10
Zwei Lager

Weil es GEMEIN und UNGERECHT ist, dass der Küchendienst von Container  6 künftig nur von zwei Personen erledigt werden muss, bricht ein Krieg aus. Container  2 und 6 gegen Container  4. In Personen: 6 gegen 4. Die Frontlinie verläuft quer durch den Küchencontainer. Das muss man sich vorstellen! Selbst Sam ist das Theater so peinlich, dass er sich auf unsre Seite geschlagen hat.

Beim Mittagessen stellt Beck genervt den Plan um, aber das Gezeter reißt nicht ab.

»Sandra ist tot! Sie drückt sich nicht vorm Abwasch, sie ist tot! Ihr hört sofort mit diesem Schwachsinn auf oder ihr fliegt hier raus!«

So wütend habe ich Beck noch nie gesehen.

Unauffällig suche ich Riskis Blick und er nickt mir ebenso unauffällig zu. Ich steh auf und geh zur Tür.

»Wo willst du hin?«, fragt Tonberg. Ich: »Aufs Klo.«

»Was ist mit dem Klo hier?«

Ich: »Brauch ’n Tampon.«

»Ihhh! Kotz!« Die Container-2-Jungs würgen. Ben haut seinen Teller weg. Die restlichen Gefühlsausbrüche krieg ich nicht mehr mit. Draußen ist es still, konstanter Schneefall. Abseits der Trampelpfade würde ich hüfthoch einsinken. Und wenn Riski nicht gleich kommt, erfriere ich. Er kommt. »Die Hütte war bewohnt. Du hattest recht, Tilly. Die Spurensicherung ist noch da. Ich weiß nicht, was Mietos Leute gefunden haben, aber sie suchen ganz konkret nach einem Deutschen. Sie überprüfen Autoverleiher, Flughäfen, Fähren.«

Beck und Tonberg haben die erhitzten Gemüter mit der Drohung in den Griff gekriegt, dass sie sich vorbehalten, die Rückreiseflüge anzumelden. Also muss es offiziell sein, dass der Mörder keiner von uns ist. Darüber bin ich froh.

»Sandra ist tot und du grinst bescheuert«, ätzt Jana und haut mir den Ellenbogen in die Seite.

Mein Lächeln gefriert. Ich flieg gegen Beck und klau ihm das Handy aus der Jackentasche. Sorry, aber ich muss dringend meinen Alten die Todesnachricht überbringen. Wer auch immer der Mörder war, er muss glauben, ich sei tot.

»Jetzt ist aber Schluss!«, brüllt Beck.

»Was dagegen, wenn ich mich zurückziehe?« Unbeachtet schiebe ich ab.

Ich schließe mich auf unserem Klo ein und checke Becks Anrufliste. Am 13. November hat er insgesamt 04:01  Minuten nach Deutschland telefoniert. Das muss ihre neue Nummer sein. Im Suff das Handy kaputtgemacht, verloren, gesperrt; kein Mensch wechselt so oft die Nummer wie meine Mutter. Und Festnetz gibt’s keins, da, wo ich herkomme. Falls der Deutsche, nach dem Mieto sucht, nicht der Drogenboss oder von ihm geschickt worden ist, um Sandra umzubringen, falls er doch etwas mit dem unbekannten Anrufer bei meiner Mutter zu tun hat, ruft er sie vielleicht noch mal an. Wenn sie dann sagt, ich wäre tot, bin ich meinen Verfolger los.

»Ja!« Gekrächzt, gebellt, gehustet. Ohne Zweifel, ihre Stimme.

»Frau Krah, wir rufen aus Finnland an. Wir müssen Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen. Ihre Tochter Tilly ist tot.«

»Ach, nee. Tot? Was Sie nich sagen!« Sie lallt.

War da ein Hauch von Trauer in der Stimme? »Es tut mir sehr leid. Mein Beileid. Ich rufe aus Finnland an. Die Papiere schicke ich Ihnen zu.«

»Papiere? Können Se behalten! Für mich is sie schon lange gestorben!«

Im Hintergrund brüllt einer. Das muss er sein. Sie schreit: »Ja! Tilly is tot!«

»Auf Wiederhören, Frau Krah.«

Im Leben wird sie nicht zurückrufen, nicht nach Finnland. Mit zittrigen Fingern lösche ich den Anruf aus dem Verzeichnis. Eine Grabeskälte kriecht mir in die Knochen. Mindestens hundert Pullover muss ich überziehen, damit ich nicht erfriere.

Der neue Stress im Küchencontainer dreht sich um Janas Wunsch, die Lager in Container  6 mit Ben und Nils zu teilen. Und Vanessa will zu Cem und Lars umziehen. Tonberg schüttelt frustriert den Kopf.

Ich setz mich auf den Platz, auf dem Beck vorher saß, warte einen Moment, lass mich vom Stuhl rutschen und verschwinde unterm Tisch.

»Is that yours?«, frag ich und gebe Riski das Handy.

Er hält es hoch, und ich ernte wütende Die-schleimt-sich-ein-Blicke. Einem von uns kann’s ja nicht gehören.

Beck gräbt in seiner Jackentasche und nimmt es an sich. Gut, das ist erledigt.

Janas und Vanessas Anträge werden abgelehnt.

Sams Zugehörigkeit scheint doch noch ungeklärt. Als ich Paolo und Kolja in unsere Bude folge, hängt er noch mit den andern ab. Ich erzähl den beiden von der Hütte, den Spuren und dass Mieto nach einem Deutschen fahndet.

»Dann hatte Sandra recht und es war der Drogenboss. Und ich hab immer zu ihr gesagt, sie soll nicht rumspinnen«, sagt Kolja heiser.

»Was mir nicht in den Kopf will«, sagt Paolo zu mir. »Wenn es einer auf Sandra abgesehen hatte, woher hat der gewusst, dass sie es ist? Sie hat nicht wie sie selbst ausgesehen, sondern wie du.«

»Vielleicht hat er ihren Namen gerufen? Sie hat sich umgedreht und ihn erkannt. Dann wollte sie abhauen und er hat geschossen?« Wieder wird mir eiskalt. Ich will mir das alles nicht vorstellen.

»Möglich«, sagt Paolo. »Aber vielleicht hat’s jemand auf dich abgesehen? Hast du mal daran gedacht?«

Ja, hab ich. Mich packt die Verzweiflung. »Möglich. Aber ich weiß nicht, wieso, und wer es auf mich abgesehen haben könnte. Verdammte Scheiße, wenn es so wäre, müsste ich doch irgendeine Idee haben, wieso?«

»Und wenn jemand das Camp beobachtet hat? Wenn er mitgekriegt hat, dass Sandra sich die Haare gefärbt hat?«, fragt Kolja.

»Wir müssen rauskriegen, wer es war«, sagt Paolo.

Kolja nickt entschlossen.

Ich auch. »Mieto hat die Hütte übersehen. Nicht unwahrscheinlich, dass er auch was in der Hütte übersehen hat. Wir sollten das überprüfen.«

»Ich könnte Riski sagen, dass du uns Langlaufen beibringst, und wir könnten nachschauen«, schlägt Paolo vor.

»Will ich sowieso lernen«, sagt Kolja.

»Oder wir schnappen uns ein Schneemobil …«

»Und knattern unbemerkt über den Fluss, ja, ja …«

Wir überlegen, ob im Camp ein Informant des Mörders sein könnte, oder ob jemand mich und Sandra bei einer Einkaufstour beobachtet haben könnte.

Mein Verfolgungswahn blüht voll auf.

Ich muss mich ablenken und erzähl den Jungs, solang Sam noch weg ist, dass Beck nach der Maßnahme drei Jugendliche bei sich aufnehmen will. »Lieber mit zwei Gestörten zu ihm als zurück ins Heim oder in die Klapse.«

»Meinst du mit Gestörten etwa uns?«, fragt Paolo aufgebracht.

»Ja.«

Kolja: »Schon mal überlegt, dass du diejenige bist, die’n Schaden hat?«

»Hab’s sogar schriftlich«, sag ich. »Überlegt doch mal, wir wären nur zu dritt! Fast ’ne Art Familie.«

»Bin nicht dein großer Bruder«, motzt Paolo.

»Nur zwei Sachen will ich.« Ich mein es todernst. »Ich will wissen, warum Sandra sterben musste. Und ich will ein paar ruhige Jahre haben. Ich hab’s so satt.«

Man kann es in der stillen Bude förmlich knacken hören, so heftig arbeitet es in unseren Köpfen. »Aber du bist die Obergestörte«, stellt Paolo klar. »Ohne Frage«, sag ich.

6. 11. 12, Container 4

Bleib stehen!, brüllt er hinter mir. Ich laufe im Zickzack. Wenn du was sagst, schlag ich dich tot!, brüllt er. Er ist näher gekommen. Packt mich, reißt mich am Arm herum. Sein Atem schlägt mir ins Gesicht. Wütende Augen. Schnaufen und Schmerzen.

Ich kriege keine Luft. Paolo hält mir die Hand auf den Mund und flüstert: Du hast bloß schlecht geträumt.