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Prüfung I

Kaffee, Kuchen, Geschenke, mehr Zeit haben wir für die Geburtstagsfeier des Chefs nicht. Gäste von außerhalb sind keine geladen, und das nicht nur aus Eitelkeit. Die Jungs und der Chef sehen schlimm aus und haben immer noch Schmerzen. Trotzdem ist es morgen soweit.

Am 8. Mai gehen die Jungs grün und blau, ich weiß im Gesicht wie ein leeres Blatt Papier, zur Deutschprüfung. Egal, wie gut präpariert, ich hasse Prüfungen. Elf von den insgesamt achtzehn Prüflingen hab ich nie zuvor gesehen. Blöd, das alles. Wie von Kolja befohlen, setze ich mich in der Raummitte auf die Fensterseite, Paolo an die Wandseite. Kolja sitzt irgendwo hinten.

Wir bekommen Blätter und blaue BIC-Kugelschreiber ausgeteilt. Die Blätter sind mir vertraut, und ich kreuze an, vervollständige, definiere, korrigiere, schreibe.

Unsre Vorbereitung ist zweigleisig gelaufen: Wir haben die Unterlagen richtig ausgefüllt, und zwar mit einem blauen BIC-Kuli. Woher Kolja das wusste? Keine Ahnung, vielleicht hat er die vorbereiteten Packen im Sekretariat gesehen. Und sicherheitshalber haben wir alles stur auswendig gelernt. Ich bin ratzfatz fertig und sicher, dass ich keine Fehler gemacht habe. Ich gehe alles mehrmals durch und bin mir nicht mehr sicher. Und dann weiß ich, dass ich alles falsch gemacht habe. Ich werde panisch und bin voll in meinem Element.

Error! Error! Error! ERROR!!!

Tief über meine Blätter gebeugt, Herzfrequenz im Infarktbereich, fummle ich die korrekten Blätter unter meiner pinkfarbenen Weste vor und die anderen drunter.

BADABOOM, BADABOOM, BADABOOM …

»Was suchst du in deiner Weste?«, fragt Praum, zweiter Prüfer und Raucher, dicht an meinem Ohr. Ich hab ihn nicht kommen hören.

»Mir ist schlecht.« Ungelogen, ich muss sofort raus.

Paolo flüstert mit Frau Huber.

»Komm, Tilly, ich begleite dich.« Sie eilt vor mir her zu den Toiletten. »Kippst du um?«

Ich verschwinde in der Kabine und würge los.

»Ruf, wenn du mich brauchst.«

Ich würge laut. Falte blitzschnell die Papiere und lege sie in meine Turnschuhe, halbe-halbe, es sind zu viele Seiten. Reinschlüpfen, Finger in den Hals, Spülung ziehen.

Frau Huber drückt die Tür auf. »Und?«

BEURK!

»Zieh die Weste aus«, sagt Frau Huber fürsorglich, als ich meinen Mund ausspüle, »die ist bekleckert.« Dann checkt sie das Klo, »ich muss das tun«, die Nachbarkabine rechts, »bin gleich fertig«, linke Kabine. »Können wir?«

Ich folge ihr zurück.

»Willst du die Prüfung nachschreiben?«

»Nein, ich bin gut reingekommen. Erst am Ende ist mir schlecht geworden. Tut mir leid.«

Frau Huber lächelt mich an. »Tief durchatmen.«

Und ein. Und aus. Und ein. Und aus.

»Ich kenn die Anzeichen, wenn du kurz vorm Durchdrehen bist, Obergestörte.« Der Stehtisch schwankt, mein Kakao schwappt über. »War klar, dass sie dich filzen. So was von auffällig, nee!« Paolo hält den Tisch umklammert. »Und dann bringt sie wieder ganz entspannt ihre Tilly-Krah-In-Trouble-Show-Einlage, und wir können in Ruhe unsere Seiten austauschen. Vielen Dank.«

»Schrei nicht so laut rum, Alter«, mahnt Kolja.

Ich sag nichts und hol mir einen neuen Kakao bei unserm Stammbäcker im Bahnhof.

Zu Hause beschließe ich, dass für mich nur Kapieren und/ oder Auswendiglernen infrage kommt. Also zieh ich mir Mathe rein. Mein Hirn verweigert die Aufnahme von unverdautem Stoff, also fange ich an zu kapieren. Dienstagnacht kann ich die Aufgaben und Lösungen im Schlaf herbeten. Bin die Ruhe selbst bei der Prüfung. Kolja und Paolo gehen auf Nummer sicher und tauschen wieder die Seiten aus, aber die sind auch abgebrühter.

Über die Pfingstferien büffeln wir für Politische und wirtschaftliche Bildung und labern nur englisch miteinander für den mündlichen Teil der Englischprüfung, Sprechen und Sprachmitteilung. Die Oberstraße wird geflutet. »Street of Tears« ist ihr wahrer Name. Hohe Stimmen der Verehrerinnen fiepen herzzerfetzend durch Lauterstetten.

»Paolo, Kolja, wo seid ihr?«

SCHLUUUUCHZ!

»Kolja! Komm doch raus! Bitte!«

BU! BUH! BUUU! BUHHH!

Wir bleiben aus zwei Gründen drin: weil wir lernen und vor allem, weil wir echt Schiss haben rauszugehen.

Nur Lea kommt am Türspion vorbei. Sie kriegt Koljas Zärtlichkeiten. Aber der fette Blumenstrauß geht an Frau Huber, denn wir haben von ihr dreimal die Bestnote für die Prüfung bekommen. Wie versprochen, meldet sie uns zur vorgezogenen Prüfung im Herbst an.

Beck springt im Viereck vor Freude.

Wir hören ihn am Telefon gegenüber der EPM, dem Träger unsrer Erziehungsstelle und dem zuständigen Jugendamt, sich selbst und uns in den allerhöchsten Tönen loben.

Vom Problemkind zum Erfolgsfaktor. Wir fühlen uns saugut.

Und wenn alles stimmt, kommen mir Zweifel. Die fühlen sich an, als hätte ich Würmer. Es hat mir gutgetan, mich auf die Schule zu konzentrieren und mit dem Tagblatt zu plaudern. Aber die Schonzeit ist vorbei.

»Wir haben seit einer Woche keine Schule mehr, Chef.«

»Klingt, als schreist du nach einer Beschäftigung, Paolo?«

»Nicht irgendeine. Für die Prüfung im Herbst müssen wir einen Französischkurs machen. Ich kenn Rönoh und Pöschoh, aber ich hab keine Ahnung, wie man’s schreibt.«

»Parlez-vous français?«

»Chef, es ist kein feiner Zug, vor einem Heimkind den Bildungsbürger raushängen zu lassen.«

Kolja und ich lösen uns bis zur Unsichtbarkeit im Hintergrund auf. Wir sind raus aus der Debatte.

»Sag nicht immer Chef, als würden wir zusammen hinter der Theke bei McDonald stehen. Das ist Tillys Unsitte.«

»Beck.«

»Das ist auch Tillys Unsitte.«

»Also gut, Michael, die Dialog-Sprachschule bietet den billigsten Französischintensivkurs in Kleingruppen an.«

»Wo und wie viel?«

»Berlin. 550 Euro. Jugendherberge kommt dazu.«

»Berlin? Niemals. Da seid ihr nicht sicher.«

»Es gibt noch was im Spreewald, aber da will Tilly nicht hin, weil die zusätzlich einen Sportschwerpunkt anbieten. Und die Gruppen sind größer.«

»Wie viel kostet der?«

»300, alles inklusive. Aber das Sprach- und Sportcamp liegt mitten in der Pampa. Da ist weit und breit nix, außer einem Badesee!«

»Sprache und Sport. Was soll ich mir darunter vorstellen?«

»Die schreiben auf ihrer Webseite, man prägt sich eine Sprache besser ein, wenn man sich beim Lernen bewegt. Fahrradfahren, Laufgruppen und so.«

»Von wann bis wann?«

»In ’ner Woche, 24. Juni bis 7. Juli.«

»Schick mir den Link.«

Genau in der Zeit will »Uschi« renovieren. Paolo weiß das, weil er die E-Mails des Chefs »checkt«, um sich auf dem Laufenden zu halten, der Schnüffler.

Fünf Kilometer vom Spreewald-Sprach- und Sportcamp entfernt liegt das Herrenhaus Flusshorst. »Tilly«, sagt Paolo und sieht schön aus und mich ernst an. »Ich brauch deine Panikbücher. Alle.«

»Nein.« Ich weiche seinem Blick aus.

»Ich komm nicht weiter, und wenn wir nach Flusshorst fahren, um deiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, dann brauchen wir Anhaltspunkte.«

»Nein!« Ich sehe aus dem Küchenfenster in den Garten.

»Es muss mehr Begegnungen mit deinen Verfolgern gegeben haben als hier und auf dem Paatsjoki. Dazu brauch ich deine Bücher. Vielleicht finde ich Hinweise.«

»Nein. Schluss, aus.«

»Ich will nicht in deinem Leben wühlen. Ich will dir helfen.« Paolo klingt verletzt.

»Weiß ich, aber es ist so, als würdest du in meiner Seele wühlen. Alle schützen ihre Seele vor den Blicken der andern. Du deine doch auch?«

»Ja. Aber viele lassen sie auch in Talkshows direkt aus dem Fernseher raushängen«, sagt er.

»Ich nicht.«

Paolo ist nachdenklich. »Dann solltest du selber deine Bücher nach Spuren aus der Zeit vor Krah durchsuchen.«

»Die Zeit vor Krah?« Ich fühl mich hilflos und würde mir gern leidtun, aber ich krieg es nicht hin, weil ich mich und mein kompliziertes Getue gleichzeitig total satt habe.

»Die Zeit vor dem Verschwinden von Alma Goedel und Julie Thompson«, sagt Paolo ruhig.

Ich spüre keine Ruhe, nur Kälte. »Ich weiß nicht, ob du das verstehst. Nicht weil du zu blöd bist, sondern weil es so abgedreht ist, Paolo.« Pause. »Ich darf, will oder kann nicht alles wissen. Ich brauch ’ne Art brutale …«, mir fehlt das Wort fürs Gegenteil, »Harmonie.« Keine Ahnung, ob es das ist, aber es ist das einzige Wort, das mir eingefallen ist. »Sonst sterbe ich.« Das ist das korrekte Wort.

Paolo springt auf und rührt im Topf.

Ich bin froh, dass er mich nicht ansieht. »Ich hab nicht viel Kraft. Sie reicht gerade fürs tägliche Programm. Prüfung, Essen, Maria. Ich trau mich nicht mal mehr raus zum Laufen.«

Er stellt mir einen Kakao hin und grinst schief. »Und, was ist mit mir?«

»Ich bin so froh, dass du da bist.« Ich flüstere. »Du ahnst nicht, wie sehr.«

»Du musst wissen, was vorher war, Tilly. Sonst passiert nichts Neues. Wenn es so bleibt, wie es ist, dann gehst du kaputt. Es zerreißt dich.«

»Ist das bei dir so?«, frage ich.

»Ja.«

»Was, wenn ich es nicht aushalte?«

»Du bist nicht allein, und außerdem musst du drüber wegkommen, weil es anders nicht geht. Es gibt doch den Beweis, dass du’s packst. Sonst wäre logischerweise vor, bei und nach Krah schon alles vorbei gewesen. Ist es aber nicht, kein Stück. Glaub mir, du packst das.«

»Was ist falsch dran, ’ne Atempause einzulegen? Mit unsren Noten haben wir was erreicht, womit wir nicht gerechnet haben. Ist doch super?«

»Wir haben keine Zeit. Spürst du das nicht?«

Ich nehme mir die Panikbücher in chronologischer Reihenfolge vor.

Desaster. Katastrophe.

Es macht keinen Sinn, darin Hinweise finden zu wollen. Das sag ich Paolo.

»Weil du nicht weißt, was ein Hinweis sein könnte. Kolja und ich haben alles gelesen, was über Victor Georg Goedel veröffentlicht worden ist. Da ist was zusammengekommen. Er war in zig Skandale verwickelt. Als Banker wird er im Zusammenhang mit der Finanzkrise erwähnt. Über das Verschwinden seiner Tochter und Julie Thompson gibt es massenhaft Material, auch welche privaten Ermittler eingesetzt worden sind.«

»Ich will’s nicht wissen.«

»Weiß ich! Musst du nicht! Aber du könntest mir und Kolja helfen.«

Ich schüttle den Kopf und denke: Ich rück die Panikbücher nicht raus. Zeitgleich schieb ich sie zu Paolo rüber.

»Willst du dabei sein?«, fragt er.

»Wobei?«

»Wenn wir lesen.«

»Nein!« Er hat sie nicht alle.

Es ergibt sich dann aber doch noch am Abend, als wir in der Wohnküche abhängen. Ich stelle fest, Paolo und Kolja gehen völlig anders vor als ich. Sie wühlen nicht in sich, sondern im Internet. Jede Notiz in den Panikbüchern, Anlass, Zeitpunkt und Ort, recherchieren sie im Zusammenhang mit Victor Georg Goedel, GDS, Julie Thompson und stellen Querverbindungen her.

Ich hör hin. Ich hör weg. Ansehen kann ich mir ihre Aufzeichnungen nicht, weil ich kotzen muss. Ich reagiere körperlich und habe FURCHTBARE Angst! Auf dem Tisch liegt ein Bild von der vierjährigen Alma. Jeder Blinde kann sehen, dass ich es bin.

»Hör mal auf, Tilly.«

»Womit?«

»Du vibrierst auf dem Sofa rum, das halt ich im Kopf nicht aus.« Paolo schiebt den Ordner weg und sieht mich an.

Brutalität kann ich nicht gut ab, aber Mitleid halte ich gar nicht aus. Ich zieh mir die Sofadecke übers Gesicht.

»Mir setzt das Alma-Marter-Material auch zu, aber …«, setzt Paolo an.

Ich richte mich auf: »Das … was?«

»Entschuldigt, wenn ich in eure Auseinandersetzung reingrätsche. Was hat es mit den Steinen auf sich?« Kolja sieht mich fragend an.

»Steine?«

»In deinen Albträumen kommen fast immer Steine vor«, erklärt Paolo.

Ihm ist es auch aufgefallen. Mir nicht.

»Steine und Dunkelheit. Vielleicht fällt dir was dazu ein.« Kolja sieht nicht zu mir rüber. »Ich hasse Goedel. Ich hätte gern den schwarzen Gürtel, und wenn ich ihn zwischen die Finger kriegen würde …«

Paolo: »Könntest du die Tigerklauen-Technik anwenden.«

Kolja: »Und den Adlerklauen-Stil zum Einsatz bringen.«

Die beiden trauen Goedel alles zu.

Paolo arbeitet total verbissen am Alma-Marter-Marterial. Wie er es nennt. Und er sucht meine Mutter.

Ich hör nicht hin. Er wird nicht fündig. Kein »Ich hab sie!« Und plötzlich kann ich Paolo nicht mehr ansehen.

SCHOCK.

Ich beiß ins Sofakissen, weil ich ihn liebe. Ich bin verliebt, verknallt, verrückt nach ihm! Kein Zweifel! Was soll ich denn bloß machen? Liebe, das ist ’ne andere, ’ne unbekannte Dimension.

»Was machst du denn für’n Gesicht?« Kolja fragt.

Ich sage: »Gar keins.«

Er grinst. »Hab ich dir schon mal gesagt, dass du sehr hübsch bist?«

ÄH. ÄÄÄH.

Kolja: »Es stimmt. Ich sag das manchmal zu Mädchen, die ich nicht halb so hübsch finde wie dich.«

»Warum hältst du nicht einfach die Klappe?«