8
Schockwelle
Statt Kaffee kriege ich Tee und ein Beruhigungsmittel, das ich verschwinden lasse, weil ich dringend nachdenken muss. Beck packt mich unter Decken in der Ecke des Küchencontainers auf ein Notlager.
»Ich bin total nass geschwitzt«, protestiere ich matt.
»Eben deshalb.«
Er lässt mich nicht aus den Augen, und ich wäre so gern allein.
Riski hat sich umgezogen und ist mit dem Chef der Hundeführer und dem Schneemobil unterwegs. Der Rest der Staffel ist abgezogen. Unsere Betreuer warten auf die Polizei. Tonberg sitzt vor dem Telefon. Jemand hämmert mit den Fäusten gegen die Stahltür. Seufzend öffnet Tonberg die Tür. »Frühstück gibt’s nicht vor neun.«
»Wie geht’s Sandra? Wo ist sie?« Verzweiflung steckt in Koljas Stimme.
»Bleib bei den anderen, bitte. Sobald ich Näheres weiß, ruf ich dich.« Tonberg will die Tür zudrücken, aber Kolja stemmt sich dagegen.
»Tilly! Was ist mit Sandra?« Die Tür fällt ins Schloss.
»Wo ist sie? Tilly!« Ich höre ihn durch die Tür schluchzen.
Grauenhaft. Ich schließe die Augen und sehe den Eulenengel wie gemeißelt auf dem Eisbusch sitzen. Ein Grabmal aus Eis. Und Sandra im Schneehügelgrab. Weiß in weiß, kalt und tot und rotes Eis. Wie ein Schleier, die Frostschicht über ihrem Gesicht. Die knallrote Mütze auf ihrem schwarzen Haar und über ihrer Brust der blau schimmernde Schnee. Tränen laufen mir übers Gesicht, ich zittere vor Angst, denn unter diesen Bildern liegen andere, alte Bilder, Albtraumbilder, die ich nicht sehen will. Die ich nicht sehen kann, denn sie treiben mir Splitter in die brennenden Augen. Schnee und Blut. Blut im Schnee. Unzusammenhängende Bruchstücke, ein einziges furchtbares Durcheinander. Mein Herz hämmert wie verrückt. Morgen, morgen, wenn ich laufe, setze ich sie zusammen und sehe sie mir an. Nicht jetzt, sage ich mir. Mein Schultern zucken.
Beck gibt mir Taschentücher. Trauer liegt in seinem Blick, aber er fragt nichts. Ein Abgrund tut sich auf und zerrt an mir. Es ist so schwer, Koljas Verzweiflung und Becks Trauer auszuhalten. Ich dämmere weg und kriege kaum mit, dass Tonberg den Küchencontainer verlässt.
1. 4. 10, Berlin
Ich bin ganz klein und liege tief unten in meinem Grab. Oben am Rand steht ein Mann. Sein riesiger Mund bewegt sich. Ich verstehe nicht, was er sagt. Er wirft Steine auf mich. Es regnet Steine, aber ich spüre nichts. Ich will nur schlafen. Schlafen wie ein Stein.
Werde nach dem Albtraum im Krankenhaus wach. Die Heimleitung will mich loswerden.
Ich weiß nicht, wie lange ich bleiben muss.
Draußen stauen sich die Polizeifahrzeuge. Schneemobile fahren zwischen Camp und Sandras Grab hin und her.
»Was hast du gesehen?«
Ich kann Beck kaum verstehen und flüstere: »Sandra ist tot. Unter ihr war Blut.«
»Ist sie gestürzt und hat sich verletzt?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht. Sie ist ziemlich weit raus auf die Loipe gefahren. Da waren keine Steine.«
Er seufzt tief, schüttelt den Kopf und fragt nicht weiter.
»Kann ich nach der Maßnahme zu dir?«, frage ich ihn mit kieksender Stimme, bettelnd. Was für ein Zeitpunkt! Ich könnte mich ohrfeigen und atme nicht, um ihn »Ja« sagen zu hören. Er muss »Ja« sagen. Ich kann nicht mehr und er will doch auch aufhören!
Beck sieht mich an. »Ich mach im Moment keine Zukunftspläne.«
Aber ich! Denn wenn ich es nicht tue, hab ich keine mehr! Ich will eine Zukunft haben, und darin spielt er eine wichtige Rolle! Ich sehe ihm direkt in die Augen, und trotz seines Einwands hab ich das Gefühl, auf dem Grund seiner Augen mein erbetteltes »Ja« sehen zu können. Ich werde ihn noch einmal fragen, aber später.
Das Ticken der Uhr wird laut. Ich bin todmüde.
»Sandras Sachen sind von Bullen ausgeräumt worden! Was ist mit ihr? Ist sie tot?«
Vanessas Stimme reißt mich aus meinem Dämmerzustand. Sie schüttelt Schnee aus den Haaren. Der Schneefall scheint stärker geworden zu sein.
»Alles ist voller Bullen, und die wühlen überall bei uns rum. Jana und mich haben sie rausgeschmissen. Ich will endlich wissen, was los ist!«
Tonberg übernimmt es. Ich habe ihn nicht kommen hören.
»Hol die andern her. Alle sollen kommen.« Er klingt müde.
Ich wühle mich aus den Decken und Beck packt sie weg. »Geht’s? Bleibst du auf den Beinen?«, fragt er.
Ich bilde es mir nicht bloß ein. Seine Stimme hat einen neuen Klang, fürsorglicher klingt sie. Und mir schießen sofort die Tränen in die Augen. Ich nicke und dreh den Kopf weg.
»Tilly, du hast einen Schock. Du hast etwas Entsetzliches durchgemacht. Reiß dich bloß nicht dauernd zusammen. Verstanden?«
Doch, ich muss.
Leichenblass kommt Kolja als Erster quer durch den Container auf mich zu. Seine Hand ist eiskalt. Er quetscht meine Hand, klammert sich an mich. Wir rutschen beide mit dem Rücken an der Wand runter und landen auf dem kalten Containerboden.
Kolja flüstert so leise, dass ich von seinen Lippen ablese: »Ist Sandra …«
Ich schließe die Augen. Und Kolja versteht.
Tonberg räuspert sich. »Sandra ist tot. Es ist einfach grauenhaft. Die Polizei untersucht jetzt die Ursache. Wir arbeiten heute nicht.«
Lars, Nils, Cem und Ben verteilen unaufgefordert und ungewöhnlich leise volle, dampfende Kaffeebecher. Ben schüttelt stumm den Kopf, als er Kolja seinen reicht.
»Aus … Respekt vor Sandra«, sagt Paolo, und seine Stimme ist rau, »find ich es richtig, dass wir nicht arbeiten. Aber im Container krieg ich einen Lagerkoller. Kann ich nicht mit Kolja das Diskodach fertig machen? Das würde uns … ablenken.« Er kommt rüber zu Kolja und mir.
Tonberg nickt müde. Der Kaffeelöffel in Koljas Becher klingelt, so sehr zittert er. Er sieht aus wie ein Gespenst. Seine Trauer raubt mir den Atem und katapultiert mich wieder in das Geisterland um Sandras Grab.
Das Unwirkliche ist zum Greifen nah, es greift nach mir.
»Hast du Sandra gefunden?« Vanessas Stimme ist laut und meint mich.
»Hedwig«, murmle ich.
»Was?« Vanessa ist laut und schrill.
»Eine Schnee-Eule hat sie gefunden.«
»Du meinst … Hedwig, die Posteule von … Harry Potter?«
Genau die spukt mir schon die ganze Zeit im Kopf herum.
Vanessa starrt mich an. »Du bist ja nicht ganz dicht!«
»Und du lässt Tilly in Ruhe oder du fliegst raus«, sagt Beck scharf.
Unruhe kommt auf, aber dann erklärt Riski langsam und mit trauriger Stimme, wie wir auf Sandras Schneegrab gestoßen sind. Eine englische Trauerrede. Alle werden still. Meine Fingerknöchelchen krachen, so fest presst Kolja meine Hand. Mir laufen die Tränen übers Gesicht. Ich bin absolut machtlos dagegen. Paolos Arm liegt schwer auf meiner Schulter.
»Aber warum und wie ist sie gestorben?«, fragt er leise.
»Das wissen wir nicht«, sagt Beck. »Die Polizei ist jetzt am Unfallort.«
Als Jana laut aufschluchzt, kann sich keiner mehr zusammenreißen. Alle weinen, schlagen die Hände vors Gesicht. Cem verlässt mit bebenden Schultern den Container. Lars und Nils ziehen sich ins Vorratslager zurück, Jana und Ben liegen sich heulend in den Armen, Vanessa lässt sich von Sam trösten.
Das Telefonklingeln hört sich fremd an, und als die Tür aufgeht, zucken wir alle zusammen.
Ein riesiger Wikinger klopft sich den Schnee von den Stiefeln und lässt seinen Blick durch den Küchencontainer streifen. Bis er mich entdeckt.
Es ist Kommissar Eetu Mieto. Sein Assistent folgt ihm und stellt ihn uns akzentfrei vor, dann sich selbst: »Ich bin Kriminalassistent Harald Hultmann. Bin in Wilhelmshaven geboren. Wer von euch ist Tilly Krah?«
»Ich.«
Er mustert mich. »Wir wollen mit dir anfangen.«
»Was anfangen?«, fragt Paolo. Er klingt kein bisschen aggressiv.
»Die Todesursache aufzuklären«, sagt Hultmann knapp.
»War es denn kein Unfall?«, fragt Ben entsetzt.
Und Sven fragt: »Ist Sandra nicht … erfroren?«
»Die Reihenfolge wird so rum sein – wir fragen euch und fangen jetzt an. Einen nach dem anderen und am liebsten hier. Deshalb geht ihr auf eure Zimmer und kommt, wenn wir euch aufrufen. Keiner verlässt das Camp.«
Eine zweite Aufforderung ist nach dieser Ansage nicht nötig. Nur Paolo zögert einen kurzen Moment, ehe er aufsteht, Kolja an der Hand hochzieht und mit ihm den Container verlässt. Zurück bleiben die Polizisten, Riski, Tonberg, Beck und ich. Zwei Minuten später haben Mieto und sein Übersetzer meine Betreuer so weit manipuliert, dass sie mich hängen lassen. Und dann sind nur noch die Polizisten und ich da. Ich schiele zur Uhr.
10:35.
Sie legen mir eine Umgebungskarte vor, das heißt die Fotokopie einer Karte, Maßstab 1:25.000. Alles ist drauf, sehr detailreich, inklusive dem russischen Grenzgebiet. Das Camp und jeder einzelne Container sind rot eingezeichnet. Rot auf weiß. Panik! Augen zu und tief durchatmen.
»Wo warst du gestern nach dem Aufstehen? Und wen hast du wann und wo gesehen?«
Hultmann legt mir einen Stift hin und pocht auf die Karte.
Mieto lässt mich nicht aus den Augen.
Ich mache Kreuze und Hultmann notiert Zeit und Namen. Vor Anstrengung steht mir kalter Schweiß auf der Stirn. Meine Kreuze müssen so: X aussehen! Unter keinen Umständen dürfen sie so: + aussehen.
»07:30 – 08:00, Frühstück im Küchencontainer. Alle, auch Sandra, waren da. X
08:00 – 08:15, mit Jana gespült, abgetrocknet und aufgeräumt. Meine Skier standen da drüben an Riskis Container gelehnt. Ich hab sie durchs Küchenfenster gesehen und mich aufs Laufen gefreut. X
08:15 – 10:00, Toilettenwände im Disko-Iglu abgeschliffen. Vanessa war in der zukünftigen Toilette nebenan. Paolo, Kolja, Sam, Cem und Riski haben am Dach gearbeitet. Tonberg ist gegen 09:30 dazugekommen. Ich habe nicht immer alle gesehen, aber gehört. X
10:00 – 10:15, Kaffeepause. Da waren immer noch alle da. Anschließend haben Sandra und Vanessa abgewaschen.«
Prompt verrutscht mein X zum +. Ich überkritzele es und mache ein neues X. Mieto entgeht nichts.
»10:15 – 11:00, wieder Wände abschleifen im Disko-Iglu. X
Um 11:00 wollte ich laufen gehen, aber meine Mütze, Jacke und Skier waren weg. Ich hab Vanessa nach meinen Sachen gefragt und dann Beck und Tonberg im Küchencontainer. Dann ist Kolja gekommen. Er hat Sandra vermisst, und wir haben angefangen, sie zu suchen.«
»Wieso?«
»Was, wieso?«
»Wieso hab ihr gleich eine Suche losgetreten? Ist das hier so üblich, wenn einer mal kurz weg ist?«
»Sandra ist üblicherweise nicht kurz weg. Wo soll man denn hier hin?«
»Du gehst Langlaufen«, stellt Hultmann fest.
»Ja, mit Riski. Sandra ist aber allein losgezogen. Und das zum ersten Mal.«
»Bist du nie allein gelaufen?«
»Doch, am Anfang. Aber außer Riski und mir läuft sonst niemand.«
Ich zeige auf der Karte, wo Riski, Paolo und ich im Gelände gesucht haben. »Es hat die ganze Zeit geschneit. Wir haben aufgehört, als wir nichts mehr gesehen haben. Danach waren wir alle im Küchencontainer. Anschließend habe ich im Bett gelegen, konnte aber kaum schlafen. Vanessa und Jana waren auch die ganze Zeit im Container.« Ich mach mein X an die Nummer 6. »Um sieben Uhr in der Früh waren Beck und Tonberg im Küchencontainer, und ich bin mit Riski wieder suchen gegangen, bis die Schnee-Eule mich erschreckt hat und ich gestürzt bin. Genau auf Sandras Grab.« Ich blinzle, aber ich weine nicht.
»Sandra war deine Bettnachbarin. Habt ihr Streit gehabt?«
»Nein.«
»Hat sie mit irgendwem Streit gehabt?«
»Aus dem Camp? Nein.«
»Warum siehst du aus wie sie?«
»Sie wollte, dass ich ihr meine Frisur mache. Sie hatte vorher lange, dunkelblonde Haare. Sie hat sie schwarz gefärbt und gestern hat sie sich meine Klamotten und Skier ausgeliehen.«
»Hat sie sich öfter Kleider von dir ausgeliehen?«
Ich schüttle den Kopf. Nein.
»Hat sie dich gefragt, ob sie sich deine Sachen ausleihen kann?«
»Nein.«
Kommissar Mieto will, dass ich unsere Trainingstouren auf dem Umgebungsplan einzeichne. Wieso wir nicht schon gestern die Loipe abgefahren wären, will er wissen. Hultmann übersetzt es.
»Sandra kann nicht Skilaufen. Wir haben sie gesucht, wo wir eine Chance sahen, sie zu finden.« Ich zeige es Mieto noch mal auf der Karte. »Wenn ich zum ersten Mal laufen würde, dann auf dem festgefahrenen Schnee auf der Schotterstraße.«
»Sie offensichtlich nicht«, sagt Hultmann trocken.
»Sandra ist während der Arbeitszeit heimlich losgefahren. Niemand hat gedacht, dass sie die Richtung nimmt, in die Riski immer fährt.«
»Hatte sie denn einen Grund abzuhauen?«
»Sie hatte Angst vor einem Dealer in Frankfurt. Den hat sie für den Tod ihrer Mutter verantwortlich gemacht. Das hat sie mir erzählt.«
»War ihre Mutter süchtig?«, fragt Hultmann.
»Ja.«
Er unterhält sich leise mit Mieto und fragt: »Hat Sandra dir erzählt, ob die Drogen ihre Mutter umgebracht haben oder der Dealer?«
»Der Drogenboss, hat sie gesagt.«
»Einen Namen?«
Ich schüttle den Kopf, blinzle, meine Augen brennen.
»Hatte Sandra etwas gegen ihn in der Hand oder hat sie das angenommen?«
Was soll ich bloß sagen? Das mit der Knarre, die sie den Leuten an den Kopf gehalten hat, um Geld einzutreiben, sag ich lieber nicht. Die kriegen sonst ein total falsches Bild von Sandra. Sie kennen sie ja nicht. »Sie hat eine Weile für ihn gearbeitet. Dann hat sie Angst bekommen und ist ins Heim, freiwillig. Sie hat erfahren, dass ihre Mutter die Drogen nicht mehr zahlen kann, und kurz darauf war sie dann tot, die Mutter. Wir mussten unsre Handys abgeben. Sandra hat sich eins besorgt und jeden Abend bei dem Boss angerufen. Sie war nur dann beruhigt, wenn sie wusste, dass er in Frankfurt ist.«
»Was hat sie für ihn gearbeitet?«
»Gedealt, aber nicht lange. Und Sandra hat keine Drogen genommen«, sag ich schnell. »Sie müssen die Nummer überprüfen, die sie immer gewählt hat.«
»Ihr habt euch vertraut?«
Was soll ich dazu sagen? Ich vertrau niemand. »Wir haben uns gut verstanden. Aber von diesen Sachen hat sie mir nur einmal erzählt.«
Wieder unterbricht Hultmann kurz für eine Unterredung mit Mieto und fragt dann: »Wieso wollte Sandra aussehen wie du?«
»Wieso? Na, sie hatte ja Angst, dass der Drogenboss sie verfolgt. Vielleicht wollte sie nicht erkannt werden?« Mit so was kenn ich mich aus. Ist doch logisch!
Mieto lässt mich nicht aus den Augen. Hultmann übersetzt seine Frage: »Wieso wie du? Wieso nicht blond?«
»Sandra stand auf Mangas, diese japanischen Comics. Sie fand, ich sehe aus wie ’ne Mangafigur, und deshalb hat sie sich selbst so gestylt.« Mir wird schwindelig und schlecht. Ich bin fertig, richtig fertig. »Ich wollte nicht, dass sie mich nachmacht. Ich will ja nicht mal ich sein«, sag ich leise.
Jetzt redet Hultmann auf Mieto ein, aber der lässt nicht locker. »Was wollte sie sonst noch nachmachen?«
»Sie wollte mit mir joggen. Sie hat gesagt, alle normalen, modernen Mädchen joggen, und sie wollte gerne ein normales Mädchen sein.«
»Seid ihr zusammen gejoggt?«
»Ich muss laufen, weil mich das beruhigt. Ich laufe schon lange und schnell. Ich bin nicht mit ihr joggen gegangen. Wann denn? Wir haben kaum Zeit und ich trainiere mit Riski. Aber ich hätte es machen sollen, dann wäre sie jetzt nicht tot.« Ich kann nicht mehr.
»Wieso?«
»Sie war allein da draußen! Ich wäre gelaufen und hätte Hilfe holen können!«
»Weißt du, woran sie gestorben ist?«
»Nein«, schluchze ich. »Aber ich hab das gefrorene Blut gesehen und glaube nicht, dass es ein Unfall war.«
»Wie ist es gekommen, dass du über Sandra gestolpert bist?«
Die hören einfach nicht auf, und die bohrenden Fragen zielen darauf, ob ich das Grab meiner Bettnachbarin, die aussieht wie ich, wirklich zufällig gefunden habe.
»Als Sandra gestern los ist, war die Loipe nicht so verschneit wie heute. Sie ist ihr gefolgt, wir auch. Wir konnten ja gar nicht anders! Die war vollständig mit Schnee bedeckt. Meine, das heißt Becks Skier, haben sich unter ihr verhakt.«
Kein Wort glauben sie mir, aber sie lassen mich gehen. Ich leg mich auf mein Bett und zieh mir die Decke über den Kopf. Doch es hilft nicht viel. Vanessa und Jana wollen nicht, dass ich denke, es interessiert sie, was ich weiß. Deshalb fragen sie nicht, was die Bullen wissen wollten. Lieber platzen sie vor Neugier, baden in Trauer, vibrieren vor Aufregung – im fliegenden Wechsel. Als ich endlich allein bin, sehe ich sofort nach meinen Panikbüchern. Zu meiner Erleichterung stehen meine ausgelatschten Laufschuhe unangetastet auf Akne-Sams Spindblech, worunter sie sich befinden. Niemand hat sie gefunden.
Nacheinander werden die anderen befragt.
Kurz nach drei Uhr führen mich Mieto und Hultmann ins Disko-Iglu und wollen genau wissen, was ich da gemacht habe.
Ich zeige ihnen die abgeschliffene Eiswand.
Hultmann sagt, Vanessa könne sich nicht erinnern, mich gesehen zu haben.
»Sie hat mit Cem geflirtet, ich hab jedes Wort verstanden. Fragen Sie ihn. Sie müssen mich gehört haben«, sage ich und demonstriere mit dem Reibebrett an der Wand, dass die Arbeit alles andere als geräuschlos ist.
»Sie kann sich auch nicht erinnern, dass du sie nach deiner Jacke gefragt hast.«
Ich zucke gleichgültig mit der Achsel, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlägt. »Wenn ich ’n Kerl wär, könnte sie’s.«
Wir sind keine Unschuldslämmer, das wissen Mieto und Hultmann, und wir wissen, dass sie andere Fragen stellen würden, wäre Sandra an den Folgen eines Unfalls gestorben.
Unsere Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt, und im Küchencontainer eskaliert es, als Vanessa rausplatzt: »Ich will nicht mehr mit Tilly zusammenwohnen. Die tickt nicht richtig. Und immerhin ist sie die Hauptverdächtige.«
Der Geräuschpegel schießt sofort zur hysterischen Höchstmarke hoch.
Paolo packt mich am Arm: »Hol dein Zeug. Du ziehst zu uns.«
Aus den Augenwinkeln sehe ich Beck nicken.
»Dann kommt Sam zu uns«, verlangt Vanessa.
»Sam? Wieso Sam? Ich hör wohl nich recht?«, brüllt Cem.
Und draußen vorm Küchencontainer kriegen wir Becks Entrüstung mit: »Was ist los mit dir, Vanessa? Warum musst du an so einem schrecklichen Tag Streit anzetteln?«
Paolo, Kolja und Sam haben sich ihre Blechbehausung in zwei Betten rechts und zwei Betten links aufgeteilt. Durch einen schmalen Mittelgang kommen sie in ihre Kojen, die dafür relativ geräumig und mit den Spinden voneinander abgetrennt sind. Mein Kabuff ist dem Klo am nächsten, was mir total egal ist.
Es schneit konstant. Die Jungs helfen mir, mein Zeug rüberzuholen. Die Laufschuhe, das Blech und meine Tagebücher trage ich selbst. Keinem fällt was auf, wenn es direkt vor ihren Augen geschieht.
»Glaubst du, es war einer von uns?«
»Nein, Kolja.« Das kann ich mir nicht vorstellen.
»Wie ist sie gestorben?«
»Ich weiß es nicht.«
»Vanessa ist ’ne Schlampe«, sagt Paolo. »Die labert nur Mist.«
Dazu sag ich nichts, aber eine Frage an Kolja hab ich: »Kannst du mir das Messtischblatt beschaffen?«
»Was für’n Ding?«, fragt er zurück.
»Haben euch Mieto und Hultmann nicht den riesigen Umgebungsplan gezeigt?« Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um in Paolos Augen zu sehen.
Er schüttelt den Kopf. »Mir hat er gar nichts gezeigt.«
Doch Kolja nickt. »Besorg ich dir. Weiß jetzt, was du meinst. Aber wozu brauchst du den Plan?«
»Irgendwas ist mir darauf komisch vorgekommen.«
»Wieso fragst du sie nicht selber?«
»Weil ich ihnen lieber aus dem Weg gehe«, sag ich und dreh mich um.
Sam reißt die Tür auf. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrt er erst Kolja, dann Paolo und dann mich an. Kälte breitet sich aus. Schneeflocken tanzen herein. Die Tür steht weit auf.
»Was ist los, Mann?«, fragt Paolo. »Sag schon!«
»Sandra ist …«, sagt er leise. Seine Augen füllen sich mit Tränen.
Ich will es nicht hören. Irgendwas stimmt nicht mit der roten Mütze über ihrem weißen Gesicht und dem gefrorenen Blut unter ihrem Kopf. So nah, so dicht vor meinen Augen. Ich liege wieder auf ihr, stoße fast mit meiner Nase auf ihre und schüttle wild den Kopf.
»… erschossen worden«, stammelt Sam.
Paolo packt meinen Arm und hält mich fest. Es tut weh.
Kolja rennt aus dem Container.