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Krise

Unser sensibles Gefüge kracht zusammen, das Klima verschärft sich. Im November ist die Stimmung im Haus am Gefrierpunkt. Der Chef war der erste Erwachsene, zu dem wir Vertrauen hatten. Jetzt liegt es in Trümmern. Bisher hat er sich nicht um unsren Kram gekümmert, plötzlich schnüffelt er uns nach. Wir sehen seine Selbstüberschätzung, die ihn glauben lässt, wir seien an seinem Geist genesen. Dabei haben wir das Chaos, das andere vor uns und an uns angerichtet haben, selbst überwunden, oder versuchen es zumindest.

»Ich kann mich nicht auf den Scheiß konzentrieren.« Frustriert schiebt Paolo den Wust an Informationsmaterial zur gymnasialen Oberstufe weg.

Eigentlich hatten wir vor, das Gesamtpaket der Kurse, Pflicht- und Wahlfächer in übersichtliche Lernschritte zu unterteilen, in Listen zum Abhaken. Weitermachen im Sinne von Wissen anhäufen und vergessen. Und damit das Vergessen nicht vor der Zeit den Hirninhalt löscht, wollten wir die Fächer nach Neigung unter uns verteilen und uns gegenseitig damit füttern. Blödsinn, das alles. Wir sind total durcheinander. Unser pseudofleißiges Herumsitzen in unserer verdammten Lernküche kommt uns sinnlos vor.

»Immerhin, die Mittlere Reife haben wir.«

Vielleicht will Kolja tröstende Worte fallen lassen. Ich finde, »das klingt wie mittlere Katastrophe oder ein bisschen schwanger

»Schüchterner Steifer«, reimt Paolo weiter.

»Aufhören, depperter Rapper.« Kolja schüttelt sich und erstarrt mitten in der Bewegung. Unten knallt die Tür. »Wo geht er hin? Nimmt er’s Auto?«

Wir lauschen, und als der Chef vom Hof fährt, stürzen wir die Treppen runter und schnüffeln in seinen Unterlagen.



Kapitel 1: EPM – Die Maßnahme

Kapitel 2: Tilly Krah, Kolja Jäger, Paolo Motta

Kapitel 3: Pädagogisches Konzept

Kapitel 4: Anfangsphase in Lauterstetten

Kapitel 5: Schulische Entwicklung

KOTZ!

Mangels Unterlagen notiert der Chef die Fakten aus dem Gedächtnis, was uns noch katastrophaler, gestörter und krimineller dastehen lässt, als die traurigen Tatsachen es hergeben.

Kolja liest vor: »Paolo Motta, ab dem zwölften Lebensjahr dreimalige Unterbringung in Sicherungsverwahrung, viermalige Unterbringung in Erziehungsanstalten …«

Paolo, scharf: »Hör auf.« Er versucht, ein handschriftliches Beobachtungsprotokoll zu entziffern. »Er schreibt auf, was wir machen! Mit Uhrzeit!«

»Stellt er einen Zusammenhang zwischen uns und den verschwundenen Akten her?«, frage ich leise.

»Das nehme ich an«, sagt Kolja und wühlt in den Papieren.

»Glaubst du, er würde mich für Geld an Goedel verraten?« Panik wabert hoch.

»Ich trau ihm alles zu«, sagt Kolja. Er kocht vor Wut. »Am besten wär’s, die ganze Bude abzufackeln.«

Stattdessen räumen wir hinter uns auf und hinterlassen alles so, wie wir es vorgefunden haben.

»Tilly«, sagt Paolo eindringlich. »Du darfst nicht wieder paranoid werden. Wir müssen ihn im Auge behalten und unser Ding machen. Er hat keine Macht über uns.«

Leichter gesagt als getan. Ich muss dringend schreiben und brauch sofort mein Panikbuch!

»Ich geh zum Tagblatt.«

Die Ruhe bei Maria tut mir gut. Wir putzen zusammen ihre Küche, trinken Kakao, plaudern und essen Apfelkuchen. Ich stecke mit den altertümlichen Haarnadeln ihre losen Haare am Hinterkopf fest.

»Soll i sie abschneiden?«, fragt Maria.

»Nein!«

Sie sind schneeweiß und fein. Morgens fummelt Maria sie zu einem Nest zusammen und plagt sich damit ab.

»Wann sind sie das letzte Mal geschnitten worden?«

»Warte mal«, sie überlegt, »da war i zwölf, also vor siebzig Jahren. Jetzt hätt i gern so eine Frisur wie du.«

Nicht schon wieder! »Dann färb ich mir meine weiß.«

Doch Maria ist es ernst und ich schneide ihr die Haare. Kinnlang mit Pony und Mittelscheitel. Es steht ihr, sie sieht wunderschön aus und leuchtet mich aus ihren blauen Augen an.

Ich stecke ihre abgeschnittenen Haare in einen Umschlag. »Das sind Zauberhaare. Ich knüpf mir eine Kette daraus, und bei jedem Knoten kann ich mir was wünschen.«

Maria kichert: »Zauberhaare, soso. Und deine Wünsche gehen dann in Erfüllung?«

»Ja.«

»Wie viele hoscht du denn?«

Ich sag: »Drei.«

»I bin a Fee!« Maria kann sich vor Lachen kaum beruhigen.

»Genau«, sag ich.

»Schneide du drei Haar von dir ab. Du bisch nämlich auch a Fee. Und i hätte da auch noch drei offene Wünsche.«

So sitzen wir beieinander und zaubern. Dann hole ich das Alma-Marter-Material aus dem Keller.

In den folgenden Wochen lernen wir. Ich klebe ein Zauberhaar von Maria in mein Panikbuch und verstecke es so gut, dass ich es selbst nicht auf Anhieb wiederfinde. Ich krieg Panik und denke: Er hat’s gefunden! Jetzt weiß er Bescheid. Er geht zur Polizei und schreibt darüber, dann weiß es die ganze Welt und Goedel bringt Paolo, Kolja und Maria um.

Wir reden nicht mit dem Chef und er nicht mit uns. Er führt Interviews. Mit dem Aufnahmegerät platzt er in die Küche. »Stör ich?«

Kolja: »Ja.«

»Ich kann später wiederkommen.«

»Wozu?«

»Ich will euch ein paar Fragen stellen.«

»Du willst ein Interview mit uns machen?«, fragt Paolo.

Der Chef reagiert nicht auf die Wut, die in Paolos Stimme mitschwingt, vielleicht hört er auch nicht richtig zu. »Ja. Für mein Buch.«

»Ohne mich!« Paolo rastet aus. »Der Scheiß soll da ruhen, wo er ist, und arrivederci, auf zu neuen Ufern! Daran arbeite ich!«

Ich sage nichts, aber Kolja kann sich nicht zurückhalten. Seine Lippen sind weiß. »Ich rackere mich wie ein Idiot für eine Perspektive ab, die nicht von vornherein durch das ruiniert ist, was mir mein Vater jahrelang angetan hat. Ich komme in deinem Buch nicht vor, Chef. Das verstehst du sicherlich.«

»Ihr wisst doch gar nicht, was ich fragen will?«

Paolo: »Was sind eure ersten Erinnerungen? Wie war eure Kindheit? Warum habt ihr geklaut, gedealt, habt die Schule geschwänzt, seid irgendwo eingebrochen? Wann seid ihr das erste Mal von der Polizei aufgegriffen worden? Fragen dieser Art?«

»Es geht auch um unser gemeinsames Leben.«

»Wenn jemand meinen Namen googelt, stößt er auf dein Interview und auf meine Geschichte! Hältst du das für ’ne gute Idee?«, fragt Kolja.

»Eure Namen werden geändert.«

»Super! Sehr mysteriös. Kein Mensch wird wissen, wer die drei Jugendlichen aus dem Buch des hervorragenden Sozialpädagogen Michael Beck aus Lauterstetten sind.« Paolos Stimme trieft vor Hohn.

Der Chef ist verletzt. Er presst den Mund zusammen.

QUIETSCH. Die Tür knallt. Der Rahmen zittert.

Die folgende Stille wird vom rauschenden Wasserhahn unterbrochen. Paolo füllt sich ein Glas und trinkt es wie ein Verdurstender auf ex leer. »Der hat sich total in sein Buchprojekt verbissen. Der wird seinen Blödsinn schreiben, ob wir nun protestieren oder nicht. Wir sind ihm egal. Was sagst du?« Er fragt mich.

»Keine Freundin, keine Kollegen. Er führt das einsame Leben eines Autors auf dem Land, und dann ziehen sich auch noch seine Zöglinge vor ihm zurück.« Ich sehe ihn an. »Es wird hart und sehr unangenehm für uns werden.«

Kolja nickt. »Wir hauen ab. Ist doch sinnlos, unseren alten Dreck zu beseitigen, wenn er sich öffentlich damit schmücken will!«

Ich will nicht abhauen. Noch nicht. »Die Wochen, bis wir zu Riski fahren, können wir doch weitermachen wie bisher.«

»Und dann?« Paolos Wut ist Ratlosigkeit und Trauer gewichen. Er wirkt müde.

Es versetzt mir einen Stich, ihn so verletzt zu sehen. »Wir bauen uns in aller Ruhe eine komplett neue Identität auf«, schlag ich vor. »Neue Namen, Papiere, neue Geschichten, ein neues Leben und ein super Abiturzeugnis. Dann nehmen wir uns eine Wohnung in Berlin, studieren und machen Party.«

Koljas Stuhl stürzt um. Er packt und zerquetscht mich. »Obergestörte, hat dir schon mal wer gesagt, dass du stark bist, unzerstörbar, schön und sehr klug?«

»Aua! Hör ich ständig. Lass mich los!« Marias besticktes Tilly-Tuch liegt auf unserem hart gewordenen Brot. »Ich bin nicht Tilly Krah und auch nicht Alma Goedel. Hab schon mal die Identität gewechselt. Taufen wir uns selbst.«

Ein neuer Anfang, die Vorstellung gefällt uns.

Paolo lächelt. »Keiner weiß, wer wir sind, und Goedel sucht dich vergeblich.«

Wir spielen Verfahren durch, wie wir uns eine neue Identität besorgen können. Wir überlegen, welche Papiere man so braucht: Geburtsurkunde, Personalausweis, Zeugnisse, Fahrerlaubnis, polizeiliche Anmeldung, polizeiliches Führungszeugnis, Sozialversicherungsnummer. Sollen wir Papiere stehlen, fälschen, kaufen oder austauschen? Wie können wir neue Existenzen gründen und weiterentwickeln? Es macht Spaß. Schritt für Schritt spüren wir die wachsende Gewissheit, dass wir sehr wohl selbst über unser Geschick bestimmen können.

»Wo sind unsre adeligen Schülerausweise?«, frag ich.

»In meinem Geheimversteck«, sagt Paolo.

»Aha, und wo ist das?«

»Haha.«

Geheimversteck, das ewige Problem. Die ständige Suche nach dem sicheren Ort.

Der Chef meidet die Bibliothek, wahrscheinlich will er uns nicht über den Weg laufen. Ich habe Angst davor, dass seine verletzte Zuneigung in blanken Hass umschlägt. Was sind eure ersten Erinnerungen? Wie war eure Kindheit? Auf die Fragen aus Paolos Pseudo-Interview steht meine Antwort fest: Mein Leben ist ein Eiertanz. Immer habe ich vermieden, dass die, die mir das Leben zur Hölle machen, von mir enttäuscht sind oder sich über mich ärgern. Die vergiftete Atmosphäre im Haus lässt meine Fluchtimpulse vibrieren.

Aber zunächst muss ich die dicke Sammelmappe von Dr. Ludwig Ernst Becks loser Arbeitsblättersammlung befreien und mit meinem Alma-Marter-Material vollstopfen. In dieser Ecke der Bibliothek wird Beck Junior niemals ein Versteck von einem von uns vermuten. Er meidet alles, was mit der Arbeit seines Vaters zu tun hat. Ich schiebe die Mappe wieder auf das untere Regalbrett und packe andere, schwere Ordner obendrauf. Meine Hände haben Abdrücke auf den staubigen Hüllen hinterlassen. Sauber gewischt sieht es noch verräterischer aus. Ich hol den Staubsauger, nehme den Beutel raus und blase vorsichtig Staub in die hintere untere Regalecke.

»Was machst du denn hier?« Der Chef.

Schock. Ich zwinge mich dazu, mich nicht umzudrehen.

»Ich check nur, ob da noch was reingeht. Wollte saugen. Stör ich dich?«

Ich hab ihn nicht reinkommen hören.

»Nein, ich hol nur ein Buch.« Pause. »Nett von dir.«

Jetzt stehe ich auf und dreh mich um. »Hoffentlich verstehen wir uns nach der Reise wieder so gut wie vorher«, murmle ich hilflos. Drei Tage noch, dann fliegen wir zu Voito Riski ins Eis. Allein, ohne den Chef.

»Tja«, sagt er. Nicht unfreundlich, aber auch nicht versöhnlich. »Wir werden sehen.«

Wir werden sehen. Klingt nach Vorbehalt, Skepsis. Wir werden sehen, hat der Blinde gesagt. Ich bin wieder allein mit dem Staubsauger und meinen düsteren Gedanken. Der Chef will nichts zu unsrer Versöhnung beitragen. Plant er, uns loszuwerden?

Unversöhnlichkeit bedeutet Gefahr.