3
Im Nirgendwo

Unser Gepäck landet, mehr geworfen als hingestellt, vor der Krüppelkiefer auf dem Schotterweg. Der Busfahrer klettert aus dem Laderaum, sagt etwas Unaussprechliches und ist weg. Er hat es eilig, sehnt sich vermutlich nach der Zivilisation. Ivalo ist der größte Ort der Gemeinde Inari. Und Inari hat insgesamt siebentausend Einwohner auf 17.000 Quadratkilometern. Siebentausend, das klingt magisch. Der Busfahrer ist einer von ihnen. Wir nicht. Wir leben in Containern im Nirgendwo. Im äußersten Nordosten Finnlands. Im Nichts. 150  Kilometer bis zum Eismeer, ein paar Kilometer vor Norwegen. Sollte jemals die Sonne wieder aufgehen, kann ich im Osten rüber nach Russland sehen. Sollte ich rüberlaufen, werde ich erschossen.

»Hyvää iltaa!«

Im Licht der geöffneten Tür winkt ein drahtiger Typ aus dem größten Container zu uns herüber.

»Hallo, Voito!«, grüßt Tonberg zurück.

»Das ist Voito Riski, unser Bauleiter«, erklärt Beck und winkt dem Finnen zu, der wieder im Inneren des Containers verschwindet. »Ich sag euch jetzt, wo ihr wohnt. Da bringt ihr dann zuerst einmal euer Gepäck unter.«

Die drei Gruppen-Container gehen an uns. Vier Jungs sollen ihr Zeug in den Container Nummer 2 bringen und die anderen drei in die Nummer 4.

»Vanessa, Jana, Sandra und Tilly, euer Container hat die Nummer 6.«

Die Kerle grölen prompt. Bescheuert. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … »Ha, ha, ha!« Sieben, acht, neun, zehn … Null Reaktion.

»In zehn Minuten treffen wir uns im Küchencontainer«, unterbricht Stefan Tonberg nüchtern das Brüllgelächter.

Ich schließe mit mir eine Wette ab, dass Paolo in den unterbelegten Container einziehen wird, und gewinne.

Die Gruppenunterkünfte sind flankiert von drei kleineren Containern. Kontrollposten, hier sind die Betreuer untergebracht. Das Konzept ist klar, denke ich und stürme los. Und wenn es mich meine Fingernägel kostet, ich krall mir das Bett am Ende. Keinesfalls penn ich zwischen Vanessa und/oder Jana/Sandra. Aber ich bin sowieso als Erste an der Blechdose Nummer 6 angelangt, weil ich keinen Trolley habe. Kaum kriege ich die Tür aufgestemmt, schlägt mir die Hitze wie eine Gummiwärmflasche ins Gesicht.

Rechts an der Tür sind die Symbole 00 + wolke.jpg aufgeklebt, Klo und Dusche. Ich sprinte nach hinten bis zur Wand, knall meinen Rucksack aufs Bett und hab meinen Kram eingeräumt, bevor die anderen eintrudeln und losjammern.

»Fuck, draußen arschkalt, hier irre heiß.« Blablabla.

Blöd ist die Raumaufteilung nicht. Jede hat drei Spinde, nebeneinander in den Raum hineingestellt, sodass die Betten voneinander abgetrennt sind.

»Tilly«, sag ich, als die Langhaarige auf das Bett neben mir starrt.

»Sandra« wirft mir einen eiskalten Blick zu, reißt das Laken aus ihrem Bett und spannt es von meinem letzten Spind zu ihrem. Zack, hat sie einen relativ privaten, blickdichten Raum und wird mir dadurch fast sympathisch.

Vanessa und Jana, die beiden Blondinen, brauchen einen Moment, um die Lage zu sondieren, aber dann bricht ein Höllenlärm los. Sie stellen ihre Betten zusammen und mauern sich mit ihren insgesamt sechs Spinden ein.

Sehr gut. Wer hat schon Bock, immer an ihren Betten vorbei aufs Klo zu latschen? Niemand. Mein Laken spanne ich vom Spind zur Wand, weil ich für mein Endstück keinen Flur brauche und bin zufrieden, als das Gekeife losgeht.

»Du hast am meisten Platz.« Vanessa, eisig.

Ich: »Ich hab Polypen, und Sandra hat am wenigsten Platz. Ihr müsst nach rechts rücken. Da geht noch was. Und ich besorg Sandra ’ne Wand.«

»Und ’n Laken.« Unter diesen Bedingungen scheint Sandra einverstanden zu sein.

Doch Vanessa will Stress. »Hä? Polypen?« Ihre Stimme besteht nur aus schrillen Obertönen.

Also sage ich leise: »Ich schnarche. Wenn ich zwischen euch liege, kann keine pennen. Klar?«

»Wir haben noch drei Minuten.« Sandra hat genug.

Mit vereinten Kräften verschieben wir Doppelbetten plus Spinde Richtung Klo.

»Wenn ihr pissen geht, können wir nicht schlafen«, jammert Jana, als wir fertig sind.

»Legt euch auf die Betten. Ich muss mal.« Der Härtetest: Ich schließ die Klotür ab, pinkle, furze laut, zieh die Spülung ab, dreh die Dusche auf und zu und geh wieder raus. »Und? Wie war’s?«

Na ja, gut, okay, murmelt es aus den Kojen.

Vier Minuten zu spät sitzen wir im Küchencontainer an den Tischen.

»So, dann können wir jetzt anfangen«, sagt Tonberg.

»Ich hab kein Laken«, sagt Paolo.

Sandras und mein Finger flitzen in die Höh. »Wir auch nicht.«

Und dann meldet sich noch einer, den Beck Kolja nennt. »Hab auch keins.«

Kolja ist der, der im Bus neben Paolos Füßen geknackt hat. Selbst unter totalen Außenseitern sind Sandra, ich, Paolo und Kolja die absoluten Außenseiter mit unserem dringenden Bedürfnis nach Distanz. Wir kriegen vier zusätzliche Laken.

Vorm Essen stellen sich Michael Beck und sein Kollege, Stefan Tonberg, vor. Beck ist jünger als Tonberg, so um die vierzig, und tut cooler, als er ist. Immerhin will er aussteigen und hat noch berufliche Visionen, obwohl er Sozialpädagoge ist. Tonberg hat einen angegrauten Bürstenschnitt und wirkt abgeklärter als Beck. Beide machen auf alte Hasen, die mit jahrelanger Erfahrung Gruppen wie unsre für den EPM-Dachverband betreuen.

Wir wiederum demonstrieren Gleichgültigkeit ihrem Vortrag gegenüber, die meisten von uns durch konzentriertes Herumdrücken auf den Mobiltelefonen.

»Handys her.«

Tonberg sammelt sie so schnell ein, dass der Sturm der Entrüstung erst danach losbricht.

»Was soll denn der Scheiß!« Sandra wird richtig laut. »Wenn ich mich nicht jeden Tag bei meiner Omi melde, stirbt sie vor Angst!«

»Du kannst sie vom Büro aus anrufen. Kein Problem.«

Sandra: »Ich will nicht, dass ihr an mir dranklebt, wenn ich telefoniere!«

»Dann gehen wir eben raus.«

»Ich will aber mein Handy!!!«

Die Mehrheit schließt sich der Forderung an.

Tonberg donnert: »Ruhe!« Und tatsächlich wird es leiser. »Ihr seid dran. Stellt euch vor. Einer nach dem andern.«

Ein absolutes Desaster.

»Also, isch bin Cem …« Nuschel, nuschel.

Der Bodenrotzer aus dem Bus.

Was erwarten die? Dass wir unsere Vorstrafen, Macken und traurigen Lebensgeschichten erzählen? Können sie vergessen. Ich hab Sandra, Paolo und Kolja auf meiner Liste, und das ist mehr, als ich von der beschissenen Maßnahme erwartet habe. Wir sind grade erst angekommen, leckt mich! Dass sie mein Handy einkassiert haben, ist mir schnuppe. Anrufen will ich nicht, und angerufen werden will ich erst recht nicht.

Also stell ich mich hin und sage: »Ich bin Tilly. Ich brauch ’ne Wand für Sandra. Rigips, Decken, Planen, irgendwas, weil wir in unsrem Container versuchen, so was wie Privatsphäre für alle herzustellen. Ist das verboten?«

»Aber nein!« Natürlich nicht! Beck und Tonberg reagieren euphorisch auf so viel löbliche Eigeninitiative. Morgen wird sich was finden, versprechen sie und überschlagen sich beinah.

»Gut«, ich setz mich wieder hin.

Voito Riski stellt sich auch hin, grinst mich an und redet auf Englisch los.

Das Problem ist, ich kann eigentlich kein Englisch, aber ich verstehe jedes Wort. Wieso? Keine Ahnung! Ich kann mich nicht erinnern, dass es mir jemals jemand beigebracht hat, von den lächerlichen Schulstunden abgesehen. Und das ist nur eine Sache von vielen in meinem Leben, für die es absolut keine Erklärung gibt, und wegen denen ich mein verrücktes Leben so satthabe. Wenn mich wer direkt auf Englisch anlabert, und ich bin nicht darauf gefasst, packen mich nacktes Grauen, Panik, Todesangst. Ein Flashback, meinen die Psychologen, und von der Sorte hatte ich mit reichlich vielen zu tun. Und jetzt, als ich Riski reden höre, kriege ich keine Luft mehr, mir wird schwindelig, und ich klammere mich an der Tischkante fest.

Beck übersetzt, was Riski sagt: »Aurora borealis. Das Polarlicht hat heute die Wintersaison eröffnet. Das ist früh. Vermutlich will euch die Sonne in meiner Heimat begrüßen. Ihr wisst, dass Polarlicht entsteht, wenn geladene Teilchen des Sonnenwindes auf die polare Erdatmosphäre treffen.«

An unseren hohlen Blicken erkennt Riski, dass wir noch nie von Sonnenwinden gehört haben.

»Also, willkommen. Am fünfzehnten Dezember wird die Jugendherberge eröffnet. Das steht fest. Alles andere hängt vom Wetter und von euch ab. Jeder kriegt zwei Thermoanzüge. Morgen früh um acht ist Baubesprechung. Es gibt zwei viertelstündige Kaffeepausen, eine um zehn Uhr und eine um drei. Mittagspause ist von zwölf bis halb eins und um fünf ist Schluss. Falls ihr nicht ordentlich anpackt, muss ich Arbeiter aus Ivalo dazuholen. Dann wird’s richtig eng, weil die auch hier übernachten müssen. Verstanden?«

In meinem Kopf dröhnt es, Becks Übersetzerstimme klingt hohl und dünn, dann reißt sie ab und mir kommt schlagartig die Tischplatte entgegen.

Super Einstand! Tilly braucht Riechsalz!

Das Geschrei legt sich erst, als Riski und Tonberg das Essen austeilen. Beck drückt mir ein kaltes Tuch gegen die Stirn.

»Aua«, ich schiebe seine Hand weg und sehe eine Blutlache. Meine Nase blutet. Ich kann das nicht aufwischen. Blut tropft auf mein T-Shirt und meine Jeans. »Bitte! Ich muss raus!« Ich spür meine Beine nicht. Panik! Ich kann nicht weg.

»Hast du was gesagt?«, fragt Beck und haut mir mit der flachen Hand mehrmals auf die Backe.

Ich schüttle den Kopf und versuche, Luft in meine Lungen zu kriegen.

»Willst du dich hinlegen?«

Da kein Ton kommt, nicke ich. Normalität herstellen!, kreischt es in meinem Innern. Beck zieht mich hoch. Ich stehe. Gott sei Dank, ich kann gehen.

»Soll ich mitkommen?«, fragt Sandra.

»Iss du lieber was«, sagt Tonberg. »Ein Schwächeanfall reicht.«

Beck packt mich unterm Arm und schleift mich zur Tür.

»Zieht die ’ne Show ab«, sagt Vanessa und erntet zustimmendes Grinsen von Cem und Akne-Sam.

Draußen in der Kälte, im Polarlicht, krächze ich: »Muss auch was essen.«

»Leg dich erst mal hin, bis dein Kreislauf stabil ist. Ich bring dir was rüber.«

»Tut mir leid«, murmle ich und stelle Normalität her. »Hab zu wenig gegessen unterwegs. Die Aufregung, die Hitze.«

Beck sieht mich forschend an. Es steht ihm in Großbuchstaben auf der Stirn geschrieben, dass er mich zurückschicken will. Er denkt, ich pack das nicht, mach Probleme.

Also hol ich tief Luft und sage: »Das tut gut. Geht schon viel besser.«

Im Container wasche ich mich und stopfe mir Klopapier in die Nasenlöcher. Die Jeans und das versaute Shirt schmeiß ich in den Abfall und zieh den Trainingsanzug über. Ich hau mich hin, schluchze kurz. Dann springe ich auf und warte an der Tür. Der Soz. Päd. soll mich nicht im Bett sehen.

Schon wird die Tür aufgerissen. Nach einem Rundumkontrollblick reicht Beck mir das Laken und einen Teller.

»Danke.«

Beck sieht mich nicht an, fischt meine Klamotten aus dem Abfall, schüttelt den Kopf und seufzt: »Es gibt hier auch eine Waschmaschine.«

Soll ich noch mal Danke sagen? Ich sag »gut« und starre meine Füße an.

»Komm rüber, wenn dir danach ist.«

Mir ist nicht danach. Ich bin froh, allein zu sein. Zwischen Vanessas Spind und der Wand finde ich ein Versteck für meine vier prallvollen Panikbücher. Sie haben Din-A4-Format, sind schwarz gebunden, vollgeklebt, vollgekritzelt. Jedes Jahr eins, 2009–2012. Niemand darf sie jemals in die Finger kriegen, deshalb hab ich sie mitgenommen. Im Heim wühlt jeder in den Sachen der Anderen rum, hier hundertpro auch. Spätestens morgen filzen meine Mitbewohnerinnen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit den Container. Sandra wird sich auf meinen Bereich konzentrieren, das ist klar. Vanessa und Jana werden zusammen schnüffeln. Natürlich bei Sandra und mir und nicht bei sich selbst. Mein aktuelles Panik-am-Polarkreis-Buch bleibt in der Tasche, da ist es sicher. Ich brauch den Zugriff. Sollten sie mein Versteck entdecken, wäre es das Ende. Eine Katastrophe. Ich wäre bis zum Ende der Maßnahme die Durchgeknallte von Container 6.

Als alle pennen, gehe ich runter zum Fluss, dem Paatsjoki. Er ist sehr breit. Nicht weit flussaufwärts auf der anderen Seite ist die russische Grenze. Es ist absolut still. Kein Flugzeug, kein gar nichts. Das Nichts ist so still, dass ich meinen Herzschlag höre  – mit meinen Ohren! Dann Getöse, ein Fisch taucht auf. Und was ist das? Der Fisch schnappt nach irgendwas. Irre!

Ich hab den Zungenschlag des Fischs gehört.

11. 3. 09, Berlin

Ich laufe vor dem kalten Atemhauch in meinem Nacken weg. Verstecke mich hinter Steinen im Dunkeln. Ein eiserner Griff am Hals drückt mich runter.

Zum dritten Mal schreiend aufgewacht.

Krieg ich kein Einzelzimmer, bringen

die mich um.

Auf meine Träume würde ich gern verzichten, deshalb schlafe ich ungern. Ich stehe allerdings auch nicht gern auf. Deshalb lass ich zum Pennen immer den Trainingsanzug an. Als der Wecker Alarm schlägt, rolle ich mich aus dem Bett und ziehe mir, ohne eine Sekunde nachzudenken, Socken und Laufschuhe über.

»Was is’n los?« Sandra gähnt.

»Müssen wir raus?«, stöhnt Jana.

Frühstück gibt es um 7:30, also kann ich eine Stunde laufen.

»Nein, pennt weiter«, flüstere ich und mach die Tür so leise wie möglich hinter mir zu.

Ich laufe vorsichtig die unebene Schotterpiste, die wir gekommen sind, zurück. Die Bodenwellen und Vertiefungen kann ich in der Dunkelheit kaum erkennen. Egal. Nicht denken, nur laufen. Es dauert, aber langsam kriege ich ein Gespür für den Boden und zieh das Tempo an. Und dann bin ich mir wieder sicher, dass ich jederzeit sehr weit weglaufen könnte. Ein Glücksgefühl.

»Wenn du mitten in der Nacht das Camp verlassen willst, musst du das vorher anmelden. Verstanden?«, sagt Beck wütend.

»Ja«, sage ich und nicke dazu. »Ich gehe jeden Morgen vorm Frühstück laufen.« Das ist keine Frage und keine Bitte um Erlaubnis.

Tonberg und Riski starren mich an, als hätte ich behauptet: Ich laufe vorm Frühstück grundsätzlich rückwärts auf den Händen übers Wasser.

»Wenn wir abhauen wollen, müssen wir das auch anmelden, oder was?«, will Paolo wissen.

Auf solchen Blödsinn geht Beck nicht ein. »Container 2 hat Kantinen- und Küchendienst. Ab heute werdet ihr, Lars, Cem, Ben und Nils, eine Woche lang kochen, den Tisch decken, abräumen und abwaschen.«

Ob Absicht oder Versehen, Bosheit oder Müdigkeit, Dummheit oder mangelnde Feinmotorik, klirr, die Kaffeekanne und gleich noch mal, klirr, ein Becher gehen zu Bruch. Gezeter, es nervt. Riski beendet das Frühstück vor der Zeit und beginnt mit der Baubesprechung.

»Wir übersetzen nicht, was Voito sagt. Ihr werdet englisch reden, so gut es geht. Macht euch irgendwie verständlich, das übt«, sagt Beck.

Die Absicht ist klar. Logisch, dass es augenblicklich still wird. Keiner von uns will sich zum Affen machen.

Riski malt zwei Kreise auf eine weiße Präsentationstafel aus Kunststoff und schreibt in den einen Hostel und in den anderen Disco und darüber Cooperation und Aurora Linna Icehotel. Irgendwie schafft Riski es rüberzubringen, dass über das Eishotel für die Jugendlichen Schlafplätze in der Jugendherberge gebucht werden. Mit Bussen, Schneemobilen oder auf Wunsch mit Hundeschlitten werden sie für eine Nacht hierhertransportiert.

»How much for one night?«, will Sandra wissen. Flüssig, professionell, ohne zu stottern.

Sie erntet verstohlene Blicke. Nur Kolja starrt sie offen bewundernd an.

»Not your business«, sagt Riski.

»Aha, wir sollen bloß bauen, das Geschäftliche geht uns nichts an«, sagt Paolo.

Riski hat ihn nicht verstanden. »What?«

»Also, we are only Malocher, slaves. Capisco.”

Jetzt wird’s richtig international, denke ich: Der zweite Englischlaberer kann auch noch Italienisch.

Es gibt keine Diskussion mit Riski, nur Lästereien innerhalb der Gruppe.

»How much for one night?« Jana äfft Sandra nach. »Bist du ’ne Nutte oder was?«

Und Vanessa schüttet sich aus vor Lachen.

»Seid ihr dumm, oder was?« Kolja spricht leise, hat aber einen leicht drohenden Blick, als er sich dicht vor Jana und Vanessa aufbaut. »Nutten fragen so was nicht. Sie werden das gefragt.«

Vanessa dreht sich theatralisch um und legt Lars die Hand auf die Brust: »How much for a night?« Klimper, klimper.

»Ey! Für dich? Umsonst.«

Hoho, haha, yo. Es folgen weitere Angebote von Cem, Nils und Ben. Vanessa steht auf Muskelfreaks und findet Lars anscheinend attraktiv. Und Jana flötet mit ihr um die Wette.

Riski teilt Blätter aus. Wir sollen unsre Vorstellungen von Schlafsälen aus Eis für circa dreißig Leute zeichnen, malen oder als Modelle basteln.

Im Vorbeigehen bläst mir Sam ins Ohr und flüstert: »Und was ist mit dir?«

»Oh, ein Elch!«, rufe ich und renne nach draußen. Weit und breit ist keiner zu sehen.

»Ich hab dich was gefragt«, hakt Sam nach, als ich wieder am Platz bin.

»Ich mag Tiere. Du auch?«, frage ich ihn und starre unentwegt auf den bös entzündeten Pickel auf seiner Stirn.

Er wendet sich von mir ab und seiner Zeichenaufgabe zu.

»Kuck dir mal an, was für ’n Scheiß Tilly da fabriziert.«

Ich hab das Interesse von Ben erregt und zucke zur Antwort mit den Schultern. Abgeben, Pause, und dann gehen wir raus und besichtigen den Bauplatz.

Endlich. Es ist schön, das Nichts. Das karge Land. Das viele Wasser. Das Licht. Die klare Luft. Die Stille, von der man nur deshalb weiß, dass sie da ist, weil die Sprüche von Cem, Sam und Lars und das Gekreische von Vanessa und Jana noch hässlicher als üblich klingen.

Jenseits des Flusses kann ich Russland sehen. Russland – der ehemals böse Ostblock. Kommt es mir nur so vor oder steht da einer und sieht mit dem Fernglas zu uns rüber?

»Ist das die Grenze da drüben?«, frag ich.

»Blöde Frage. Willst du etwa rüberschwimmen?«, sagt Lars.

»Da sieht einer zu uns rüber. Wenn es die Grenze ist, dann ist es vielleicht ein Grenzsoldat.«

»Und?«, fragt er dumm.

Und? Ich will wissen, wer uns beobachtet!

»Außer uns gibt’s nichts, was er anglotzen könnte«, sagt er.

Stimmt auch wieder. Muss Voito fragen, ob das die russische Grenze ist. Ich zittere vor Kälte.

»Mir ist kalt.« Sandra bibbert.

»Wann gibt’s endlich die Thermoklamotten?«, fragt Kolja und macht damit dem Letzten klar, dass Sandra einen Beschützer hat.

»Nach der Theorie«, sagt Beck.

Ich dreh mich noch mal um. Die Gestalt am anderen Ufer steht reglos da. Er sieht mich an. Ich weiß es. Ich fühle es. Sein Blick versteift mir die Schulterblätter, als ich den anderen nachlaufe.

Wir gehen wieder rein und skizzieren die Disko aus Eis.

Nach dem Mittagessen kündigt Beck an, dass wir am Nachmittag die Statik und die Möglichkeiten der Verschalung besprechen.

Das heißt, wir werden uns weiter Schulter an Schulter gegenseitig auf die Nerven gehen können. Na super.

Doch eine Kleinigkeit hat sich zu meinen Gunsten verändert. Man lässt mich in Ruhe. Ich mach es immer auf die gleiche in den Heimen entwickelte Art und Weise. Macht mich jemand an, starre ich ihn oder sie ein bisschen dümmlich an, zeige aber sonst absolut keine Reaktion auf das Gequatsche. Egal, ob er oder sie mich beleidigt oder gelobt oder provoziert hat, ich sag was Belangloses, was passt und irgendwie auch nicht passt. Die meisten Leute vergessen mich dann ziemlich schnell.

»Du siehst aus wie Kagura Tsuchimiya«, sagt Sandra und starrt zur Abwechslung mich an.

Keine Ahnung, mit wem sie mich vergleicht. Niemand außer ihr weiß es. »Tilly?« »Hä?« »Was?« »Wie wer?«

Sandras blöder Spruch zerrt mich hinter dem Vorhang des Vergessens vor und stellt mich in den Mittelpunkt der geballten Aufmerksamkeit. Ich könnte kotzen.

»Kagura ist eine Agentin der Umweltbehörde, ein Manga-Charakter. Sie ist eine Pistolenschwertkämpferin«, erklärt Sandra. »Ihre Spezialwaffe heißt …«

»Du hast sie ja nicht alle«, falle ich ihr ins Wort und konzentriere mich verbissen auf die Verschalungstechnik meiner Jugendherberge.

»Hoho! Bang-bang-bang!«

Die Kerle kämpfen mit unsichtbaren Spezialwaffen.

»Doch, doch, du siehst ihr ähnlich«, widerspricht Sandra. »Du siehst überhaupt wie ein Manga-Mädchen aus. Mit deinen riesigen Augen und den kohlrabenschwarzen Zottelhaaren …«

Sandra ist nicht zu bremsen, also lenke ich ab: »Ich finde, Cem hat was von ’nem Action-Held. Vanessa ist Miss Polarlicht und du sieht aus wie Dakota Fanning.«

Die Genannten posen.

»Und was ist mit mir?«, kreischt Jana.

»Jana Beller?«, schlägt Ben vor.

Die Topmodel-Sache klärt die Angelegenheit. Es hagelt Model-Namen in Verbindung mit geil, scharf, porno …

Bis Lars, der Blödmann, bei Sandra nachfragt: »Wie heißt die Spezialwaffe?«

»Das Pistolenschwert?«, fragt sie zurück.

Lars nickt.

»Michael #12«, sagt sie.

Tja, das war’s. Für die nächste Stunde sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt, wieso ich als Manga-Agentin mit einer Sozialpädagogen-Spezialwaffe für die Umwelt kämpfe.

»Bisschen mehr Respekt! Wenn ihr nicht sofort die Klappe haltet, und zwar ALLE!, wird das Abendessen gestrichen!«

Kann sein, dass Michael Beck das Ganze genauso wenig witzig findet wie ich, bloß ich lasse es mir nicht anmerken.

Der Tag vergeht. Noch ein Tag geht dahin.

Eine Reihe von Tagen zieht an mir vorüber.

20. 09. 12., Container 6

Ich kämpfe mit dem Pistolenschwert gegen einen Verfolger. Wer er ist, weiß ich nicht. Verstecke mich. Ich bin in Gefahr und habe Angst am Ende der Welt.

Schweißnass aufgewacht.

Gestern haben wir den fünften Tag auf engstem Küchenund Kantinenraum die verschiedenen Bauphasen besprochen, geplant und Materiallisten erstellt. Jetzt treibt mich der Lagerkoller noch vor der blauen Morgenstunde fast bis hinter den Eisernen Vorhang. Und fast auch nur deshalb, weil ich nicht übers Wasser laufen kann. Heißt das eigentlich immer noch Eiserner Vorhang und Ostblock? Ich laufe, laufe, laufe schnell. Ist mir egal, ob ich pünktlich zum Frühstück zurück bin. Die können mich mal. Mit der Entfernung verblasst die Erinnerung ans Containerleben. Es riecht nach Harz und Herbst. Der Wind zischt durch die Nadeln und Birkenblätter. Dann knackt es laut zwischen den Bäumen. Es ist noch zu dunkel, um etwas zu sehen. Ein Tier vielleicht? Oder doch ein Mensch? Plötzlich kriege ich Angst und renne den Weg zurück. Eine schreckliche Weile klingt es, als würde etwas auf gleicher Höhe mit mir durch den Wald rennen. Ich werde schneller und lasse das Knacken und die brechenden Äste hinter mir. Vorm Camp ist es dann hell genug, dass ich querfeldein zum Fluss laufen kann. Wasser aus purem Silber. Der Fluss rauscht, mein Blut rauscht, das Weltall rauscht. Ich laufe dem Nordpol entgegen.

Auf der Mitte des Flusses gerät auf einmal der Dunst in Bewegung. Flügelschlagen und lautes Triumphgeschrei ertönt: »Gigigi! Ga! Go!« Dann: »Gra! Kükükü!«

Schwäne steigen auf. Singschwäne erheben sich in die Luft, zwanzig, dreißig Stück. Silber tropft von ihren Flügeln. In der Luft werden sie blau. Sie fliegen einen Bogen und ich falle auf die Knie. Das Morgensonnenlicht, das ich noch gar nicht sehen kann, taucht sie hoch über mir in rote Farbe. Meine roten Schwäne ziehen in den Süden mit Gesang. Ich bin ein Kind des Lichts, lege mich auf den Rücken und sehe ihnen nach. Etwas in mir fliegt mit. Mein Wunsch nach Wärme fliegt mit. Meine Sehnsucht nach Licht fliegt ihnen nach. Sie gehören zu mir und ich fühle mich wie ein Teil von allem. Bloß festgebunden, eingesperrt. Ich hasse es so sehr, wenn ich flennen muss und nichts dagegen machen kann.

»Was soll das, Tilly? Wenn du nicht damit umgehen kannst, dass man dir was erlaubt, dann geht das eben nicht!« Beck brüllt.

Tonberg hält sich zurück.

Ich stehe da, atme schwer und dampfe. Schweiß läuft mir von der Stirn. Meine Muskeln schmerzen. Am Fluss sind mir die Beine in der Kälte steif geworden.

»Tut mir leid, ich bin zu weit gelaufen. Ich hab’s übertrieben. Entschuldigung«, keuche ich. Eingeständnisse sind immer entwaffnend. »Habt ihr schon gefrühstückt?«

»Ab in die Kantine mit dir. Kuck, ob du noch was Essbares findest. Die anderen vermessen schon das Gelände.«

Hab sie johlen hören, als ich an ihnen vorbeigerannt bin.

Riski fragt: »Seit wann läufst du?«

»Weiß nicht. Seit sechs?«

Er will nicht wissen, zu welcher Stunde, sondern in welchem Alter ich damit angefangen habe.

»Schon immer.«

Sandra kommt um den Kantinencontainer gerannt. »Kann ich morgen mal mitlaufen?«

»Mitlaufen? Weiß nicht. Wie schnell bist du?«

Sandra zögert: »Ich war noch nie joggen.«

»Dann musst du erst mal üben, Kondition kriegen und dein Tempo finden«, sage ich.

»Warum bringst du es ihr nicht bei?«, fragt Beck.

»Weil ich das nicht kann«, sag ich und gehe frühstücken. Mach’s doch selber, Pädagoge, denke ich. So ein Schwachsinn. Klar hätte er es am liebsten gesehen, wenn ich nicht mehr allein laufen würde. Aber darum geht’s ja gerade! Sonst könnte ich mit Vanessa, Jana und Sandra eine Bauch-Beine-Po-Gymnastik-Gruppe aufmachen.

Allein bei der Vorstellung wird mir kotzübel.

Und nicht nur mir, wie sich am Abend herausstellt.

BOING! SCHEPPER! KLIRR! SCHLUCHZ!

Entweder Vanessa oder Jana wirft sich aufs Bett und schnieft ins Kissen.

Zwischen Absperrlaken und meinem Spind taucht Sandras Kopf auf. Sollen wir trösten, irgendwas machen?, fragen mich ihre Augen. Ich schüttle den Kopf und sie zieht sich lautlos in ihre Koje zurück.

Wieder knallt die Containertür ins Schloss, und dem entschlossenen Stiefelquietschen auf Industriestahlboden nach zu urteilen, gibt’s gleich Stress.

»Du hast Nils angemacht, Bitch!« (Jana?)

»Nein, du lässt die Pfoten von ihm! Schlampe!« (Vanessa?)

Die Stimmen sind einfach nur schrill. Keine Ahnung, ob Vanessa oder Jana keift.

»Er ist mein Freund, du Arsch!« (Jana?)

»Nein, meiner!« (Vanessa?)

Wieder taucht Sandras Kopf auf. Sollen wir eingreifen?, fragen ihre blitzenden Augen.

Nein, nein, nein! Ich schüttle entschieden den Kopf. Da kann man nur alles falsch machen.

Vanessas Vorliebe gilt den Einsilbigen. Sie macht im fliegenden Wechsel mit Lars, Cem, Sam, Nils und Ben rum. Drama und zwei Schlägereien in Folge. Kaum verliert sie ihr Interesse an einem der Jungs, tröstet Jana Lars, Cem, Sam, Nils und/oder Ben. Drama. Beinahe-Schlägereien. Und jetzt behaupten beide, die jeweils Andere würde ihnen die täglich wechselnden Lover ausspannen. Öde.

Ich muss dringend meine Panikbücher woanders verstecken.