Polarkreis strichelt sich weiterhin da entlang, wo er immer schon war.

»In dieser menschenverlassenen Gegend, wo es hungrige Bären und Polarfüchse gibt, willsch du Skifahren. Oh, Tilly, da isch’s mir net wohl dabei.«

»In zweieinhalb Wochen bin ich wieder da.« Ich gebe ihr mein Geschenk. »Erst an Weihnachten auspacken.« Sechs Geschäfte hab ich abgeklappert. Es ist das schönste Wolltuch, das ich finden konnte.

Gerührt betastet sie den Inhalt. »I hab auch was Weiches für dich.«

Marias Geschenkpapier und das rote Band sehen gebügelt aus, als wären sie schon mehrmals zum Einsatz gekommen. Ich ahne, dass sie Socken für mich gestrickt hat, und ich weiß, dass es ihr nicht mehr leichtfällt.

Wir umarmen uns, und ich streichle ihre Haare.

Die Miene des Chefs entgleist. »Um Himmels willen, Tilly, was soll denn das?«

»Eine modische Veränderung. Sieht doch gut aus.«

Er steht auf Natur pur. Ich nehme zwei Stufen auf einmal, hab’s eilig, in unsere Studierküche zu kommen.

Kolja gerät aus dem Häuschen vor Begeisterung. An Paolos Lächeln erkenne ich, dass er den Grund für meine Verwandlung errät. Sie ist Teil meiner Reisevorbereitung. Jenseits des Polarkreises werde ich die Eisprinzessin sein und mit Marias Zauberhaar alle Gefahren bannen. Ob V. G. Goedel auch dieses Jahr zu seiner Tour in den hohen Norden aufbricht, haben wir nicht in Erfahrung bringen können. Kolja sagt, Goedel dürfe das Land nicht verlassen. Das Ausreiseverbot sei nicht aufgehoben worden. Paolo hat mit unterdrückter Rufnummer in Goedels Sekretariat angerufen und sich als Servicemanager des Aurora Linna Icehotels ausgegeben. Goedels Sekretärin wusste nichts von einer Buchung.

Auf der Fahrt zum Flughafen kommt das Geplauder im Wagen ohne Wortmeldung meinerseits aus. Ich pack das nicht. Mir war bloß wichtig, unsere Weihnachtsgeschenke auf den Küchentisch des Chefs zu legen, ohne dass er es mitkriegt. Von mir kriegt er die Greatest Hits 1970–2002 und Live at Madison Square Garden, beide von Elton John, von Paolo Lederhandschuhe, passend zu seinem dunkelbraunen Anzug, und eine Thermoskanne von Kolja.

Vielleicht freut er sich darüber.

Am Stuttgarter Flughafen schüttelt der Chef zum Abschied Kolja und Paolo die Hände. Ich klammere mich vorsorglich an meinen Taschen fest und bekomme einen Klaps auf die Schulter. »Grüße an Voito.«

»Richten wir aus. Hab schöne Weihnachtstage.«

Als wir die Sicherheitskontrolle hinter uns gelassen haben, fragt Kolja: »Ist er wirklich weg?«

Wir spielen Achtung, der Chef verfolgt uns und ducken uns im Duty-Free-Shop unauffällig hinter den Regalen weg. In der Abflughalle lassen wir uns auf die hintere Dreierbank fallen, strecken die Beine aus und behalten alle Helsinki-Fluggäste im Blick. Fast gleichzeitig fangen wir an zu lächeln. Ich freue mich auf Riski.

»Der erkennt dich doch gar nicht mehr«, frotzelt Kolja.

»Aber dich und Paolo, denn ihr habt euch kein Stück verändert«, sag ich. »Und weil er nicht blöd ist, kombiniert er, dass das blonde, auffallend attraktive Geschöpf an eurer Seite ich sein muss.«

Paolo steckt mir von links einen Kopfhörerstöpsel ins Ohr, Kolja von rechts. Ich höre links Santigold, rechts Seeed und entscheide mich, den Durchsagen zu lauschen. Witzig, ich verstehe alles, auch die dringende Aufforderung an Monsieur Giroud, sich immédiatement beim Air-France-Schalter zu melden.

Beim Anschlussflug nach Ivalo in Helsinki ernten wir andere Blicke als unsere Gangstertruppe beim letzten Mal. Kein Indiz von Schwererziehbarkeit haftet mehr an uns. Wir gehen locker als stinknormale Skitouristen durch und genießen die Reise.

»Seid ihr sicher, dass uns niemand folgt?« Als wir hinter unseren Mitreisenden Richtung Exit herlatschen, sieht Kolja ein letztes Mal zurück und seufzt: »Ich kann’s nicht fassen, ein richtiger Urlaub!«

»Riski hat für uns den Jakobsweg auf Skiern geplant. Pilgern auf Brettern«, erinnere ich ihn.

»Cool, gleiten wir durch die unberührte Natur. Ich sehe das nicht als Strafe an. Zumal ihr im Wechsel meinen Rucksack schleppen werdet.« Kolja grinst triumphierend. »Die Akte M, schon vergessen? M wie Muskelmann, Macker oder Dr. Motta aus Duisburg. Wir haben noch eine kleine Rechnung offen, Freunde.« Er lacht sich schlapp und schmückt aus, wie wir am Ende unsrer Kräfte seine Lasten schleppen.

Zeit dazu hat er, weil Riski noch nicht da ist.

Yack!

Drei Moltebeerensäfte später dreht sich ein fremd anmutender Riski mit Bart in der Halle einmal um die eigene Achse und breitet die Arme aus. Ich fliege hinein.

Blond, Bart, Biathlon … Wir tauschen Neuigkeiten aus, bis uns die Schönheit des Mondscheins auf den weiten Schneeflächen verstummen lässt.

Riskis Blockhaus liegt am Ufer des Inarisees und strahlt eine Art selbst gezimmerte Männergemütlichkeit aus, die Kolja und Paolo sofort begeistert. Ich lege mir ein Fell unter den Hintern.

»Und jetzt erzählt mal, wie seid ihr zu euren sensationellen Noten gekommen?« Riski schaut uns an wie ein harmloser Finne, der sich für erfolgreiche Lernmethoden interessiert.

»Becks Drohung, wir müssten in aller Zukunft vom untersten Sozialhilfesatz leben, hat das bewirkt«, sage ich.

»Dann kann ich seinen Frust nachvollziehen. Ihr unterstützt ihn im Gegenzug nicht bei seiner Arbeit.«

»In der Werkstatt ja, bei seinem Buch nein«, sagt Kolja.

Ich verstehe Riski so, dass er die heiklen Themen vom Tisch haben will.

»Hättest du eine Graugans von Konrad Lorenz sein wollen? Oder ein Schimpanse von Jane Goodall?«, frage ich ihn. »Ich entfalte mich lieber unbeobachtet.«

Das sieht Riski ein, und dann stehen nur noch Brot, geräucherter Fisch, getrocknetes Rentierfleisch, drei Flaschen Lapin Kulta und meine Kanne Tee auf dem Tisch.

Wir reden über Kommissar Mieto, den unaufgeklärten Mord an Sandra, die Spur nach Deutschland, den Einbruch in Lauterstetten … und dann endlich breitet Riski auf der freien Tischfläche eine Karte vom Pasvik Zapovednik Nationalpark aus.

Unsre Ausrüstung für die Schneewanderung ist eine komplette Leihgabe der Skischule Ivalo. Riski hat sie für uns besorgt, und wir testen, ob alles passt und in Ordnung ist, denn morgen früh werden wir aufbrechen.

Direkt vom Haus aus laufen wir los. Paolo vorneweg, gefolgt von Kolja, Riski korrigiert ihre Lauftechnik, und ich zuckle hinterher. Es dauert eine Weile, aber dann klappt es auch bei Kolja.

»Super, Kolja! Morgen läufst du Tilly davon«, lobt Riski.

Kolja dreht sich um und grinst mich an.

Von schräg hinten fällt Sonnenlicht auf den in allen Farben funkelnden Schnee. Es sieht so sauber aus. Ich wünsche mir, auch so rein zu sein wie frisch gefallener Schnee. Meine Haare haben den Anschein von Reinheit, aber der Rest? Wenn ich neu anfangen will, muss ich mich immer wieder neu erfinden können. Das liegt in der Natur der Sache  – selbst Schnee wird dreckig mit der Zeit. Bleibt also zu hoffen, dass der Chef unseren Wunsch nach Diskretion respektiert.

»Tilly, come on!«

Ich bin stehen geblieben.

Vor uns ist eine weite, leicht abfallende Ebene. Riski will ein Rennen fahren, ich sehe es am wölfischen Blitzen seiner Augen. Ich spanne mich an wie eine Feder und laufe los.

»To the grove!«

Riskis ausgestreckter Skistock zeigt auf eine verschneite Baumgruppe circa einen Kilometer weit entfernt.

Glück, Jubel, ich laufe! Nicht direkt auf das Ziel zu, ich laufe einen leichten Bogen nach links. Der Schnee dort ist vom Wind gezeichnet, verharscht. Ich werde leicht und fliege vor mich hin. Zehn Skilängen vor Riski bin ich am Ziel. Er lacht und schmeißt sich in den Schnee. »Oh, Tilly, ich hab dich vermisst!«

Wir warten auf Paolo und Kolja. Letzterer sieht weniger glücklich aus. Zweimal hat’s ihn aus der Spur gehauen. Er keucht: »Morgen zieh ich dich ab.«

»Na, klar«, sag ich.

Paolo redet nicht viel, seitdem wir unterwegs sind, doch seine Nähe spüre ich umso intensiver.

23. 12. 13 Pasvik Zapovednik

Ich stehe auf und hinterlasse im Schnee den Abdruck eines Engels mit ausgebreiteten Flügeln.

Beck taucht plötzlich auf. Sein Gesicht ist riesig, die Augen ernst, sein Mund bewegt sich. Ich verstehe ihn nicht. Ich strenge mich an, und höre ganz deutlich, wie er sagt: Du solltest nicht da sein, Alma.

Luft! Ich kriege keine Luft! Meine Arme sind festgebunden, ich kann mich nicht bewegen. Mein Kopf steckt in einem Sack, ich beiße auf Stoff, will schreien, aber es kommt kein Ton heraus. Ist das ein Traum? Nein, ich träume nicht, das ist real. Wo bin ich? Es dauert eine schreckliche Weile, bis ich begreife, dass ich im Schlafsack stecke, mich verheddert habe. Ich bin völlig verschwitzt und ringe nach Atem, als ich endlich den Reißverschluss ein Stück aufkriege.

»Tilly?«, flüstert Paolo.

Er ist neben mir, und ich rolle mich, so schnell ich kann, dicht an seine Seite. »Ich hab einen furchtbaren Albtraum gehabt.«

»Psst, ist ja gut.« Seine Lippen kitzeln an meinem Ohr.

»Wo sind wir?«

»In der dritten Hütte, meine kleine Obergestörte. Wir sind mitten im Nichts. Vorm Schlafengehen haben wir draußen das gigantischste Polarlicht aller Zeiten bestaunt und die Schönheit der Weltallsuppe bewundert. Weißt du noch?«

»Ja.«

Paolo opfert einen Arm und drückt mich an sich. Außerhalb des Schlafsacks ist es eisig.

»Bitte, steck deinen Arm wieder rein. Der friert sonst ab.«

»Verstecken wir uns hinterm Ofen und ich heiz dir ein?«

Ich spüre einen Stich im Bauch vor Verlangen. Im Ofen schimmert Glut. »Und wenn die aufwachen?« Riski und Kolja atmen geräuschvoll. »Ich trau mich nicht.«

»Was hast du geträumt?«, fragt er.

»Eine alte Geschichte. Dann tauchte der Chef auf und hat gesagt, ich sollte nicht da sein. Er hat mich Alma genannt. Seine Stimme hat geklungen wie die von …«

»Goedel?«

»Ja.«

»Kannst du jetzt wieder einschlafen?«

»Ich versuch es.«

»Besser. du bist ausgeschlafen, sonst zieht dich Kolja morgen ab.« Paolo lächelt, ich höre es an seiner Stimme.

»Er trainiert für Olympia«, murmle ich an seiner Backe.

»Ich trainiere für dich.«

Wie Polarlicht streifen seine Lippen meine. Sonnenwind, mir wird heiß. Mein Herz schlägt schnell und stark.

Holz nachlegen und Wasserkessel aufstellen. Heute verwöhne ich die Kerle mit heißem Kaffee direkt an den Schlafsack. Nirgendwo schmeckt er besser.

»Kiitos!« »Danke.« »Super.« »Hmm.« »Schlürf.«

Ich lächle und lausche dem Sound der Dankbarkeit. Der riesige Nationalpark wird von finnischen, norwegischen und russischen Wildhütern betreut, und der geniale Riski hat sie gebeten, Vorräte in den Hütten entlang unserer Route zu bunkern. Holz, Wasser und Lebensmittel sind reichlich vorhanden. Gastfreundlichkeit ist kein Ausdruck, die Hütten stehen für alle offen. Wir müssen nur unser Zeug schleppen. An jedem Abend und Morgen bin ich froh, wenn sich die Wärme ausbreitet.

Riski und Paolo reiben sich draußen mit Schnee ab. Ich würde erfrieren. Deshalb schicke ich die Kerle nach dem Frühstück raus und nehme warmes Wasser.

Kolja behauptet, weder zu schwitzen noch zu schmutzen und sich den Hintern beim Kacken im Schnee regelmäßig und nachhaltig zu reinigen. Wenigstens putzt er die Zähne – nachweislich.

Ich fege, schließe den verzogenen Fensterladen und zieh die Tür hinter mir zu. Die Hütte steht am Rand eines Fichtenwaldes. Die selteneren Birken liebe ich mehr. Sie haben Gesichter, es sind seltsame Gestalten in der einsamen Eislandschaft. Bei besonders wesenhaften Exemplaren erzählen wir uns Geschichten und knüpfen Beziehungen zwischen ihnen und besonders bizarren Schneehauben auf Fichten in ihrer Nähe.

Die Stimmung in unsrer Truppe ist sehr gut.

Paolo und Kolja laufen vorne, dann Riski, der neben dem Rucksack ein Gewehr zu unserem Schutz trägt.

Neben mir rieselt Schnee vom Ast. Ein Vögelchen ist da gelandet und sieht mich neugierig an.

»Kuck mal, ist das eine Meise?«, rufe ich Riski nach.

Das Vögelchen zeigt keine Scheu, als wir uns unterm Ast versammeln. Es ist braungrau mit einem rötlichen Bauch und rötlichen Schwanzfedern.

»Das ist ein Perisoreus, ein Unglückshäher«, erklärt Riski.

»Er hat gar keine Angst«, sage ich. »Vielleicht hat er Hunger?« Der Vogel sieht mich direkt aus dunklen Augen an.

»Dann rück dein Sandwich raus. Ich will nicht, dass er uns nachfliegt.«

Er klemmt meine Stulle zwischen Stamm und Ast.

»Wieso Unglückshäher?«, fragt Paolo.

»Die Samen sagen das.« Riski verzichtet auf ausführliche Erklärungen, ganz gegen seine Art. »Weiter geht’s.«

Wir laufen zwei Stunden ohne Unterbrechung und reden fast nichts, bis Rotorblätter mit lautem Knallen die Stille zerreißen. Ein Helikopter landet in unserer Fahrtrichtung.

Irgendetwas sagt mir, dass exakt da, wo er steht, unser vergnügtes Abenteuer endet. Ich erhasche Riskis Blick und ahne, dass ein furchtbares beginnt.

»Ist das ein Polizeihelikopter?«

Er nickt. So angespannt habe ich ihn noch nie gesehen, nicht bei der Suche nach Sandra und auch nicht, als wir sie gefunden haben. Sandra, Pseudo-Ingo-Feist, Tilly, Julie. Vier Tote. Ich kann nichts anderes denken, es ist wie eine Beschwörung: vier Tote.

Als die Rotorblätter stehen, knallen sie in meinen Ohren nach. Wir setzen uns wie in Trance in Bewegung. Erst als ich den Schnee unter mir knirschen höre, wird es wieder still. Der Polizeipilot springt in den Schnee.

Er ist allein und winkt. Es muss etwas passiert sein, aber das ist ein gutes Zeichen, rede ich mir ein.

Er stapft uns entgegen und muss die Angst in unseren Gesichtern sehen, denn er ruft: »Don’t be afraid. Nobody’s dead!«

Riski ist zuerst bei ihm. Finnisch … Man versteht einfach kein Wort! Riskis Haltung entnehme ich allerdings, dass er voll im Beschützermodus ist, und mir wird schlagartig bewusst, dass ich im Gegensatz zu ihm keine Sekunde angenommen habe, die Polizei könnte hinter uns her sein.

»Can you speak English, please?« Paolos Stimme ist absolut ruhig.

»Tell them the whole story«, sagt Riski und schnallt seine Skibindung auf. Ein deutliches Signal, dass wir mitfliegen werden. Paolo wirft seinen Rucksack in den Schnee.

»My name is Antti.« Wir erfahren von Antti, dass Michael Beck in seiner Bibliothek eine blaue Mappe gefunden hat.

Er sieht uns schweigend an. Paolo, Kolja und ich wechseln einen Blick, dann nicken wir.

»Um was geht’s dabei?«, fragt Riski laut.

»Um mich«, sage ich.

Beck habe versucht, uns anzurufen, erzählt Antti. »No way. Dead spot.«

Er unterbricht sich und verhandelt irgendwas mit Riski. Wir verstehen kein Wort mehr.

»Please«, sage ich. Paolo nimmt meine Hand.

Beck habe auch versucht, Eenu Mieto zu erreichen, sagt Riski. »Aber der verbringt die Winterferien mit seiner Familie im Blockhaus. Also hat Beck einen Flug gebucht und im Kommissariat in Ivalo über Polizeifunk Kommissar Mieto von der blauen Mappe berichtet. Mieto weiß von Beck, dass es sich um einen ungeheuerlichen Materialfund handeln soll, der Verbindungen zum Mord an Sandra nahelegt – womöglich ausgeführt von einem gewissen Victor Georg Goedel.«

Mir ist schlecht. Jetzt wird alles noch viel schlimmer, und ich bin schuld. Ich Idiot! Ich hätte den Scheiß verbrennen sollen!

Antti treibt uns zur Eile an, und wir laden unsere Ausrüstung in den Helikopter, während er weiterspricht.

»Kommissar Mieto und Mister Beck waren im Kommissariat verabredet. Mieto hatte einen weiten Weg vor sich und ist erst heute Morgen angekommen. Keine Spur von Mister Beck. Mieto hat von einem Kollegen erfahren, dass Beck gestern Nachmittag zunächst im Kommissariat gewartet hat und dann abends, zur Untätigkeit verdammt, im Aurora Linna Icehotel eingecheckt hat.«

Ich halte mich an Paolo fest. Antti spricht schnell.

»An der Wodka-Bar hat Beck sich mit einem eleganten Herrn mit Pilotenmütze aus Kojotenfell und langem Kojotenfellmantel unterhalten. Laut Barkeeper haben sie über den Vorzug von Pelzen und Alkohol bei arktischen Temperaturen gesprochen, über Immobilien, die Branche des Manns mit dem dicken Fell, und über Becks Arbeit. Der Barkeeper hat mitbekommen, dass Beck von einem Buchprojekt über drei Jugendliche erzählt hat, und er hat den Eindruck gewonnen, dass Beck ausführlich von seinem spannenden Recherchen-Material berichtete. Der Barkeeper hat jedenfalls interessiert zugehört, genau wie der Mann im Kojotenfell-Outfit, der nicht nur ein guter Zuhörer, sondern auch sehr trinkfest gewesen wäre. Beck und der Trinker seien mit einer Flasche teurem Wodka vor die Tür gegangen und hätten sich das spektakuläre Polarlicht angesehen. Die Rechnung über 490 Euro hat der Mann im Kojotenfell beglichen.«

»Was ist mit Beck passiert?«, frage ich Antti leise.

Riski lässt mich nicht aus den Augen.

»Kommissar Mieto hat Beck in der Future-Drive-Suite gefunden  – ohne seinen Hotel-Schlafsack. Beck war bewusstlos und stark unterkühlt. Fremdeinwirkung ist wahrscheinlich. Die blaue Mappe, die er im Kommissariat noch hatte, ist verschwunden.«

Panik. Hitze und Kälte wechseln sich in schneller Folge ab. »Wie geht’s ihm?«, frage ich im Bemühen, sachlich zu bleiben.

»Man hat ihn ins Krankenhaus von Ivalo gebracht. Sein Zustand ist kritisch.«

»Und was ist mit dem Mann im Kojotenfellmantel?«

»Es ist ein Stammgast des Hotels. Er kommt jedes Jahr. Mister Goedel ist zu einer nächtlichen Fahrt mit dem Schneemobil aufgebrochen. Vier Ersatzbenzinkanister fehlen. Wir nehmen an, er ist irgendwo im Gelände unterwegs. Goedel wird gesucht. Seine Identität scheint mit der Person des Mannes übereinzustimmen, von dem in den Akten die Rede war, die Michael Beck dem Kommissar übergeben wollte.«

Mein Albtraum. Der Unglückshäher.

»Kommissar Mieto sagt, du bist in Gefahr. Wieso? Wer ist der Kerl?« Riski zieht mich an der Hand in den Helikopter.

»Er ist mein Vater. Und er will mich umbringen.«

Ungläubig starrt Riski mich an.

Kolja murmelt ununterbrochen: »Jetzt ist er dran. Jetzt ist Schluss. Jetzt kriegen sie ihn und er geht endlich in den Knast!«

Der Helikopter hebt ab. Ich lehne meinen Kopf ans Fenster, dankbar über den Höllenlärm, weil ich nichts mehr hören will. Wir fliegen die Strecke zurück, die wir gelaufen sind. Irgendwo da unten flattert der kleine Unglückshäher herum, satt und zufrieden. Zwischen den Bäumen taucht die Hütte auf, in der wir übernachtet haben. Mit dem Ärmel wische ich die beschlagene Scheibe klar und sehe hinunter. Der Fensterladen ist geöffnet. Ich habe ihn zugemacht, bevor wir gegangen sind.

»Der Fensterladen!«, brülle ich Riski ins Ohr. Antti spricht in sein Funkgerät und setzt zur Landung an.

Keine Rentierspuren im Schnee. Ich sehe nur unsere.

»Kopf runter! Ihr rührt euch nicht«, sagt Riski.

Er und Antti beobachten die Hütte. Es tut sich nichts. Der Pilot entsichert seine Pistole, dann steigen sie aus und laufen geduckt am Waldsaum entlang.

»Es könnte immer noch ein Skitourist sein«, sagt Kolja.

Ich schüttle den Kopf und zeige zur Fenstertür auf der Pilotenseite. Alles erscheint mir unwirklich, auch das weißblaue Schneemobil hinter der Hütte, halb unter Zweigen verborgen. Eng aneinandergepresst kauern wir so geduckt wie möglich hinter den Vordersitzen und lugen hinaus. Ich muss sehen, was los ist. Mein Herz hämmert. Ich denke an die gepresste Stimme des Chefs: Du solltest nicht da sein, Alma.

»Ich hab Angst«, flüstere ich. Paolos und meine Hand sind zusammengeschweißt, er hat mich keine Sekunde lang losgelassen und verstärkt den Druck.

Antti und Riski haben das Schneemobil entdeckt und halten sich kurz dort auf. Dann bewegen sich beide vorsichtig weiter Richtung Hütte. Riski gibt dem bewaffneten Piloten mit seinem Kleinkalibergewehr Rückendeckung. Alles geht wahnsinnig schnell: Antti nähert sich von der Seite der Hütte, duckt sich unter dem Fenster weg, ruft etwas und stößt die Tür auf.

Ein Schwall ergießt sich über ihn und er steht in Flammen.

Während wir alle entsetzt aufschreien, wälzt Antti sich im Schnee. Und dann ist da plötzlich ein Mann im Fell mit einem Kanister in der einen Hand. Er bückt sich und nimmt Anttis Pistole in die andere Hand.

Wieder gießt er eine Flüssigkeit auf den hilflos daliegenden Antti. Es muss Benzin sein, denn er entfacht die Flamme damit von Neuem und schreit Riski an: »Put the gun down.«

Goedels Stimme. Er ist es.

Riski rührt sich nicht.

Goedel zündet ein Streichholz an.

Riski rührt sich nicht.

Das Streichholz erlischt im Schnee. Goedel bückt sich, lässt Riski nicht aus den Augen und zieht Antti an der Schulter Richtung Hütte. Der stöhnt qualvoll auf.

Nur einmal und nur ganz kurz richtet sich Goedel auf.

Und da schießt Riski.

Ein kurzer Schrei, und Goedel bricht über Antti zusammen. Wir springen aus dem Helikopter und rennen alle gleichzeitig los.

Riski ist zuerst bei Goedel, nimmt die Pistole an sich, zieht ihn von Antti runter und brüllt uns an: »Stopp!«

Wir verharren, atemlos. Ich kann meinen Blick nicht von dem Mann lösen. Er liegt auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet.

Riski stürmt in die Hütte. Als er wieder herauskommt, zieht er einen schweren Rucksack hinter sich her und ruft: »Die Hütte ist leer! Kommt her!« Er zeigt auf Antti: »Kümmert euch um ihn.«

Wieder nähert sich ein Hubschrauber mit Getöse.

Ich kann kaum gehen. Der Mann im Pelz starrt mich an. Seine Mütze ist verrutscht. Ich weiß, dass es Goedel ist, aber ich erkenne ihn nicht. Er röchelt und starrt mich an, dann fallen ihm die Augen zu.

»Verstehst du, was er sagt?«, ruft Paolo mir zu.

Antti stöhnt und stößt Laute aus. Nein, ich verstehe nichts und denke, so ist es im Krieg. Stöhnen, Schreie, Hubschrauber und Schüsse.

Riski lässt Goedel nicht aus den Augen und gibt uns Anweisungen. Ich kriege mit, dass es um Anttis Augen geht. Riski will, dass er sie geschlossen hält.

Ich setze mich neben Antti und lege ihm meine kalten Hände über die Augenlider, ohne ihn zu berühren. Ganz leicht, wie die Flügel eines kleinen Vogels.

»Lauf rüber und sag ihnen, dass wir zwei Verletzte haben!«, brüllt Riski.

Kolja rennt zu dem Hubschrauber, der gerade landet.

Riski rührt sich nicht von der Stelle. Anttis Waffe liegt in seiner Hand, entschlossen auf Goedel gerichtet. Sein Gewehr hat er wieder geschultert.

Ich lasse meine Hände auf Anttis Augen. Er zittert nicht mehr so stark, atmet etwas ruhiger. Sein Gesicht ist rot und verzerrt. Ich konzentriere mich so sehr auf ihn, dass ich das Stöhnen des anderen, als man ihn auf die Trage hebt, fast nicht höre.

Riski nimmt den fremden, schweren Rucksack mit und begleitet die Trage.

Zwei Männer, die mit dem anderen Helikopter gekommen sein müssen, legen Antti auf eine zweite Trage. Er schreit gellend, voller Not und Schmerzen.

Mir laufen Tränen übers Gesicht. Ich stehe auf und blicke auf die Stelle, wo der Mann im Kojotenfellmantel gelegen hat. Goedel.

Im Schnee ist ein Abdruck zurückgeblieben.

Mit ausgebreiteten Armen.

In der Mitte eine Blutspur.

Am Rand zertrampelt.

Der Hubschrauber hebt mit den Verletzten und Riski ab.

Lärm und Gewalt sind in unsere Stille eingebrochen.

Wie viel Zeit ist vergangen?

Wir sollen mit einem Polizisten warten, den wir nicht verstehen. Er spricht Russisch, Karelisch und Finnisch. Und er ist kein Pilot, so viel ist klar. Sonst müssten wir nicht hier bleiben.

»Man sollte den Fensterladen zumachen.« Sie lassen uns nicht in die Hütte rein. »Und das Benzin rausholen.«

Kolja zupft den Polizisten am Ärmel und zieht ihn zur Hütte. »Benzin, fuel, petrol, gas, benzine, motor spirit.«

»Soll einer kommen und sagen, wir hätten mit unserem mittleren Wissen keine Mittlere Reife verdient«, murmelt Paolo.

Derweil schließt Kolja pantomimisch den Fensterladen und zeigt dem Polizisten Goedels Schneemobil.

Der macht uns verständlich, dass dies ein Tatort ist, der nicht aufgeräumt wird. »Poliisi.« Seine Gesten sind beschwichtigend, die Polizei wird sich darum kümmern.

Wir warten im Helikopter.

Draußen wird alles blau. Endlos blau. Eine der Farben des Schnees und des Todes. Es ist wieder sehr still.

Der Himmel steht offen. Keine Wolken.

Erste blasse Sterne.

Paolo sitzt dicht rechts neben mir und sagt: »Wir bleiben zusammen.«

Dicht links neben mir sagt Kolja: »Das steht fest.«

Paolo: »Ich lass dich nicht allein.«

Kolja: »Ich lass dich auch nicht allein.«

Paolo: »Ich meine es anders.«

Ich weiß, wie er es meint.

Kolja: »Ich auch.«

Ja, ich weiß, dass er es anders meint als Paolo. Beide verstärken den Druck. Ich schluchze auf.

Aber nur kurz, weil es guttut zu wissen, dass wir zusammenbleiben. Ich habe sonst niemand.

Der Polizist auf dem Vordersitz dreht sich um. Seine Augen sind schwarz vor Trauer.

Eine halbe Stunde später landet ein Polizeiteam mit einem zusätzlichen Piloten. Er steigt vorne ein.

»Up we go. They are waiting for you.«

Wer oder was wartet auf uns? Mit Getöse steigen wir auf.

Über dem Pasvik Zapovednik Nationalpark rühren die Rotorblätter in der giftigen Weltallsuppe. Ein gelbgrün leuchtendes V windet sich über den nächtlichen Himmel und dreht sich, wo es zusammentrifft, zu einer Spirale.

Morgen ist der 24. Dezember. Der Heilige Abend. Weihnachten steht vor der Tür.

In Ivalo landen wir vis-à-vis des Kommissariats. Riski, Kriminalassistent Harald Hultmann und Kommissar Eenu Mieto erwarten uns bereits vor der Wache.

Wir fangen an zu laufen.

»Wie geht es Beck?«, fragt Paolo.

»Er ist über den Berg. Er hat Glück gehabt«, sagt Riski.

»Können wir zu ihm?«

»Morgen. Macht euch keine Sorgen, er ist nicht mehr in Lebensgefahr. Wir haben exzellente Spezialisten für Hypothermie.«

»Und Antti?«, frage ich.

»Er ist stark«, sagt Riski bedrückt. »Die Ärzte kümmern sich um ihn. Kommt rein.«

Eis und Feuer. Der Mann im Kojotenfell kämpft mit äußerster Brutalität und extremen Mitteln. Ich frage nicht nach ihm.

Mieto nickt mir zu. Hultmann hält die Tür auf.

»Habt ihr Hunger? Durst?«, will Hultmann wissen.

»Wir gehen nachher mit Riski essen«, sagt Paolo, als ob das seit Langem feststünde.

Im Kommissariat hat man etwas anderes geplant. Wie bei einer russischen Hochzeit biegt sich der Tisch im überheizten Besprechungsraum unter Schnittchenplatten, Tee- und Kaffeekannen, Aufnahmegerät und Mikrofonen. Es sieht nach einer langen Sitzung aus, und ich beschließe, alles dafür zu tun, dass es schnell geht.

»Haben Sie hier Trainingsanzüge?« Wir kommen aus der Kälte, stecken in Skianzügen.

Daran hat niemand gedacht. Für finnische Verhältnisse bricht Hektik aus. Drei der elf Leute, die außer Riski und uns hier herumwieseln, verlassen gleichzeitig den überfüllten Raum. Rechnet man das Team bei der Hütte mit, muss die gesamte Polizei Lapplands im Einsatz sein.

Erste Schweißtropfen treten mir auf die Stirn. Den Jungs geht’s nicht anders, also ziehen wir uns aus. Die Funktionsunterwäsche tut’s auch. Mieto und Hultmann mustern mich, als wäre ich im letzten Jahr gewachsen und erblondet.

Ich klemme mich auf den Stuhl, die Beine unter den Tisch, trinke Tee und hab das dritte Schnittchen verputzt, als das allgemeine Stühlerücken beginnt. Zweite Tasse, viertes Schnittchen. Der Unglückshäher hat meins gefressen. Ich hab Hunger und ich muss nachdenken.

Paolo rechts und Kolja links grübeln auch.

»Willst du’s durchziehen?«, fragt er leise.

Ich nicke.

Vor Mieto liegt eine dicke blaue Mappe. Er hat Fragen zum Alma-Marter-Material.

»War die Mappe bei Herrn Beck?« Wie ein Echo übersetzt Hultmann meine Frage ins Finnische.

»Nein.« Keine weitere Erklärung.

»Darf ich?« Ohne auf Zustimmung zu warten, ziehe ich die Mappe zu mir und schlage sie auf.

»In den ersten sechs Büchern sind nur meine Panikattacken und Albträume notiert.« Ich lege sie zur Seite. »Für mich war das überlebensnotwendig. In meinem Leben ist nicht viel gut gelaufen. Meine Erinnerungen an das, was ich für mein Elternhaus gehalten habe, sind Erinnerungen an Misshandlungen, Suff und Gestank. Bis vor ein paar Monaten habe ich gedacht, es seien meine Familie, meine Eltern und meine acht Geschwister. Aber das sind sie nicht.«

Ich ziehe das Panik-am-Polarkreis-Buch aus dem Stapel. »Ab 2009 war ich in verschiedenen Heimen und psychiatrischen Anstalten. Alle dachten, ich würde unter paranoidem Verfolgungswahn leiden. Ich glaubte es auch, bis Sandra Seiwert erschossen wurde. Da wurde mir klar, dass ich an ihrer Stelle hätte sterben sollen. Ich wusste nur nicht, wieso.«

Niemand unterbricht mich, als ich erzähle, wie ich zu Ingo Feists GDS-Telefonnummer gekommen bin. Alles, was wir über die GDS gesammelt haben, übergebe ich Kommissar Mieto.

»Ich wollte, dass Sandras Mörder mich für tot hält und hab damit das Gegenteil erreicht. Er hat auf mich geschossen und ist dabei ins Eis eingebrochen.« Ich berichte von meiner Krise nach dem Blick ins Gästebuch des Eishotels und zeige Mieto das eingeklebte Foto.

»Nach dem Camp hat Michael Beck uns aufgenommen. Das war mein Glück. Trotzdem lebte ich ständig in Angst. Dann kam die irritierende Nachricht, woher Ingo Feists Papiere stammen. Und vor unsrer ersten Prüfung habe ich unter den Arbeitsblättern von Herrn Becks Vater das hier gefunden.«

Ich lasse die Liste IV. Nicht identifizierte Leichenfunde 2000–2010, Nr. 79-W-6-091019 herumgehen.

»Michael Becks Vater war Rechtsmediziner. Ich kannte den Ort, an dem das tote Mädchen gefunden wurde, und hatte eine furchtbare Ahnung. Beck hat mir erlaubt, zu meiner Schwester und meiner Tante zu fahren. Von ihnen habe ich erfahren, dass Tilly Krah am 16. Februar 2004 an Herzversagen gestorben war. Kathrin Krah, Tillys Mutter, hat sie in einer Wäschekiste am Waldrand eingegraben. Sie dachte, es würde nicht auffallen, wenn eins ihrer neun Kinder fehlt, und wollte weiter das Kindergeld kassieren. Mich hat die älteste Tochter Daniela in der letzten Aprilwoche aus dem Hühnerstall gezogen. Die Krahs wohnen außerhalb von Eichwitz. Das ist ein kleines Dorf. Niemand wusste, wer ich war oder woher ich kam. Ich war etwa so groß wie Tilly und konnte nicht sprechen. Sie haben mich als Tilly ausgegeben und bei sich behalten. Seitdem bin ich Tilly Krah. Was vorher war? Daran habe ich keine Erinnerung, da ist nichts als Panik und Albträume.«

Die Zunge klebt mir am Gaumen und ich trinke Tee. Um mich ist fassungsloses Schweigen. Ich sehe Paolo an.

Er sagt: »Weiter so.«

»Nach meinem Heimatbesuch war ich in einer absolut katastrophalen Verfassung. Riski hat mir geraten, mich Paolo und Kolja anzuvertrauen. Das hab ich gemacht. Paolo hat im Internet nach vermissten Mädchen recherchiert und das gefunden.«

Ich reiche Mieto den Ausdruckt der Vermisstenanzeige von Alma Goedel über den Tisch. »Der Name Goedel war mir durch den Gästebucheintrag bekannt. Ansonsten alarmierte mich die Tatsache, dass er ausgerechnet hier im örtlichen Eishotel im Urlaub war, aber ich hatte keinerlei Erinnerung an ihn. Nichts. Wir haben ununterbrochen gelernt und nach unserem 1A-Zeugnis wurden wir zur Mittleren-Reife-Prüfung zugelassen. Beck hat sich darüber gefreut und uns einen Französischkurs spendiert. Wir haben einen in der Nähe vom Herrenhaus Flusshorst ausgewählt. Eine Woche lang haben wir Französisch gebüffelt, dann sind wir dorthin. Nachts. Ich hab das Haus erkannt, wie ich Ivalo wiedererkannt habe, das ist alles. Wir sind drumherum geschlichen und haben dabei den Alarm ausgelöst. Ein Dienstwagen der GDS, der Gesamtdeutschen Security, ist angerauscht gekommen und wir sind durch den hinteren Garten Richtung Wald abgehauen. Erst das hat bei mir eine Art blitzhaften Erinnerungsschub ausgelöst.«

Mir ist kalt. Ich drehe mich um und nehme der Polizistin, die seit Minuten an der Tür steht, die Trainingsjacke und Hose aus der Hand und zieh sie über. Ihre Augen quellen vor Mitgefühl über. Genau das muss aufhören, denke ich. Mein Leben als Opfer ist vorbei.

»Am 30.  März 2004 hat Victor Georg Goedel, mein Vater, Julie Thompson vor meinen Augen auf die Steintreppe bei der Jagdhütte geschleudert. Bei ihrem Streit ging es um mich. Seitdem ich denken kann, hat mein Vater mich misshandelt und vergewaltigt. Er ist sehr gewalttätig. Ich bin weggerannt. Er hat mich verfolgt. Unterm Bahndamm waren Hohlräume, da hab ich mich versteckt und in die hinterste Spalte gequetscht. Ich hörte ihn schreien, dass er mich totschlägt, wenn ich rede. Etwas später hat er Julie in mein Versteck geschleppt und den Eingang mit Steinen dicht gemacht. Julie war tot. Diese Nacht hat sich wie eine Endlosschleife in meinen Albträumen wiederholt. Nacht, Steine, Panik. Am Morgen fiel an einer Stelle Licht herein und ich habe angefangen, Steine herauszuziehen. Teile sind eingestürzt, aber ich bin rausgekommen und gelaufen. Sehr lange und sehr weit, bis zum Hühnerstall der Familie Krah.«

Stille. Nach einer Weile fragt Mieto: »Warum bist du nicht zu Mister Beck oder zur Polizei gegangen, als dir das alles wieder eingefallen ist?«

»Wir haben in Foren gebloggt, unterm Bahndamm würden Leichen liegen, bis irgendwelche Leute, die Goedel nicht mit mir in Verbindung bringen konnte, angefangen haben zu suchen. Julie wurde gefunden, Goedel jedoch nicht verhaftet.«

Vor mir liegen die Presseberichte. Ich schiebe sie ihm hin.

»Die Aussagen eines psychisch als gestört geltenden Mädchens gegen die besten Strafverteidiger des Landes bewirken nicht viel. Viele Leute arbeiten für Goedel, vielleicht auch die Staatsanwaltschaft in Frankfurt. Er wusste lange vor mir, dass Tilly Krah in Wirklichkeit Alma Goedel ist. Seit der Zeit, als man das unbekannte Mädchen im Wäschetruhengrab gefunden hat, bin ich verfolgt worden. Vermutlich hat mich Goedel schon ab diesem Zeitpunkt von den GDS-Leuten beobachten lassen.«

Kolja zeigt Mieto den Anhang an der Liste IV, Goedels Briefwechsel mit dem Institut für Rechtsmedizin in Leipzig.

»Wir haben gehofft, er fürchtet, es könnte herauskommen, dass ich nicht Tilly Krah bin, wenn er mich in Deutschland umbringen lässt. Um sicherzugehen, dass das alles unentdeckt bleibt, hätte er ja die ganze Familie Krah aus dem Weg räumen müssen.«

Von Goedels Versuch, mich zu entführen, erzähle ich nichts. Ich hab es Paolo und Kolja nicht erzählt, und ich habe Angst, dass sie mir nie mehr vertrauen, wenn sie es auf diesem Weg erfahren.

Es wird still. Niemand sagt oder fragt etwas. Alle wirken geschockt. Die Augen der Polizistin sind gerötet.

»Was für eine Geschichte«, sagt Hultmann mitgenommen.

»Ich muss mich darauf verlassen können, dass niemand von Ihnen über das, was ich Ihnen erzähle, mit Personen außerhalb der Ermittlungen spricht. Es ist meine Geschichte und ich will sie nicht in der Zeitung lesen.«

Hultmann übersetzt das Mieto. »Die Nachricht, dass Alma Goedel lebt, wird sich nicht vermeiden lassen.«

»Tilly Krah hat ein Grab auf dem Friedhof verdient. Aber über meine Identität als Tilly Krah sollte nichts an die Presse gehen.«

Schwierig. Mieto und Hultmann schauen mich ratlos an. Ich hab genug gesagt.

»Wieso seid ihr hierhergekommen?«, fragt Mieto.

»Wir wollten Riski wiedersehen«, sagt Paolo. »In der Zeitung stand, dass Goedel das Land nicht verlassen darf, solange die Untersuchung zum Tod von Julie Thompson noch läuft.«

Kolja ergänzt: »Wir haben in kurzer Zeit zwei Prüfungen abgeschlossen und das nur, weil wir eine bessere Zukunft haben wollen. Und dann erfahren wir, dass Michael Beck ein Buch über uns schreibt! Dass wir nur Nachteile haben, wenn er den alten Scheiß über uns veröffentlicht, ist ihm egal. Er hat uns nachgeschnüffelt. Und dann hat auch noch jemand Becks Haus fotografiert, mit Frankfurter Kennzeichen, wahrscheinlich einer von der GDS. Da mussten wir einfach weg«, ergänzt Kolja.

»Ihr hättet mit Herrn Beck reden sollen«, sagt Hultmann.

»Ich hab’s versucht, aber er hat den falschen Leuten vertraut, nicht uns. Sollen wir uns dafür jetzt verteidigen?«, frage ich Hultmann. Der schüttelt den Kopf.

»Victor Goedel ist brutal und absolut rücksichtslos. Sie sollten seine Verbindung zur GDS untersuchen, und was die und Goedel mit der Staatsanwaltschaft in Frankfurt zu tun haben. E-Mails, Auftragsbestätigungen, Rechnungen, was weiß ich  – alles was die Polizei rauskriegen kann. Da muss doch Geld geflossen sein! Goedel ist einflussreich und die GDS stellt seine Handlanger. Wie wäre der Mörder von Sandra sonst an die Papiere von Ingo Feist und das GDS-Handy gekommen? Und wer ist Sandras Mörder überhaupt? Einer von der GDS? Wenn die erfahren, dass Goedel in ernsthaften Schwierigkeiten ist, lassen die alles Beweismaterial verschwinden!«

»Wir brauchen noch eure Aussagen zum Vorfall an der Hütte«, sagt Hultmann.

Es ist uns klar, wie wichtig es für Riski ist, dass wir den Ablauf genau schildern und ihn damit entlasten.

Paolo beginnt mit Anttis Schilderung, was in der Nacht zuvor im Eishotel passiert ist. Dann der Flug zur Hütte, der offene Fensterladen, die Landung. Minuziös schildert Paolo von der Landung an, wer was und wann getan hat.

»Goedel konnte nicht wissen, dass wir im Helikopter waren, denn auf Riskis Befehl hin haben wir uns runtergeduckt. Vielleicht hat er den Hubschrauber über dem Park gehört, seine Landung mitgekriegt und kombiniert, dass wir da drin sind. Aber wieso hat er so brutal agiert? Wer macht denn so was? Wie er Antti das Benzin ins Gesicht geschüttet hat, das war so was von kaltblütig, das war versuchter Mord! Wieso hat Goedel das gemacht?« Paolo verstummt, schüttelt den Kopf. »Hätte Riski nicht geschossen, wären wir jetzt alle tot. Erschossen, verbrannt, was weiß ich.«

»Riski hat in der einzigen Sekunde geschossen, in der Antti nicht in der Schusslinie war und bevor Goedel ihn als Geisel in die Hütte schleppen konnte«, sagt Kolja ruhig.

Hultmann blickt mich an. »Ist dir noch was aufgefallen?«

»Nein, genau so war’s«, sage ich. »Voito Riski hat uns das Leben gerettet.«

»Sie hätten sehen sollen, wie Goedel Tilly angestarrt hat, als er auf dem Boden lag. Sie hätten seinen Blick sehen sollen!« Paolo springt auf. Er ist kurz vorm Ausflippen. Tränen laufen ihm übers Gesicht. »Haben Sie noch Fragen? Ich finde, wir brauchen dringend mal eine Pause.«

Mieto nickt und wir ziehen unsre Schneeanzüge an. Ich stecke meine Panikbücher in den Rucksack.

»Die bleiben hier«, sagt Hultmann.

»Nein.« Obenauf liegt das Panik-am-Polarkreis-Buch. Ich reiße das Foto vom Gästebucheintrag raus und lege es mit der Liste des alten Dr. Beck auf den Tisch. »Dieses Foto haben wir letztes Jahr am 14. Dezember fotografiert. Das ist vielleicht so was wie ein Indiz für den Ablauf, den ich Ihnen gerade erzählt habe. Das Original ist im Gästebuch des Eishotels. Michael Beck hätte meine Tagebücher niemals an sich nehmen dürfen. Sie gehören mir. Das sind Sie mir schuldig.« Sechs Pizzaschachteln stapeln sich auf Riskis rustikalem Tisch. Im Kamin brennen meine Panikbücher. Das trockene Holz darüber beginnt zu knistern. Es ist ein wohltuendes Feuer. Die Suche nach Geheimverstecken ist vorbei, es drohen keine entsetzlichen Folgen mehr, weil alles Verstecken nichts bringt.

Keiner sagt was, wir sehen nur zu.

Auf dem Weg zu Riski haben wir einen Zwischenstopp im Krankenhaus gemacht.

»Ich will keinen Krankenbesuch machen«, hab ich Riski angefleht. »Ich bleib im Auto.«

»Nein, du bleibst nicht allein im Auto, wir bleiben alle zusammen. Ich rede nur kurz mit den Ärzten.«

Am Ende des Flurs, keine zehn Meter von seinem wachsamen Blick entfernt, mussten wir auf der Bank auf ihn warten. Es war gut zu erfahren, dass Anttis Augen durch den Schutzreflex der Augenlider unverletzt geblieben sind. Beck besuchen wir morgen. Er hat eine schwere Lungenentzündung.

»Was ist mit Goedel?«, hat Paolo gefragt, als wir vor dem Pizzaladen standen.

Riski hat mich prüfend angesehen. Hätte ich gesagt, dass ich es nicht wissen will, hätte er geschwiegen. Aber ich wollte es auch wissen.

»Sie haben ihn operiert, er liegt auf der Intensivstation. Der Arzt sagt, er hat Überlebenschancen.«

Jetzt brennt nur noch Holz. Die Panikbücher sind Asche, Rauch, Vergangenheit.

Riski zerteilt die erste Pizza mit seinem Finnmesser. »Was machen wir morgen?«

»Fauna.« Kolja hat seine Zähne bereits in die Pizza geschlagen.

»Ich gehe nicht mit euch in die Sauna. Nicht mal an Heiligabend!«, protestiere ich.

»An Natale gehen alle kriminellen Mafiosi in die Kirche. Ich bin da keine Ausnahme. Morgen gibt’s kein Fleisch, sondern Meeresfrüchte und Kuchen. Weil es hier keinen Panettone gibt, essen wir eben irgendeinen harten finnischen Kuchen.« Paolo hat klare Vorstellungen.

Riski grinst. »Es gibt hier vielleicht Panettone, aber keine katholische Kirche.«

Paolo fällt vom Glauben ab. »Was habt ihr dann?«

»Eine evangelisch-lutherische und eine orthodoxe Kirche.«

Letztes Jahr hab ich nichts von Paolos glühendem Bedürfnis nach italienischen Weihnachtsriten verspürt.

»Und was für Weihnachtsbräuche gibt’s bei euch?« Ich will die Debatte abkürzen. Kein Kranken- und Kirchenbesuch. Das ist echt zu viel.

»Wir zünden auf dem Friedhof Kerzen an und gehen in die Sauna«, sagt Riski.

»Ich hab mich ewig nicht gewaschen! Bitte, Tilly, lass uns in die Sauna gehen. Und dann peitschst du mich mit einer Birkenrute aus«, bettelt Kolja.

Brüllendes Gelächter folgt.

»Wie wär’s mit deinem anderen Kindertraum, Kolja? Wir packen Tierfutter auf den Schlitten, fahren in den Wald und feiern eine Waldweihnacht. Und danach zünden wir an Sandras Grab Kerzen an.«

Vorschlag angenommen.

Die Verweildauer im Krankenhaus fällt kurz aus. An unseren Blumen erfreuen sich die Schwestern, wir dürfen sie nicht mit zu Beck hineinnehmen. Mit Mundschutz stehen wir um Becks Bett, müssen aber nach einem geflüsterten »Frohe Weihnachten und gute Besserung« wieder hinaus, weil er fiebert.

Antti hat doppeltes Glück gehabt. Sein Pilotenoverall war aus schwer entflammbarem Material, und da er sich gleich in den Schnee geworfen hat, sind die Verbrennungen in seinem Gesicht nur zweiten Grades. Die Augenlider und Hände sind stärker betroffen. Er schläft.

»Sieh ihn dir an«, flüstert Paolo auf dem Flur. »Zwischen dir und ihm ist eine riesige dicke Trennscheibe.« Goedel.

Er flößt weniger Schrecken ein als die Infusionsgestänge und die schrecklichen, an seinem Bett festgeklammerten Beutel.

Mein Sinn für Farben hat sich verschärft.

Alles andere ist milder geworden, denn ich bin nicht allein.

Wir sind zu viert, stehen nebeneinander und sehen zusammen zu ihm hin.

Etwas in mir sagt, ich werde ihn nicht wiedersehen.

Die herumstreunenden Rentiere haben unser duftendes Heu entdeckt und lassen sich von den flackernden Kerzen im Schnee nicht irritieren.

»Ist doch ein Witz, dass wir an Heiligabend Rentiere füttern.« Kolja schlottert. »Ich bin ein echter Same. Wann fahren wir endlich? Mir ist kalt.«

Paolo und ich hängen Vogelfutter in den Bäumen auf. Wir sind auf dem ehemaligen Campgelände. Keine Container, nichts. In diesem Jahr gibt’s keine Jugendherberge aus Eis.

»Es reicht. Das ist genug Futter.« Riski will nicht, dass wir Unglückshäher füttern.

Erste Polarlichter wehen über den Himmel.

Wir gleiten über den Schnee. Als wir Sandras Schneegrab erreicht haben, hat das Licht ein Zentrum und breitet sich in unglaublichen Farben nach allen Seiten aus.

Ich bin ergriffen. Paolos Augen leuchten mich an, in Koljas schwimmen Tränen. Riski zündet unsere Kerzen an.

»Sagt ihr was, wenn ihr die Kerzen auf die Gräber stellt?«, flüstere ich, als wir kleine Mulden in den Schnee machen und unsere Kerzen hineinstecken.

»Das hier ist ein altes karelisches Lied. Ich spreche es für Sandra«, sagt Riski.

Wir halten uns an den Händen, lauschen den langen, seltsamen Versmaßen und sehen in den Himmel.

An Joulupäivä, dem ersten Weihnachtstag,  telefoniere ich mit Maria und freue mich an ihrem Glück über mein Geschenk. An Tapaninpäivä, dem zweiten Weihnachtsfeiertag, stirbt V. G. Goedel. Die Ärzte sagen, er hätte Chancen gehabt zu überleben, aber es habe ihm am Willen dazu gefehlt.

Glücklicherweise haben Antti und Beck großen Lebenswillen. Sie erholen sich gut und schneller als erwartet.

In den folgenden Wochen wird in meiner Vergangenheit gegraben. Aber sie liegt hinter mir. Wir fangen neu an. Und das können wir jederzeit wieder machen.

»Was ist mit Tilly Thompson?«, frage ich.

Unser neues Namensspiel.

»Das sind Namen von Toten«, sagt Paolo. Sein Kuss lässt das Blut durch alle Fasern meines Körpers rauschen.

»Alle Namen sind Namen von Toten und Lebenden. Ich aber lebe.«

***