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Ich bin Tilly Krah.

Ob unsere Viererkonstellation mit Beck ein Glücksgriff ist oder nicht, das ist noch nicht raus. Das neue Jahr hat eben erst angefangen und meine Zukunftswünsche sind bescheiden. Ich bin nicht mehr so naiv zu erwarten, wir würden uns im Wohnzimmer des Chefs vorm knisternden Kamin zum abendlichen Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel treffen und uns unterhalten, gemeinsam kochen und essen. Gedanken an Sexspiele oder auch nur an einen Spaziergang mit Paolo verbieten sich von selbst. Er ist so offensichtlich auf dem Rückzug, da mach ich mir nichts mehr vor. Aber irgendwie hab ich erwartet, mit Rücksicht auf die ländliche Massentierhaltung ginge Silvester ruhiger ab. Sensible Säue soll man nicht erschrecken, und Kühe würden saure Milch kriegen, wenn’s um sie herum kracht, hab ich gedacht. Im Gegenteil: Die Hiesigen verballern die gesamte Jahresproduktion der chinesischen Feuerwerksindustrie, wenn auch nicht allein. Kolja und Paolo sind mitten unter ihnen. Paolo bei den Kerlen, schwankend, immer eine Flasche an den Lippen. Kolja legt ritterlich Feuer an die Bombenrohrkracher der Mädchen und lässt für sie aus Paolos frisch geleerten Flaschen Raketen abzischen. Brunftzeit Jahreswende.

Die Mädchen kreischen.

Die Kerle johlen: »Mir goht oiner ab!«

Wir leben auf dem Land, in Lauterstetten, im äußersten Südwesten der Schwäbischen Alb. Der Anschlag am Gemeindehaus behauptet, Lauterstetten sei Heimat für 689 Seelen. Wir nicht mitgezählt. Uns halten die für seelenlose Zigeuner, zumindest Paolo und mich.

»Bist du Deutsche?«

Ich nicke.

Staun. Ungläubig: »Sind deine Haare echt sooo schwarz oder gfärbt?«

Ich sondere mich ab. Gelernt ist gelernt: In »Gemeinde« steckt das Wort gemein. Hab alle vielfältigen Formen von Gemeinheit schon gehabt. Nur die noch nicht: Dipl. Soz. Päd. Becks Erziehungsplan für uns sieht vor, dass wir noch weitere Schlüsselqualifikationen erwerben müssen.

A. Paolo, Kolja und ich müssen lernen, vom untersten Sozialhilfesatz leben zu können, denn das sei unsere Zukunft, sagt er. Wir sollen lernen, den zeitlosen Chic aus Secondhandläden neuen, sprich geklauten, Klamotten vorzuziehen. Statt Sachen aus dem Supermarkt zu verkochen, sollen wir selbst gezogenes Gemüse vom Acker verwenden. Im Licht der funzeligen Glühbirne im Spinnenkeller muss ich Kartoffeln mit armlangen Trieben holen und in einem Sandhaufen voller Krabbelviecher nach Möhren und roter Beete graben. Horror!

B. Sollte es möglich sein, dass wir uns, trotz des extrem verkorksten Starts in unser Dasein, einen Rest eigener Vorstellungskraft erhalten hätten, was wir mit unserem Leben realistisch, das betont Beck ätzend, anfangen wollen, dann werde er uns bei unseren Vorhaben keine Steine in den Weg legen.

C. Gesetzt den Fall, wir zeigen Motivation und Ausdauer, will er sich richtig dahinterklemmen, dass es uns gelingt, unseren Weg zu gehen.

Wenn nicht, zurück auf A.

Er kümmert sich hauptsächlich um den Ausbau seines Bauernhofs und um die komplizierte Fernbeziehung zu einer, die wir nicht zu Gesicht kriegen.

Wir sind mitten in der Provinz gelandet, exakt hinterm Reißverschluss, sozusagen im Schritt der toten Hose. Hier hat der Chef, also Beck, vor zwei Jahren von seinem verstorbenen Vater, Dr. Ludwig Ernst Beck, das Bauernhaus geerbt, das er seither verbissen renoviert. Und weil es ihm auf die Nerven geht, wenn wir ihn in der Werkstatt stören, steckt er uns in einen Vorbereitungskurs für den externen Hauptschulabschluss, obwohl wir unserer Schulpflicht nachgekommen sind und mehr als unregelmäßig neun furchtbare Jahre in wechselnden Lehranstalten abgesessen haben.

Morgen, am 7. Januar, geht’s los.

»Tilly!«

Ich reagiere nicht, sitze auf dem Fensterbrett und blicke im bläulichen Dämmerlicht Richtung Süden auf vereinzelte Schneeflächen. Sie machen, dass die Felder drum herum besonders düster aussehen. Seltsam warm ist es zurzeit. Die Landschaft ist gut zum Laufen. Nicht lieblich, aber schön, ein Auf und Ab, weit und karg wie das Zimmer hinter mir. Mein Zimmer: ein Bett, ein Schrank, ein Stuhl, ein Tisch, that’s it. Eine Tür mit Schlüssel, das war meine einzige Forderung bei der Zimmervergabe. Größe und Lage – egal. Paolo hat das größte Zimmer genommen. »Ich bin der Älteste.« Dafür hat Koljas Zimmer einen direkten Zugang zum Badezimmer, das er sich mit Paolo teilt. Mein kleiner Raum geht nach Süden raus und ich hab ein eigenes, klitzekleines Badezimmer für mich allein. Dusche, Waschbecken, Lokus nur für mich – Luxus pur! Ich liebe es, könnte jede einzelne Kachel knutschen. Das gilt nicht für die Küchenkacheln am Ende des Flurs. Hier sollen wir nach der Vorstellung des Chefs unsere extrem preiswerten und trotzdem gesunden Gerichte zubereiten und die hygienische Pflege eines Gemeinschaftsraumes üben. Ein Sessel und zwei Sofas stehen über Eck neben dem Esstisch, über dem der Chef tückischerweise den Fernseher angeschlossen hat. Wir sind gezwungen, uns hier miteinander zu arrangieren.

Paolo hält die Wohnzimmerküche für den Ort, an dem ich meinen letzten Schliff als Magd bekommen soll. »Tilly, Abwasch. Du bist dran.« Morgens, mittags, abends. »Der Herd muss abgekratzt werden, Tilly.« Nicht witzig. Paolo ist nicht die größte Enttäuschung meines Lebens, aber ziemlich dicht dran.

Das Bauernhaus ist voller überdachter Möglichkeiten. Doch trotz der riesigen Heuböden, Ställe und Verschläge habe ich für meine Panikbücher noch kein vernünftiges Versteck gefunden. Lauterstetten und Umgebung dagegen kenn ich bis zum letzten Schuppen. Ich kontrolliere, wer durchs Kaff fährt, habe einen Blick auf Autokennzeichen, lausche, wer hinter mir hergeht, und bin trotz täglicher Panikattacken FAST sicher, dass keine Frankfurter Mitarbeiter der GDS, Gesamtdeutsche Security, oder anderweitige verdächtige Subjekte hinter mir her sind. Trotzdem klebe ich einen Plan vom Kaff ins Panikbuch, mach Kreuzchen und schreibe:



6. 1. 13

Lauter Stellen für Heckenschützen in Lauterstetten,

allein bis zur Bushaltestelle 26 Möglichkeiten.

Das ist nur ein Beispiel meiner zahllosen Widersprüche, die mich total unentspannt machen.

»Tilly!« Kolja platzt ohne anzuklopfen bei mir rein. »Beck hat gekocht. Unten riecht es wie im Hotelli Inari, total lecker. Komm endlich, ich sterbe vor Hunger. Wir essen in seinem Wohnzimmer und anschließend will er sich mit uns unterhalten. Vorm Kamin.« Die Vorstellung gefällt ihm. Seine Augen leuchten. Er blüht auf. Das Landleben tut ihm gut.

»Klopf gefälligst an.«

»Komm gefälligst runter, Zicke. Ewig nervst du rum, dass du mit uns einen Kaminabend machen willst …«

Ja, hab ich mir zu Weihnachten gewünscht, stimmt. Ich hatte auch für alle ein Geschenk. Macht ja nichts, hab’s kapiert, obwohl ich ’ne lange Leitung hab.

»… und jetzt lässt du dich bitten und uns warten.«

Jawohl, Arschloch. Ist doch logisch, dass ich nicht die Einzige bin, der entwürdigendes Betteln und Warten keine Feierlaune machen, denke ich.

Worauf mich Gedankenleser Kolja packt und hinter sich her die Treppe hinunter ins Erdgeschoss schleift.

Beck bewohnt es allein. Uns ist das Betreten in seiner Abwesenheit untersagt. Absolut tabu ist für uns die Bibliothek seines verstorbenen Vaters im ersten Stock, wo unsere Zimmer liegen. Sie befindet sich über Becks Wohnzimmer und ist abgeschlossen. Kaum war das Verbot ausgesprochen und der Chef weg, hat Kolja die Tür aufgeschlossen. Überall Bücher, an allen Wänden volle Bücherregale, im Raum volle Stehregale, davor Schreibtische, Lesesessel und Lampen. Gemütlich halt, sonst nichts.

Kolja hat wieder abgeschlossen und wir sind zur Besichtigung von Becks Privaträumen geschritten. Das hab ich jetzt auch vor, also reiß ich mich aus Koljas Klammergriff los und schreite würdig in Becks Salon.

»Platz da!« Paolo rempelt mich von hinten an. »Vorsicht, heiß und fettig!« Er trägt auf, zwei dampfende Schüsseln gleichzeitig, die ihm zu schwer werden. Es scheppert beim Aufsetzen.

»Was schließen wir daraus?« Beck trägt die Rehkeule hinter Paolo her. »Du musst zweimal gehen wie ich …«

»Ich muss mir Hanteln besorgen«, entgegnet Paolo fast zeitgleich. Er zündet zwei Tischkerzen an und wirft mir einen Blick zu. »Achte auf die Tischdecke! Wie gefällt sie dir?«

»Weihnachtlich.« Außen herum am Saum laufen grob auf das Leinen gedruckte Rentiere mit Schlitten entlang. Auf dem Tisch liegt Tannengrün.

Paolo triumphiert: »Die Deko ist von mir.«

»Setz dich.« Auch Beck macht einen vergnügten Eindruck.

Ich bleib stehen, schlucke meinen Groll hinunter und schwöre mir: Nie wieder werde ich meine bescheuerte WG um etwas bitten. Entweder ich mach’s einfach, oder ich warte, bis die Affen es tun und denken, es sei ihre Idee.

»Das sollten wir jeden Samstag machen«, sagt Paolo begeistert.

Heute ist Sonntag, Schwachkopf.

»Nächsten Samstag koch ich.« Kolja, der Sternekoch.

Der Chef sieht mich an und fragt: »Kannst du eigentlich auch kochen?«

»Was heißt auch?«, frag ich zurück. Sind im neuen Jahr alle verblödet?

»Vergleichbar mit Paolo zum Beispiel?«, will er wissen.

»Kann der mehr, als an einem samstäglichen Sonntag Wasser kochen?« Das wär mir neu.

»Tilly, sei friedlich oder du kommst wieder ins Heim.« Paolo rückt mir einen Stuhl zurecht. »Hau dich hin und lass dich von uns bedienen.«

Okay. Die Rehkeule ist lecker und die Rosmarinkartoffeln, der Rotkohl und der Salat auch. Im Kerzenlicht erzählen Paolo und Kolja Geschichten aus dem Dorf. Ich kann mich nicht sattsehen am Kaminfeuer und könnte weinen, tu’s aber nicht und fahre stattdessen erschrocken zusammen.

DRINNNGGG! Die Türglocke schrillt – zum ersten Mal. Normalerweise ist die Haustür nie abgeschlossen, wenn der Chef da ist. Die Leute kommen einfach rein und rufen laut nach dem, den sie besuchen wollen.

Beck springt auf und eilt hinaus. Hä? Kommt etwa seine Freundin zu Besuch? Mit Flötenspiel?

Kinderstimmen und Gesang werden lauter.

Wir gaffen zuerst uns an, dann einen Mohren mit geschwärztem Gesicht unterm Turban, gefolgt von zwei Königen.



Führ uns zum Stall und zu Esel und Rind,

Stern über Bethlehem, führ uns zum Kind.

Sieben Augenpaare sind auf uns gerichtet. Die singenden Könige werden begleitet von drei Flötenmädchen und Pater Johannes Kloop, Weihrauch schwenkend.



Stern über Bethlehem, wir sind am Ziel,

denn dieser arme Stall birgt doch so viel.

»Vielen Dank, ihr Lieben.« Freudestrahlend stopft der Chef je zwanzig Euro in die Sammelbüchsen von Melchior und Balthasar. »Zum Aufwärmen einen Schnaps, Pater?«

»Da sag ich nicht Nein.«

Mir fällt auf, dass der Chef eine Flasche und Gläser auf einem Tablett bereits vorbereitet hat. Wir stehen verklemmt am Tisch. Der Pater blickt wohlwollend auf uns vom Brauchtum überrumpelte Problemkinder und sagt: »Prosit.« Der Schnaps geht weg auf ex und wird abgenickt. »Ein guter Tropfen.« Wieder ein neugieriger Blick auf uns: »Sind das Ihre Heiligen Drei Könige?«

»Zwei, und eine Königin.« Der Chef wackelt amüsiert mit dem Kopf. »Nur was das ›heilig‹ anbelangt …?«

»Ja, das ist ein großes Wort«, bestätigt der Pater.

Die Flötenmädchen und Sternsinger starren Paolo, Kolja und mich unter ihren verrutschten Mützen, Kronen und dem Turban grimmig an, bis wir den Grund kapieren und hektisch in unseren Hosentaschen graben. Was wir an Geld finden, stopfen wir in Melchiors Büchse. Balthasar hält seine hinterm Rücken verborgen. Caspar haut den Stern von Bethlehem gegen den Türbalken, als er den kichernden Flötenmädchen folgt, die als Erste den Abgang machen.

Draußen wischt der Pater die verblassten Ziffern und Zahlen über der Eingangstür weg und schreibt 20*C+M+B*13 mit weißer Kreide hin, dazu murmelt er »Christus mansionem benedicat« und lässt den Weihrauchschwenker auspendeln.

Der Chef übersetzt: »Christus segne dieses Haus.« Dann grinst er uns an. »Na, dann hoffen wir jetzt mal das Beste. Schnell rein in die frisch gesegnete Stube.«

Die Sternsinger ziehen Richtung Hoftor ab, die Straße runter zum nächsten Haus. In der warmen Stube schnüffeln Paolo und Kolja an der Schnapsflasche, bis der Chef sie in die Vitrine stellt.

»Das war schön«, sage ich.

»Mein Lieblingsfeiertag«, sagt er.

Ich kann mir nicht verkneifen zu fragen: »Essen wir deshalb heute alle zusammen?« Mir ist es vorgekommen, als hätte der Chef es genossen, sich dem Pater mit uns im Licht der Kerzen am gedeckten Tisch zu präsentieren.

»Wir hätten das schon zu Weihnachten machen sollen«, antwortet der Chef.

»Und warum haben wir nicht?«, bohr ich nach, weil ich das bis heute nicht verstanden habe.

»Weil eure Zimmer nicht fertig waren und der Antragsstress nicht abgeschlossen war. Bei den Behörden war zwischen den Feiertagen kein Schwein zu erreichen …« Den Krach mit seiner Freundin, die nicht gekommen ist, nachdem er sie mit der Nachricht über seine neuen Mitbewohner überrascht hat, erwähnt er nicht. Wir haben das Gezeter auch so mitgekriegt. »… und Paolo und Kolja waren noch nicht so weit«, rundet der Chef seine Begründung ab.

Die Jungs: »Was?« »Wir?« »Was soll das?«

»Ja, ihr. Wollt ihr jetzt Nachtisch oder was?«

Vielleicht ist der Chef ja genauso schwankend in seiner Gemütslage wie ich, kommt mir in den Sinn, denn so mütterlich habe ich ihn noch nie erlebt.

»Wieso hatten die zwei Sammelbüchsen dabei?«, lenke ich Kolja und Paolo von weiterem Protestgeschrei ab.

»Eine war für die Kinder und eine für die Kirche«, sagt Beck und stellt duftende Bratäpfel und eine Schüssel Vanillesoße auf den Tisch.

»Mann, so hab ich mir immer eine Waldweihnacht vorgestellt. Ich hab ein Kinderbuch gehabt …« Koljas Begeisterung kriegt von Paolo einen Dämpfer verpasst.

»Weiß nicht, ob sich die Rehlein des Waldes mit uns zum Rehbraten an einen Tisch gesetzt hätten«, sagt er.

»Hör bloß auf, du Zyniker. Verdirb mir nicht den Appetit!« Kolja rammt ihm den Ellenbogen in die Seite.

»Habt ihr alles gepackt für morgen?«, will der Chef wissen.

Mist, statt Bratapfel mit Nussfüllung spüre ich sofort eine Faust im Magen. Wieder eine neue Schule, neue Mitschüler, Prüfungen. Auch Paolo und Kolja blödeln nicht mehr rum.

»Kannst du Kolja und mich nicht für den externen Realschulabschluss anmelden?«, mault Paolo.

»Hast du dir jemals deine Zeugnisse angeguckt?«, fragt Beck ungläubig. »Nichts gegen ehrgeizige Ziele, aber bleib mal auf dem Teppich.«

»Kann doch nicht angehen, dass wir drei gleich viele Jahre zur Schule gegangen sind.«

»Ist aber so. Bei dir und Kolja ist ein Schuljahr nicht angerechnet worden, weil zu viele Fehlzeiten dazwischen waren.«

»Warum meldest du uns nicht alle drei für den externen Realschulabschluss an?« Paolo gibt keine Ruhe.

»Geht erst ab sechzehn. Abgesehen davon ist es Blödsinn, sich von vornherein durch eine unrealistische Zielsetzung zu entmutigen.«

Paolo: »Wieso? Ich bin bald sechzehn!«

»Für den Realschulabschluss solltest du abgesehen von deinen Lebensjahren auch die von Kolja und mir an deinen Fingern abzählen können.« Ich werde am sechzehnten Januar, also in zehn Tagen, erst fünfzehn. Er hat es vergessen, wie er alles vergessen hat! Übrigens wird auch Kolja erst Ende Juli sechzehn.

Paolo haut seine Gabel in den Apfel und der heiße Bratapfelsaft spritzt ihm ins Gesicht. Italienische Flüche begleiten seinen Abgang.

»An Epiphanias wird nicht geflucht!«, brüllt ihm Beck hinterher.

Die Stimmung kühlt merklich ab und ich verkrampf mich wieder, aber Kolja findet die richtigen Worte für den Chef: »Wir machen das schon«, beruhigt er ihn. »Wir haben gepackt. Wir wissen, wann der Bus fährt. Und die Prüfung schaffen wir auch.«

Beinahe hätten wir es vermasselt. Ich sehe die Hand vor Augen nicht. Kurz nach sechs in der Früh schlittern wir drei einsamen Gestalten durch die dörfliche Stille zur Haltestelle und suchen Schutz hinter einem vereisten Strauch. Polarwinde pfeifen durch Lauterstetten. Wir suchen körperliche Nähe, was sonst nicht unser Stil ist. Die sensationellen Ausnahmen geistern in scharfen Bildern vor meinem inneren Auge, und als sich Paolo an mich presst, jagt mir ein schmerzhaftes Ziehen durch die Wirbelsäule. Paolo verhakt einen derart verlangenden Sekundenblick in meinen, als hätte unsere Berührung bei ihm die gleichen Gefühle geweckt.

In dem Moment kommt der Bus und fährt »Halt! Stopp!« an uns vorbei! Vielleicht hat der Fahrer uns ja wirklich nicht gesehen. Wir rasen hinterher. Fünfzig Meter weiter vorne an der Kreuzung nach Rastkirch macht er die Tür auf. Unser keuchender Atem beschlägt sofort die Scheiben. Paolo bibbert vor Kälte und zeigt Züge von Verbitterung, weil er sich nie warm genug anzieht. Er findet sich cool mit seinen langen Beinen in dünnen Hosen und mit einer dünnen Jacke drüber. Ich schlottere vor Angst wie meistens. In Rastkirch nehmen wir die Bahn in die Kreisstadt. Nach anderthalb Stunden verpennter Fahrzeit und zwanzig Minuten Wartezeit haben wir unser Ziel erreicht.

Der Vorbereitungskurs für die Schulfremdenprüfung findet an der Volkshochschule in Bad Stockbach statt. Wir sind ein kleiner, überschaubarer Haufen. Nur vier Mitschüler, und die sind allesamt älter als wir und jobben nach dem Unterricht.

»Stellt euch bitte auf Englisch vor. Wir üben heute monologisches und dialogisches Sprechen.« Frau Huber lächelt mich aufmunternd an.

Okay. »I’m Tilly Krah«, palavere ich los und erzähle, dass wir in Finnland einen Eispalast gebaut haben. Kolja und Paolo zeigen auf ihren Handys den Mitschülern Fotos. Es macht Spaß. Unser Englisch kommt dank unsrer finnischen Praxis durchaus flüssig und verständlich daher. In der dialogischen Übung interviewe ich Frau Huber zu unserem Kurs. Jetzt erst geht mir die Tragweite unserer Möglichkeiten auf, denn der Vorbereitungskurs ist freiwillig! Der Chef oder das Jugendamt bezahlt ihn. Die mündliche und schriftliche Prüfung ist im Mai hier in der Volkshochschule. Frau Huber und ein weiterer Prüfer nehmen sie vor. So oder so, egal ob wir den Vorbereitungskurs machen oder nicht, können wir uns im März zur Prüfung anmelden, solange wir nicht auf eine reguläre Schule gehen. Es ist nicht zwingend notwendig, uns mitten in der Nacht gegen den Wind zu stemmen. Wir können im Bett bleiben, wenn wir wollen. These are very good news!

»Kann ich die Liste mit den Unterrichtsmaterialien kriegen?«, frage ich.

»Na klar. Es ist gut, wenn ihr selbstständig arbeitet.«

Unsere Englischkenntnisse sind bei Frau Huber gut angekommen.

»Wahrscheinlich muss ich in Deutsch und Mathe ziemlich viel nachholen. Das kann ich besser zu Hause. Tilly und Kolja bringen mir dann die aktuellen Sachen bei«, sagt Paolo, der asoziale Dreckskerl, und vermasselt mir damit meine Taktik.

»Zum Glück kapiert er relativ schnell«, sagt Kolja zu Frau Huber. »Wir werden uns abwechseln müssen, weil Tilly und ich auch nacharbeiten müssen.«

Er ärgert sich genauso wie ich. Und obwohl ich im Großen und Ganzen mit dem Schulmodell einverstanden bin, hab ich schlechte Laune. Grund: Paolo. Abgesehen von dem Blickwechsel heute Morgen weicht er mir permanent aus und gibt mir das Gefühl, dass ich ungenügend und daneben bin und es auch immer bleiben werde.

Am Bahnhof in Rastkirch setzt er sich ab. »Ich treff mich mit Boo. Bis später.« Weg ist er.

»Wer ist Boo?«, frag ich.

Kolja: »Boo.«

»Der Kiffer?«

Kolja ist einsilbig. »Yo.«

»Kolja!« Auf der anderen Bahnhofsplatzseite hüpft ein Mädchen vorm Imbissstand auf und ab. »Komm rüber!«

Sie winkt heftig, was nicht nötig wäre.

»Servus.«

Ich steige allein in den Bus nach Lauterstetten ein. Bis auf zwei ältere Männer und fünf Frauen, vollgepackte Einkaufstrolleys und zwei Rollatoren, die verhindern, dass ich hinten sitzen kann, ist er leer. Zu früh für Schüler und Leute, die in der Kreisstadt arbeiten und kein Auto haben. Ich setze mich auf den Vierersitz und versuche, keine Blicke auf mich zu ziehen.

»Du wohnsch doch beim Beck in der Oberstraße?«

Ich nicke.

»Kriegsch deine Zähne net auseinander?«

Sie ist vielleicht siebzig oder hundert, hat eine Wollmütze auf und starrt mich mit ihren kleinen, wimpernlosen, strahlend blauen Augen absolut unverhohlen neugierig an.

Der Bus fährt los und erlöst mich für ein paar Sekunden, weil sie sich festklammern muss.

»I bin die Maria Kindler und wohn in der Schulstraße.«

Oberstraße runter, erste rechts. Das Haus mit dem durchhängenden Fensterbrett kenn ich. Hinter der Scheibe hab ich meine Sitznachbarin schon öfter gesehen, mit der Nase an der Scheibe und die Ellenbogen auf dem Kissen. In Lauterstetten nennt man sie Tagblatt oder Tagblättle, ausgesprochen Dagbläddle. Der CIA, Facebook und Google wissen im Vergleich zu ihr nichts über die Leute, heißt es.

»Ich bin Tilly Krah«, sag ich. »Mein Vater ist Berliner, aber meine Mutter ist Sherpa. Deshalb bin ich so schwarzhaarig.«

Soll doch das Tagblatt die Nachricht verbreiten.

»Aha, so isch des. Du bischt also eine halbe Tibetanerin, wie der Dalai Lama.«

»Der Dalai Lama ist ein ganzer.«

Auf der anderen Gangseite nickt ein alter Herr zustimmend. Die anderen staunen. Das große Lauschen im Bus. Ich will raus.

»Ond? Spukt es im Haus?« Das Tagblatt blickt sachlich. Natürlich ist sie neugierig, aber sie sieht aus, als könnte ich mit »Ja« antworten, und das wär total normal.

Ich frag nach: »Bei Beck?«

»Wo denn sonscht?«

Da gibt’s viele Möglichkeiten, denke ich. Vielleicht ganz in ihrer Nähe, in ihrem Oberstübchen? »Ich hab noch nichts gemerkt.«

»Der alte Beck hot Tote aufgeschnitten.«

»Ein Mörder?«, frag ich entsetzt und weiche vor ihrem krummen Zeigefinger zurück, der mich beinahe am Schlüsselbein berührt hätte.

Nach einer Pause sagt sie: »Der Mann war Gerichtsmediziner. Des isch nix Normales. Beruflich hot der von morgens bis abends nix anderes gemacht, als Leichen geöffnet und Schädel aufgesägt.«

KRASS.

»Schwätz doch nicht, Maria«, fährt der Herr von der anderen Gangseite empört dazwischen. »So spricht man doch net mit so einem jungen Menschen.«

»Mir war der alte Dr. Beck suschpekt«, beharrt Maria.

Der Bus bremst an der Haltestelle Gewerbezentrum Rast. Soll ich aussteigen? Der nächste kommt erst in einer halben Stunde und ich hab meine Laufsachen nicht mit. Doch der Busfahrer stoppt auch hier nicht richtig. Das entscheidet die Sache: Ich bleibe und unterhalte mich weiter mit Maria.

»Ich glaub nicht, dass der alte Dr. Beck die bösen Geister mit nach Hause gebracht hat.« Meine Bemerkung kommt mir diplomatisch und reif vor.

»Die Leichen sind nicht nach einem friedlichen Ende unter sein Messer gekommen«, weiß das Tagblatt.

»Also bitte! Der Dr. Beck ist doch erst nach seinem Ruhestand richtig hergezogen«, wirft der alte Herr ein.

»Ond? Davor hot er sich auch scho immer bei uns von seinen harten Fällen erholt.« Das Tagblatt lässt sich nicht beirren. »Seine Seele hot unter der Belaschtung gelitten. Des isch sicher. Sonscht wär ihm auch net d’ Frau auf und davon gegangen.«

Außer mir, dem Busfahrer und dem alten Herrn nicken alle zustimmend. Ich beschließe, die Topagentin der Schwäbischen Alb als Informationsquelle anzuzapfen. »Ist Ihnen sonst noch was Seltsames in Lauterstetten aufgefallen?«

»Sehr viel.« Mehr sagt sie nicht. Sie hält sich bedeckt.

»Und so etwa kurz vor Weihnachten?«

»Außer, dass ihr drei ins Haus vom alten Beck gezogen seid?«

»Ja.«

Sie sieht mich an, und ich komm mir vor wie in einem der Träume, wo man als Einzige nackt in einem Bus voller angezogener Mitfahrer sitzt.

»In welcher Hinsicht?«, hakt sie nach.

Ich frage mich, was ich verlieren kann, wenn ich ihr ehrlich antworte? Sie hat mich gefragt, ob es im Haus vom Chef spukt! Sie ist das Tagblatt. Sie wird allen alles erzählen, und dann wissen alle über alles Bescheid.

»Ist Ihnen ein Frankfurter Kennzeichen aufgefallen, oder sind Fremde die Oberstraße rauf- und runtergefahren oder zu Fuß gegangen und haben sich komisch verhalten?«

»Komisch?«

»Als ob sie jemand suchen würden und dabei nicht auffallen wollten.«

»Nein«, sagt sie bestimmt. »Wenn’s so wär, wüsst ich das. Und wenn’s so isch, sag i dir Bescheid.«

Das Tagblatt lässt keine Zweifel aufkommen, darüber bin ich froh und sage: »Danke.«

21.6.12, Berlin, letzter Schultag

Schultreppe, links mein Fahrrad. Klick. Jemand hat mich aus den Büschen heraus fotografiert und haut ab. Ich hinterher. Er bleibt stehen und drückt wieder ab. Fühle mich getroffen, abgeschossen.

Er fährt mit einem schwarzen Mercedes weg.

Ich dreh durch, lauf zurück und lass mich in die Geschlossene einweisen.

Es dauert, bis die Taschen, Gehhilfen und Mitreisenden ausgeladen sind. Dann ziehe ich den Hackenporsche von Maria Kindler von der Haltestelle durch die Schulstraße bis vor ihre Haustür. Das dauert auch seine Zeit, weil sie nicht mehr so rüstig ist.

Der erste war auch schon Paolo Mottas letzter Besuch des Vorbereitungskurses für die Schulfremdenprüfung an der Volkshochschule. Und ab Donnerstag lässt auch Kolja Jäger den Kurs ausfallen. Am Samstag kurz vor sechs Uhr in der Früh taste ich mich in die Küche, um mir was zu trinken zu holen. Am Küchentisch sitzt Paolo und stiert mich an.

»Was is?«

Er kichert. »Du siehst sexy aus.«

»Mach mal deine rot glühenden Augen zu. Das sieht unheimlich aus.«

»Entspann dich.« Er kichert nicht mehr.

»Du blöder Depp, hängst mit Boo und seinen Kumpels ab. Die übelsten und grenzdebilsten Kiffer im Umkreis von dreißig Kilometern.«

»Und? Was geht’s dich an?«, lallt Paolo.

Er ist eben erst nach Hause gekommen, das ist klar. »Wenn du dich in Schwierigkeiten bringst, bringst du auch mich in Schwierigkeiten. Geht mich das was an oder nicht?«

Er hängt schief und krumm auf dem Stuhl, die Ellbogen aufgestützt, und lässt den Kopf zwischen den Knien baumeln. Ich hatte bloß Durst! Und jetzt muss ich mir ansehen, wie einer, den ich mal kurzfristig richtig gerngehabt habe, versucht, seine letzte einsame zurückgebliebene Gehirnzelle zu aktivieren. Nein, muss ich nicht. Ich gehe.

»Tilly …« Er erwischt mein T-Shirt und hängt sich dran. Ich reiß mich los, dann scheppert es hinter mir. Der Trostlose kippt vom Stuhl. Pennen ist nicht mehr. Kaum wird es hell, zieh ich meine Laufklamotten an. Zum Bahnhof Rastkirch und zurück sind es etwa fünfzehn Kilometer. Nach einer Stunde und ein paar Minuten stehe ich unter meiner Privatdusche und mir geht’s um Klassen besser.

»Wo isser?« Kolja kippt kochendes Wasser auf den Instantkaffee und mit der anderen Hand gleichzeitig Milch auf die Cornflakes.

»Pennt.«

»Der ist so fertig.«

»Nicht mehr lang und er baut richtig Scheiße«, prophezeie ich. Aber ich weiß nicht, ob mich Kolja bei dem Krach, den er macht, verstehen kann. Er schaufelt Cornflakes in sich rein, als wären es die letzten für lange, lange Zeit.

»Was habt ihr gestern durchgenommen?«

Hab keinen Bock, samstags beim Frühstück Nachhilfe zu geben, deshalb antworte ich nicht.

»Sag schon.«

»Was machst du heute?«

»Bin mit Lena verabredet.«

Lena, Anna, Lisa, Laura, Julia, Sarah, Johanna, Sofia … Kolja beglückt die vernachlässigte weibliche Dorfjugend. »Ist es eine Bedingung für dich, dass sie auf A enden?«

»Sorry, Tilly, du kommst aus anderen Gründen nicht in Frage«, sagt Kolja schroff.

»Sandra« steht groß und schweigend im Raum.

»Rück die Schulsachen raus, ich muss los.«

Ich mach keine Anstalten.

»Ich besorg die Prüfungsunterlagen, du das Übungszeug«, sagt Kolja autoritär.

»Mann, du hast keine Ahnung, wie du und Paolo mir auf die Nerven geht.« Meine Stimme klingt schrill, kann es aber nicht ändern.

»Such dir Freunde, Tilly.«

»Halt die Klappe!«

Irgendwie kriegt Kolja mit, dass ich »Fresse« sagen und »arrogantes Arschloch« brüllen wollte und verzieht sich, Türen schlagend, was den Chef auf den Plan bringt.

»Hier sieht’s ja übel aus.«

»Glaub ja nicht, dass ich hinter den Jungs herräume.«

Beck seufzt. »Essen wir morgen zusammen?«

»Warum nicht heute schon?«

»Ich hol eine Tischsäge ab und bin erst heute Abend wieder da.«

Ich kenne hier niemand, hab als einzige keine Verabredung. Nichts hat sich geändert. Schlagartig wird mir klar, dass ich so allein auf dem Land total durchdrehe. Das Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit überwältigt mich, und ich spüre, wie die Wände näherkommen. Entweder muss ich mich zukünftig am Wochenende verabreden oder eine Beschäftigung finden. Ich überlege fieberhaft: Klettern, Reiten, Wandern, Mitglied werden im Sport- oder Schützenverein. Alles Möglichkeiten, die mir absolut grauenhaft erscheinen.

Ich säge ein dünnes Brett zu und lege es auf meine Panikbücher im untersten Schuhfach. Der alte, stinkende Turnschuhtrick. Die vordere Querleiste verhindert, dass man irgendwas sehen kann. So, erledigt, Blick auf die Uhr, dreißig Minuten sind vergangen. Schulunterlagen durchgehen, macht alles in allem fünfzig Minuten. Mehr Stoff gibt das nicht her.

Lesen, aber was? Ich hab kein Buch.

Ich mache eine Liste und versuche, Entscheidungen zu folgenden Fragen zu treffen: Was tun an meinem Geburtstag? Welche Hobbys? Freunde? Ein Hund vielleicht? Oder lieber ein Pferd?

Nach einer halben Stunde kennt meine Verzweiflung keine Grenzen mehr. Es ist mir total klar, dass ich auf die übelste Weise versuche, die Zeit totzuschlagen. Du bist das Letzte, denke ich und merke gerade noch rechtzeitig, dass ich mich in Selbstekel wälze und anfange, mich mit Selbsthass zu überziehen. Es ist das Einzige, was ich richtig gut kann. Damit ist jetzt Schluss!

Ich fange mit Klettern an. Weil es draußen zu kalt ist, verlege ich die erste Übungsstunde auf den Heuboden und hangele mich von einem freischwebenden Balken zum nächsten. Ich ziehe mir Holzspreißel in die Handballen, aber: ICH HABE SPASS!

Mit der Zeit sogar wirklichen Spaß. Auf meinen Schleichpfaden durchs Gebälk finde ich Verstecke. Über unserem Stockwerk gibt es einen Trockenboden und ich träume: Hier könnte ich mich mit Paolo verstecken. Kein Mensch würde uns finden. Wir wären ganz allein. Ich werde Decken hierherbringen und Kissen, beschließe ich. Plötzlich höre ich Stimmen und halte die Luft an.

»Nee Dicker, hier ist keiner.«

Das ist Paolo. Er muss unten im leeren Viehstall sein. Ich schleiche zum Rand des Trockenbodens. Ein loses Brett ächzt.

»Normal, Alter. In den alten Schuppen knarrt immer was«, sagt unten einer.

Ich linse hinunter und sehe zwei, nein, drei Typen.

Paolo schwingt sich auf ein halbhohes Mäuerchen. »Also, was ist bei eurem Angebot drin?«

»Bis hundert die Woche. Liegt an dir.«

»Nur Shit oder auch Gras?«

»Boo liefert Shit, ich Gras. Aber nicht in Kinderportionen, wenn du verstehst, Alter.«

Der Sprecher hat eine tätowierte Glatze.

»Ich brauch ’n Roller«, sagt Paolo.

»Hast du ’n Lappen?«, fragt Boo.

»Nee, muss ich noch machen.«

»Fünf- bis achthundert macht das. So viel hab ich damals für meinen Lappen geblecht. Also ich streck das nicht vor«, sagt der Glatzkopf.

Ich kann mich nicht mehr halten und brülle. »Chef, komm mal her! Paolo wird gerade als Dealer angeworben. Er braucht ’n Roller! Den besorgst du ihm doch, oder?«

Paolos wilder Blick streift meinen, bevor ein hektischer Aufbruch das Dealer-Stallmeeting beendet. Im Hof startet ein Auto und entfernt sich die Oberstraße hinunter. Auf dem Land hört man einzelne Autos lange. Als es weg ist, liege ich auf der anderen Heubodenseite unter einer Plane verborgen und höre, wie Paolo nach mir sucht.

Seine Stimme vibriert vor Wut. »Wo steckst du, Obergestörte?« Er ist auf der ersten Heubodenebene und feuert mit voller Kraft ein Brett auf den Stallboden runter. »Ich weiß, dass du hier bist!« Er macht Anstalten, über den Balken zum Trockenboden hinüberzubalancieren, traut sich aber nicht. »Wenn ich dich finde, gibt’s Ärger! Du tickst nicht richtig, Tilly Krah.«

Ich lächle verkniffen. Hahaha, niemand versteckt sich besser als Tilly Krah.