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Im Eis

Riski hat zugesagt, dass wir Schlag vier zum Langlauf-Training abzischen können. Doch das Motzen der 2er- und 6er-Container-Belegschaft hält uns bis halb fünf auf. Lautstark bejaulen sie die große UNgleichheit der Behandlung, die UNgerechtigkeit, unter der sie leiden, den UNsinn, den sie ganz allein abarbeiten müssen, weil wir uns dauernd drücken. Auch wenn sie sich kein Stück für das interessieren, was wir stattdessen machen. Eine echte Zerreißprobe für unsere Geduld!

Endlich laufen wir über den Fluss. Die Bedingungen hier sind ideal. Man sackt nicht ein und es ist nie ganz dunkel in der reflektierenden Eis- und Schneelandschaft. Paolo entwickelt ziemlich schnell ein Gefühl für den Rhythmus, aber Kolja fällt von einer Seite auf die andere. Ist nicht seine Stärke, das Gleichgewicht zu halten. Es dauert also seine Zeit, aber endlich erreichen wir das östliche Ufer.

Die Hütte liegt oben. Zum See hin fällt das Ufer relativ steil ab. Kolja schnallt sich sofort die Skier ab und schleppt sie an der Bindung durch den verwehten Schnee. Bis zu den Oberschenkeln sackt er ein. Leise und vorsichtig steigen Paolo und ich mit den Brettern seitlich auf. Paolo lauscht an der Hüttenwand, bevor er Kolja ein Zeichen gibt. Fünf Sekunden später ist das massive Vorhängeschloss offen. Zum ersten Mal werde ich Zeuge davon, wie einfach es für Kolja ist, ein Schloss zu knacken. Ich drehe eine Runde um die Hütte und muss an die Rentierhirten denken. Ein einsames Leben …. Oder vielleicht doch nicht?

In der Ferne dröhnt ein Schneemobil, und dann sehe ich auch schon die Lichter. Sie kommen aus südöstlicher Richtung direkt auf mich zu.

Das ist er, denke ich, Panik und Eiseskälte wechseln sich ab. Er weiß, dass ich lebe und ihm auf der Spur bin. Er will mich holen.

»Nehmt die Skier mit rein! Und verrammelt die Tür! Da kommt wer direkt hierher. Ich hol Hilfe!«

»Bist du bescheuert? Komm rein!«, protestiert Paolo.

»Bitte!«, flehe ich. »Wenn er es ist, dann hat er ein Gewehr, und wir haben keine Chance!«

»Mach, was sie sagt«, brüllt Kolja und zerrt die Skier ins Innere.

Rums, die Tür ist zu. Ich kontrolliere mein GPS und lege die Richtung fest. Dann stoße ich mich ab und fahre mit Schuss den Hang hinunter und fliege hinaus auf den Fluss. Solang der Schwung reicht, lass ich mich gleiten. Dann ramme ich die Stöcke mit ganzer Kraft in den verharschten Schnee auf dem Eis und stemme mich vorwärts. Die weite Fläche liegt vor mir. Er muss mich sehen! Und wenn er mich sieht, soll er mir folgen! Ich will, dass er mich verfolgt, und wenn er mich umbringen will, muss er hier rauskommen aufs dünne Eis. Ich fliege und jage zur Mitte des Flusses. Wo bist du, meine Schnee-Eule? Flieg vor mir her! Über die Grenze, durch Karelien über das Weiße Meer bis nach Archangelsk. Die Schneefläche vor mir reflektiert die zitternden Lichter des Schneemobils. Er ist oben an der Hütte angekommen. Von da aus muss er mich sehen! Ich laufe schnell, atme tief und mach mich leicht. Das Schneemobil heult auf, dreht hohl, wahrscheinlich ist es am Hang gestürzt. Also folgt er mir. Ich laufe Richtung Nordosten, so schnell wie nie in meinem Leben zuvor, immer weiter, immer weiter. Das Motorgeheul schwillt auf höchste Touren an, er ist auf dem Fluss. Ich laufe und lausche. Das Geheul wird immer lauter. Wie weit vom Ufer bin ich entfernt? Einen Kilometer oder mehr? Es gibt keine Anhaltspunkte – nur ein Hauch Grün, Grau, einen Schimmer Rot und unendliches Blau. Die Farben des Todes. Ich schreie und zerreiße den Polarkreis und die Eisdecke mit meinem hohen Schrei. Er soll wissen, dass ich es bin! Tilly. Dann spitze ich die Ohren. Das Motorengeheul hat den Klang verändert. Er fährt jetzt im Leerlauf. Ich beuge mich weit nach vorn und ramme die Stöcke ins Eis. Ein Schuss rollt über mich weg und noch einer. Er will die Hände frei haben und versucht, mich abzuknallen wie ein Tier! Da ist er nicht der Erste. Mich zu töten, das haben andere schon mit Prügel probiert und haben versagt. Ich fliege weiter und das Schneemobil heult auf, aggressiv und laut. Atmen und laufen, meine Arme schwingen weit nach oben aus. Ich ziehe nach links, Richtung westliches Ufer. Wie kann es sein, dass ich unter mir das Zittern spüre und immer noch Bodenkontakt habe? Ich bin so schnell, so leicht, mitten im Nichts. Das Knacken und Krachen wird lauter. Er kommt näher und macht einen ohrenbetäubenden Lärm. Meine Sinne sind auf die schneeverharschten Zeichnungen im brüchigen Eis vor mir gerichtet, bis das Scheinwerferlicht des Schneemobils nach rechts rübergleitet und ich nichts mehr sehe. Er will überholen! Ich ziehe noch weiter nach links. Und auf einmal wird alles blutrot. Blutrot zieht sich mein Schatten vor mir in die Länge und verblasst. Eine Leuchtkugel? Hat Riski den Lärm gehört und kommt endlich zu Hilfe? Das rötliche Zackenmuster in der Ferne müssen die Krüppelfichten auf dem Hügel sein. Da muss ich hin! Ich werfe mein Gewicht nach vorne. Als ich mich hochstemme, sehe ich rechts von mir ein grelles Geistern von Licht. Es kracht entsetzlich. Der Motor heult auf, verstummt und alles versinkt in Dunkelheit.

Unter mir gerät das Eis in Wallung und bäumt sich auf. Ich will mich am Himmel festhalten. Weiter-weiter-weiter! Riskis Stimme dröhnt in meinem Kopf. Ich wechsle in den Grätschschritt und laufe um mein Leben. Atme und laufe um mein Leben in die Dunkelheit hinein. Laufe und lasse das Wasserglucksen, Krachen und die hellen Töne von zerreißendem Eis hinter mir, laufe und spüre Festigkeit unter mir und laufe einfach weiter. Ein helles Licht steigt auf, hinter mir, im Osten, auf der russischen Seite. Deutlich sehe ich das westliche Ufer vor mir. Sehr viel weiter links kann ich sogar das Camp erkennen und ich drehe mich um. Die verschneite Eisdecke des Flusses schimmert im weißen Licht der Leuchtkugel. Fast unberührt, bis auf das bedrohliche, schwarze Loch fünfzig Meter hinter mir. Eine zischende, gurgelnde, aufgerissene Wunde im Eis. Niemand folgt mir mehr, nur das Licht der zweiten Leuchtkugel, die jenseits der Grenze abgeschossen worden ist.

Ich schieb die GPS-Uhr unter meinem Pullover bis zum Ellenbogen hoch und laufe den Lichtern entgegen. Zwei Schneemobile nähern sich vom Camp her.

»Wir wollten Skilaufen! Nicht in die Hütte. Aber die Tür stand auf!« Niemals käme es mir in den Sinn, freiwillig einen vorsätzlichen Einbruch zuzugeben. »Ich hab gedacht, dass die ebene Eisdecke auf dem Fluss ein ideales Übungsgelände ist. Dann ist dieser Irre mit dem Schneemobil auf uns zugerast gekommen. Die Jungs standen zum ersten Mal auf Skiern, für die war es am sichersten in der Hütte. Und ich wollte Hilfe holen. Aber er hat mich verfolgt und auf mich geschossen. Ich hab das Camp nicht sehen können, die Orientierung verloren und bin versehentlich nach Nordosten über die Grenze gelaufen. Dann habt ihr und die russischen Grenzschützer Leuchtkugeln abgeschossen, und er ist im Eis eingebrochen.«

Riski tobt. »Ich hab dir laut und deutlich gesagt, dass es flussaufwärts in der Mitte, wo er am breitesten ist, Untiefen gibt und eine starke Strömung. Die Eisdecke friert da nie ganz zu!«

Ich stottere: »Was? Das hab ich nicht gewusst.« Und dann heul ich los.

Mein Gesicht brennt wie Feuer.

Beck packt mich wieder auf die Krankentrage und dann schnauzt er: »Hol endlich die Salbe gegen den Kältebrand, Riski!«

Und Riski eilt in den Vorratsraum, ist gleich wieder an meinem Krankenlager und verteilt, nicht ohne Zartgefühl, Aloe Vera auf meinem Gesicht. Was tatsächlich das Brennen lindert.

»Wo ist Tonberg?«, frage ich.

»Draußen. Er wartet auf Mieto«, antwortet Beck. »Riski hat ihn alarmiert, als wir die Schüsse gehört haben, und ihn gebeten, seinen russischen Kollegen Bescheid zu sagen.«

»Ich hab dich sofort am Laufstil erkannt«, sagt Riski nicht ohne Bewunderung. »Du bist geflogen.«

»Das stimmt«, sagt Beck trocken. »Er hat so laut deinen Namen geschrien, dass alle Russen, Norweger und Rentiere ihn jetzt kennen.«

Riski wirkt betreten. »Ich hol mal die Helden ab.«

»Mach ihnen bloß keine Schuldgefühle.«

»Sie hätten dich nicht allein lassen dürfen«, sagt Riski hart.

»Wir wären nicht mehr am Leben, wenn sie nicht in der Hütte geblieben wären«, ruf ich ihm nach.

Ratlos schüttelt Beck den Kopf: »Wer ballert denn auf Kinder? In was für einer trostlosen Welt leben wir eigentlich, um Himmels willen?«

Ich warte darauf, dass sich mein Gesicht abkühlt und zucke zusammen, als das Telefon klingelt.

»Hm. Ja. Ist gut«, murmelt Beck. Und dann zu mir: »Russische Grenzsoldaten haben am Rand der Einbruchstelle eine Waffe gefunden. Mieto, Hultmann und Tonberg sind unterwegs dahin.«

»Wahrscheinlich hat er sie fallen lassen, bevor er eingebrochen ist«, sag ich.

»Bist du denn sicher, dass er eingebrochen ist?«

»Niemand ist aus dem Loch gekrochen. Das hätte ich im Leuchtkugellicht gesehen«, sage ich.

»Hast du ihn erkannt?«

Nein. Ich schüttle den Kopf.

Mieto bestätigt später meine Schilderung anhand der deutlichen Spuren in der verharschten Schneedecke. Überhaupt ist er netter als beim ersten Verhör. Dafür ist in den Gesichtern seiner russischen Kollegen rein gar nichts zu lesen. Wie sich herausstellt, haben Paolo, Kolja und ich, was die Hüttentür betrifft, das Gleiche erzählt. Während ich ungeduldig auf sie warte, verwandeln sich peu à peu die Sorgen und Vorwürfe der Betreuer und Ordnungskräfte in Erleichterung. Tonberg muss schon hart an der Grenze zum Ausflippen sein, denn er bereitet mit den Resten vom Abendessen und Beerenpunsch im Küchencontainer eine spontane Feier vor. Ein spätes Bergfest sozusagen.

Die Tür fliegt auf. Kalte Luft, Paolo und Kolja kommen herein. Auf ihrem Weg zu mir stürzen zwei Stühle um.

»Du wirst mich nie mehr zwingen, mich einzuschließen, während du draußen bleibst und jemand rumballert«, sagt Paolo mit rauer Stimme und quetscht mich so hart an sich, dass mir die Luft wegbleibt.

»Alter, lass mich ran.« Kolja schiebt Paolo zur Seite und packt mich an den Armen. »Bei dem Gedanken, dass dir was passieren könnte, sind wir durchgedreht! So oft kannst du nicht für uns abwaschen, wie das Nerven gekostet hat!« Er hat Tränen in den Augen.

»Tut mir leid«, sag ich leise.

Vor der Kantine wird es laut und Beck mischt sich ein: »Trommele die Gruppe zusammen, Kolja.«

Paolo baut die Anlage auf und präsentiert seine Playlist. Beim eigentlichen Bergfest hätte er den Job des Deejays übernehmen sollen. Und wie auf Knopfdruck verwandelt sich Erleichterung in Partystimmung. Die Tische werden zur Seite gestellt, meine Bahre wird weggerückt und die fiese Containerfunzel mit einem roten Küchenhandtuch verhangen.

»Ist das ’ne Kostümparty?«, tönt Vanessa. »Tilly geht als rote Ampel und ich bin gar nicht verkleidet. Oh weh!«

Kolja: »Doch. Du gehst als Nutte, egal wohin. Und, nein, das ist keine Faschingsparty, sondern ein Fest, weil Tilly noch lebt.« Pause, grimmig: »Und der Mörder von Sandra nicht mehr.«

Beck hält ihn fest, weil er drauf und dran ist, auf Vanessa loszugehen. Außer Beck eilt keiner zu ihrer Verteidigung herbei. Das fällt nicht nur mir, sondern auch ihr auf.

»Mann, das war doch nicht bös gemeint«, so ihre gemaulte Entschuldigung.

Jana gibt mir natürlich auch noch einen Rat: »Sei doch nicht so empfindlich. Du bist nun mal knallrot im Gesicht …«

»Verzieh dich«, sagt Paolo ganz ruhig.

Ich seh nur noch ihren Absatz, und wir feiern.

Zigmal versichere ich Kolja, dass alles okay ist, dass wir drei nur deshalb so viel Glück gehabt haben, weil er Paolo überredet hat, in der Hütte zu bleiben. Auf dem Eis wären wir chancenlos gewesen und in der Hütte ebenso. Wir tanzen zusammen den Indianertanz. Und dann heulen wir zusammen, weil Sandra tot ist. Und dann trinken wir mit Paolo Beerenpunsch und tanzen und heulen zu dritt.