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Wir seilen uns unauffällig ab.

Paolo sagt: »Tilly und ich fahren nach Bad Stockbach, Unterrichtsmaterial besorgen.«

Der Chef, irritiert: »Ihr geht doch gar nicht zur Schule.«

»Wir bereiten uns auf den Realschulabschluss in zwei Monaten vor, Chef.« Paolo beherrscht den vorwurfsvollen und gleichzeitig rücksichtsvollen Ton perfekt, der jede pädagogische Kraft in Knetmasse verwandelt.

»Was ist mit Kolja?«, fragt mich der Chef.

»Der übt Französisch mit Laura, Anja, Hanna und Mia.«

Der Chef kommentiert diese Information nicht, und wir düsen auf dem Roller ab, bevor er sich einen Hinderungsgrund ausdenken kann.

Von zwei Rechnern im Bad Stockbacher Internetcafé aus bloggen wir im Spreewald-Ruderforum und streuen Gerüchte. Ich bin ***Vikinger, Paolo ist Gurken-Kanu-King.

***Vikinger 13:19

Was issn das für ne Meldung??? Am Köhlerfließ bei der Steinmauer sollen Skelette rumliegen?

Gurken-Kanu-King 13:23

Auf der Mauer auf der Lauer sitzt ne Mumie rum …

Hab von den Alten gehört, dass unterm Damm der Spreewaldbahn am Köhlerfließ Leichen liegen sollen.

***Vikinger 13:25

@Gurken-Kanu-King, gehts vielleicht genauer?

Gurken-Kanu-King 13:27

@Vikinger, Geocaching mit Leichen? Ruderkumpel sagt, es ist bei 51º 52‘ 42” N 14º 8‘ 45” O

Ein Charon mischt sich ein, er hat’s auch Rumoren hören. Das ist der Moment, auf den ich gewartete habe. Wenn sich das Thema verselbstständigt, können wir aussteigen.

)Charon( 13:30

Stimmt, die Alten erzählen davon. Zeit, die Seelen von den Dämonen zu erlösen! Befreit die Toten!

»Wer war noch mal Charon?«, flüstert Paolo. Außer uns ist nur noch der Typ an der Kasse da.

»Fährmann über den Totenfluss, griechische Mythologie«, les ich ihm aus Wikipedia vor.

Gurken-Kanu-King 13:35

@Charon, erst mal die Toten finden! Dann über den Acheron rudern und Friede den Seelen.

Eins nach dem anderen, genau. Erst mal holen wir was zum Futtern. Dann machen wir in Rastkirch im Internetcafé weiter. Paolo findet ein schlecht getarntes Mittelwelt-Spreewald-Spinner-Naziforum und setzt Links.

Ich bin Sensenmann!, Paolo ist VOLKer.

VOLKer 15:07

Spreewald-Ruder-Forum was fürn thread!

Sensenmann! 15:08

Deutsch labern, Arsch! Forumsregeln respektieren!

VOLKer 15:10

@Sensenmann, labre selber Deutsch, Depp. Forum ist lateinisch. Du findest keine Skelette (=griechisch), Sensenmann, nicht mal, wenn du draufstehst!!

Leitwolf 15:20

51º 52‘ 42” N 14º 8‘ 45” O Wenn zwei sich streiten …

Bin schon da.

Sensenmann! 15:23

@Leitwolf! Dreh dich um, bin hinter dir!

Die Suche läuft. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Paolo setzt den Link ins SpreewaldProTourismus-Forum und schreibt dazu:

Leichen unterm Bahndamm – 15:24 – User: Markus

Mittelwelt-Spreewald-Forum Die Polizei im Kreis Lübben überlässt der rechtsradikalen Szene die Arbeit!

Wie erklären wir bloß unseren Gästen, dass sie sich bei uns sicher fühlen können???

»Mal sehen, ob das die Bullen auf den Plan ruft«, murmelt Paolo.

»Ich glaube, es funktioniert«, sage ich baff.

Paolo sieht auch zuversichtlich aus. Aber dann kneift er die Augen zusammen und starrt mich an.

»Was is?«, frag ich.

HEART ATTACK!

Er legt seine Hände um meinen Kopf, küsst mich und presst sich an mich. Ich höre ein leises Stöhnen, als er mich umarmt und hochhebt.

Sein erster Zärtlichkeitsanfall in der Öffentlichkeit.

»Paolo, du machst mich fertig«, sag ich leise.

»Du mich auch«, sagt er mit rauer Stimme. »Gehen wir baden, solang der Leitwolf gräbt?«

Wir fahren zum Baggersee. Kolja ist schon da und liegt im Kies auf Mia.

»Die Chance, dass die was finden, ist gleich null«, sagt er, nachdem ihn Paolo von Mia runtergeholt und über den Stand der Dinge informiert hat.

Drei Tage lang tüfteln Paolo, Kolja und ich an unserem Übungsplan für die Prüfung Mitte September. Die Suche nach Nachrichten aus dem Kreis Lübben vermeiden wir dabei nach besten Kräften. Dem Chef fällt unsere Nervosität nicht auf. Er hat nur sein Frustfressen im Sinn und kocht nonstop. Kolja assistiert ihm als Küchenjunge. »Mädchen fahren voll auf dich ab, wenn du kochen kannst«, erklärt er Paolo.

»Mir ist es lieber, wenn Kerle Karate können«, sag ich.

»Du bist nicht repräsentativ«, widerspricht Kolja.

»Und was ist mit Brigitte? Der Chef kann kochen.«

»Uschi ist auch nicht repräsentativ.«

»Aber Mia.«

»Genau.«

Ich flüchte zum Tagblatt. »Maria, lass uns reden. Und bitte, zwing mich nicht zum Essen. Ich kann nicht mehr.«

»Pst, Tilly, hör mal.« Sie dreht das Radio lauter. »Da wart ihr drei doch in der letschten Woche. Oder?«

Ich höre eine Frau sagen: »Mitglieder der Vereine Freunde der Spreewaldbahn und Biergarten e.V. haben unterm Bahndamm der stillgelegten Spreewaldbahn menschliche Überreste gefunden.«

Der Polizeisprecher: »Wir können zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht bestätigen, ob die Funde im Zusammenhang mit dem Verschwinden der fünfjährigen Alma Goedel und ihres Kindermädchens Julie Thompson vor zehn Jahren stehen.«

»Wollen wir in den Garten?«, frage ich nach diesen Nachrichten Maria benommen.

Wir setzen uns in den Schatten und sehen den Schwalben zu. Furcht kriecht mir den Rücken herauf. Von meiner Stirn läuft kalter Schweiß herunter. Brechreiz schüttet Säure in meine Kehle. Goedel wird einen Zusammenhang zu uns herstellen und zurückschlagen! Meine Rettung ist bloß eine jämmerliche Illusion. Eine harte Ladung Hass trifft mich mitten in die Brust, kalte Wut tobt sich an mir aus, schlechter Atem, Suff, Fontänen vernebelnder Gifte wabern um mich herum. Auf mir liegen Steine, schwer und scharfkantig, und ich verschwinde im Dunkel.

Jemand drückt ein nasses Tuch auf meine Stirn.

»Tilly, was machsch du denn für Sachen«, murmelt Maria. »Bleib liegen. Der Paolo kommt.«

Ich liege im Gras, muss vom Gartenstuhl gekippt sein. Ein übler Gestank steigt mir in die Nase.

»Du hosch gschpuckt. Kein Wunder kannsch nix essen.«

Ich will mich hochrappeln, aber es geht nicht.

»Warte.« Paolo hilft mir. Er nimmt Maria den Spaten aus der Hand und gräbt mit tiefen Spatenstichen, was ich am Rand des Blumenbeets von mir gegeben habe, unter. »Kann ich den Schlauch nehmen?«

Maria nickt. Er spritzt mich ab und meine Lebensgeister kommen protestierend und in Scharen zurück.

»Jetzt gibt’s Kamillentee.« Maria stellt eine Kanne auf den Gartentisch.

Widerspruch ist zwecklos. Ich setzte mich in die Sonne, trinke Tee und trockne vor mich hin.

Dann brechen Paolo und ich auf. Er hat noch keine Nachrichten gehört. Als ich es ihm erzähle, packt er meine Hand und zieht mich hinter sich her. Wir rennen die Oberstraße hoch.

»Was habt ihr denn vor?« Der Chef muss zwischen den Bohnenstangen versteckt sein. Ich sehe ihn nicht.

»Ich muss Tilly ’ne Matheseite zeigen!«, lügt Paolo, zerrt mich in seine Bude und fährt den Computer hoch. Sein Krempel liegt überall verstreut im Zimmer. Chaos. Ich kommentiere es nicht und gehe erst mal Zähneputzen.

Die Nachricht ist bereits auf Spiegel online.

Ein Mediendonnerwetter bricht los. Neue Berichte werden mit knapp zehn Jahre alten unterfüttert. Victor Georg Goedels Bild ist überall in den Nachrichten.

»Hast du’s gelesen? Sie haben die Leiche identifiziert. Es ist eindeutig Julie Thompson. Jetzt suchen sie nach den sterblichen Überresten von Alma Goedel. Ha! Da können sie lange suchen!« Paolo wirft sich auf mich.

Ich falle rückwärts aufs Bett. Er liegt auf mir, seine Hände unter meinem T-Shirt, seine Lippen auf meinen.

»Und, wie fühlst du dich?«, flüstert er.

»Sehr lebendig.« Ich lächle.

Plötzlich lässt er mich los und steht auf. Wilde Sprünge im Treppenhaus, die Tür wird aufgerissen, und als Kolja mich anstiert, sitze ich bereits ein bisschen verkrampft, aber aufrecht auf Paolos Bett.

»Jetzt ist Goedel dran!«, keucht Kolja. »Der Mann ist fertig.«

»Wenn es Gerechtigkeit gibt«, schränkt Paolo ein.

»Pass auf, dass der Chef nichts mitkriegt«, warne ich ihn.

»Warum sagen wir es ihm nicht?«, fragt Kolja.

»Bist du irre? Das darf niemand wissen!« Ich brülle.

»Dann sei du auch mal ein Phon leiser«, sagt Paolo. »Ich druck die Nachrichten aus. Könnt ihr mal kucken, ob schon im Fernseher was dazu läuft?«

Kolja und ich schieben ab und machen die Kiste an.

»Wieso soll es der Chef nicht wissen? Es würde dich doch vor Goedel schützen, wenn bekannt wäre, dass du Alma bist und lebst?«

»Bin mir sicher, dass ich genau das nicht lange überleben würde.«

»Das könnte selbst Goedel nicht riskieren«, sagt Kolja.

»Er würde sich ja nicht selber die Hände schmutzig machen. Unfälle können jeden treffen, die passieren schnell mal. Und außerdem würde ich eher in der Psychiatrie verfaulen als er im Knast.«

»Er ist gefährlich, solang er draußen ist. Er muss verurteilt werden, Tilly, nur dann bist du sicher.«

»Sollte Goedel verurteilt werden, verliert er alles, was er hat! Glaubst du echt, er würde es zulassen, dass ich aussage, dass er mich missbraucht und Julie auf dem Gewissen hat und mich umbringen wollte? Und dass er mich lebendig begraben hat?« Ich sehe Kolja an. »Wenn er mich findet, bin ich tot. Das steht fest.«

Eben erst ist die Bombe geplatzt und schon hängt sich Form-Beauty® an die Sache ran. In den regionalen Nachrichten auf RBB berichtet die Moderatorin von »unsauberen Geschäftsabwicklungen beim Verkauf des Herrenhauses Flusshorst.«

Paolo kommt rein, wirft sich aufs Küchensofa und lauscht.

»Bis zum 30. März 2013 war der Besitz auf Alma Goedel eingetragen, die am 30. März 2004 im Alter von fünf Jahren zusammen mit ihrem Kindermädchen verschwand. Neun Jahre nach ihrem Verschwinden wurde auf Antrag ihres Vaters eine Todeserklärung veranlasst und der Besitz verkauft. Nun hat man die Leiche von Julie Thompson, dem Kindermädchen von Alma Goedel, gefunden. Hat Victor Georg Goedel ein Mordmotiv?«

Es folgt die Ausführung eines Anwalts zu § 3, Absatz 2 des Verschollenheitsgesetzes: »Vor dem Ende des Jahres, in dem der oder die Verschollene das fünfundzwanzigste Lebensjahr vollendet hätte, darf er oder sie nach Absatz 1 nicht für tot erklärt werden.«

»Für Geld kann man alles kaufen«, sagt Paolo und haut auf den Tisch. »Goedel hat Schiss, dass Tilly sich an seine Brutalität und an den Mord an Julie erinnert und er dafür in den Knast wandert, und er will das Schloss verkaufen. Das sind schon zwei Motive für die Mordversuche an Tilly im Camp. Sandra haben sie das Leben gekostet und dich beinah auch.« Paolo sieht mich an. »Vermutlich hat er sich danach zurückgehalten, damit er nicht im Zusammenhang mit dem Verkauf von Flusshorst in die Schusslinie kommt. Stellt dir vor, er hätte dich umgebracht, und die Krahs erzählen im Suff herum, dass du gar nicht ihre Tochter bist. Goedel muss ja nicht nur fürchten, dass du redest.«

Mir schlagen seine Worte auf den Magen.

Kolja will von Paolo wissen: »Was meinst du, sollen wir zur Polizei gehen oder nicht?«

Keine Frage. Die Polizei ist für uns keine Option. Nicht nach unseren Erfahrungen. Paolo schüttelt den Kopf.

»Bis jetzt hat unsre Hinterhalt-Taktik ganz gut funktioniert«, sage ich.

Paolo stimmt zu: »Wir warten ab, was passiert, und passen aufeinander auf.«

»Und wenn nötig, hauen wir ab«, sagt Kolja.

Unsere Hoffnung, dass Goedel ad hoc ins Gefängnis wandert, erweist sich als unrealistisch. Die Medien setzen ihm zu und zwar in mehrfacher Hinsicht: als schamlosem Boni-Banker in Zeiten der Krise, im Zusammenhang mit dem Verbrechen an Julie Thompson und dem spurlosen Verschwinden seiner Tochter. Die Spekulationen um das Herrenhaus Flusshorst in der Berichterstattung schüren den Eindruck, dass Goedel gierig und korrupt genug für Gewaltverbrechen ist. Im Internet prasselt ein Shitstorm auf ihn hernieder. Goedel ist in Schwierigkeiten, aber das reicht noch nicht, denn er bemüht einen beeindruckenden Stab an erfolgreichen Anwälten.

Die Nachrichten bestimmen unsere Tage, bis auf den 30. Juli, da feiern wir Koljas sechzehnten Geburtstag mit einer großen Gartenparty. Von mir kriegt er einen zweiten Helm, der nicht nur Mia, Julia, Jana, Hanna … passt, sondern zufällig auch mir. Kolja freut sich sehr.

Ich stehe am Grill, öle vor mich hin und erfreue mich aufgrund meiner Position einer gewissen Aufmerksamkeit. Dafür lass ich nichts anbrennen.

»Den Fleischlappen da und ein Würstchen, bitte. Danke, Tilly«, sagt Julia, die Förstertochter.

Alle haben gute Laune. Der Chef und ich schleppen volle Getränkekisten hin und leere weg. Spät in der Nacht lagern Kolja, Paolo und ich auf Gartenliegen und sehen in den Sternenhimmel.

Erst da fällt mir Goedel wieder ein.