18
Was war davor?

Sandra ist tot. Tilly Krah ist tot. Ich quäle mich durch drei gemeinsame Abendessen, obwohl der Chef, Paolo und Kolja so tun, als ob sie von meiner totalen Verkrampfung nichts mitkriegen würden. Sie erzählen muntere Geschichten, ich tue so, als ob ich zuhören würde. Mehr krieg ich nicht hin. Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich kann nicht laufen, kaum noch essen, hab keine Kraft, obwohl ich mir irrsinnig Mühe gebe. Nach dem Essen beiße ich in mein Kopfkissen und schreie leise.

Am achten April sind die Osterferien vorbei, und ich komm morgens nicht mehr aus dem Bett.

»Schluss jetzt«, sagt Kolja. »Du kannst dir überlegen, was du uns nach der Schule erzählst. In vier Wochen fangen die Prüfungen an. Es ist vorbei, Tilly. Ich mach nicht mehr mit.«

Er streichelt mir über den Kopf. Ich rutsche tief unter die Decke und weine.

Kolja ist der Stabilste von uns. Er lernt konstant, vögelt kontinuierlich in der Gegend rum, sein Handy fiept und vibriert ohne Ende. Er kriegt dauernd Besuch, findet es toll beim Chef und hilft ihm in der Werkstatt. Am liebsten arbeitet er mit Stahl. Beim Schnüffeln in seinem Zimmer habe ich einen perfekten Satz Dietriche, zumindest hab ich es dafür gehalten, gefunden. Auf mich reagieren seine Gäste und/oder Freundinnen kühl, verwirrt und neugierig. Ich dagegen auf sie verkrampft und panisch wie immer.

Kolja hat mit Paolo zusammen den Rollerführerschein gemacht. Hab was von an die achthundert Euro raunen hören, die sie für einen Klasse-M-Schein zusammenkratzen mussten, für beide Scheine also tausendsechshundert. Irgendwie haben sie’s geschafft. Ich wüsste nicht, dass sie den Chef gefragt hätten, ob er Geld dafür lockermacht. Im Stall stehen zwei gebrauchte Vespas. Paolo knattert durch Lauterstetten, Kolja muss noch bis Ende April warten. Ab drei Monate vor dem Geburtstag darf auch er mit Mädchen auf dem Sozius durch die Gegend düsen. Er zählt die Tage.

Von Paolo krieg ich nicht viel mit. Er ist verschlossener als Kolja. Ich beobachte ihn in unbeobachteten Momenten. Er tut das Gleiche mit mir.

Was soll ich ihnen bloß erzählen?

In meinem Albtraum renne ich auf einem Bahndamm entlang. Ich werde verfolgt, ein Zug kommt mir entgegen, und rechts und links des Bahnsteigs ist der Abgrund.

Als ich aufwache, dreht sich der Raum um mich. Ich kann mich nicht aufrichten, so schwindelig ist mir. Aber bevor die Jungs kommen, muss ich was im Magen haben. Zuerst auf allen vieren, dann an der Wand entlangtastend, eiere ich mit weichen Knien in die Küche.

Auf dem Tisch stehen ein Schlüsselblumenstrauß, meine Lieblingsblumen, und mein Lieblingsquarkkuchen, von Maria Kindler gebacken, bedeckt mit einem Leinentuch. Es ist verziert mit einem gestickten Namenszug.

»TILLY«

Ich werde diesen Namen behalten. Komme, was wolle. Maria hat ihn in Leinen gestickt.

Ich lasse es lange klingeln. Sie braucht immer eine Weile, bis sie am Telefon ist. »Danke, meine liebe Maria.«

»Ach, meine liebe Tilly«, sagt Maria.

»Ich esse jetzt den Kuchen auf, dann bin ich bald wieder gesund. Danke auch für die schönen Blumen.«

»Ich hab dem Paolo genau erklärt, wo sie wachsen.«

»Sie duften und es sind meine Lieblingsblumen.«

»I weiß. Himmelsschlüssel«, sagt Maria und ich schluchze kurz auf.

Aber mit Kakao und Quarkkuchen im Bett geht’s mir bald besser. Und kaum habe ich mein Stück aufgegessen, halte ich es im Bett nicht mehr aus. Ich zieh mich an und geh raus. Das Haus vom Chef ist das letzte in der Oberstraße und liegt am Hang. Überquert man den, blickt man in ein weites Tal. Überall regt sich der Frühling. Über allem liegt der Gesang der Vögel. Ich hole so tief Luft, bis mein Schlüsselbein kracht.

»Wie geht’s dir?«, will Kolja wissen.

»Besser. Der Quarkkuchen vom Tagblatt hat Heilkräfte, den sollte man auf Rezept kriegen. Und riech mal an den Schlüsselblumen«, sag ich zu Paolo.

Paolo, der Blumenpflücker, mit unbewegter Miene: »Hm, ja. Wusste gar nicht, dass die duften. Wo gehen wir hin? Hab keinen Bock auf Becks blöden Habt-ihr-ein-konspiratives-Treffen?-Spruch.«

Irgendwie kriegt es der Chef jedes Mal mit, wenn wir was zu besprechen haben. Dann platzt er meistens dazwischen. Wahrscheinlich fühlt er sich ausgeschlossen, wenn wir uns ausnahmsweise einig sind. Wir haben nachgeschlagen, was konspirativ bedeutet. Seitdem müssen wir auf Paolos Befehl täglich ein Fremdwort, seine korrekte Aussprache und Anwendung auswendig lernen. Er sagt, das verschafft uns einen Heimvorteil anderen Heimkindern gegenüber. Er übertreibt immer.

Ich klettere vor den beiden auf den Heuboden. Hinter den Planen hab ich eine von Becks Leitern versteckt. Ich stelle sie hin und steige auf den Trockenboden. Das ist einfacher, als über Balken zu balancieren. Wie eine Kirche wölbt sich das Gebälk über uns. Aus den Abstellkammern hab ich alte Matratzen und Decken besorgt, entstaubt und dekoriert. Paolos und Koljas Augen leuchten auf.

»Das ist mein Platz. Ihr denkt nicht einmal daran, irgendwelche Mädchen hierherzuschleppen. Klar?«

»Tilly ist wieder voll da«, sagt Kolja zu Paolo.

»Und wenn es auf der Erde kein einziges Plätzchen gibt, wo ihr euch zum Vögeln zurückziehen könnt, hier nicht. Niemals.« Das wäre besprochen.

Sie setzen sich hin, und ich gebe Paolo das Blatt Nr. 79-W-6-091019.

»Wo hast du das her?« Paolo reicht es nach dem Lesen an Kolja weiter.

»Aus der Bibliothek. Das Blatt war in dem Ordner Nicht identifizierte Leichenfunde 2000–2010. Der alte Dr. Beck war Rechtsmediziner.«

»Du solltest nicht so ’n kranken Scheiß lesen, bei deinen angefressenen Nerven«, findet Kolja.

»Lädierten Nerven«, erweitert Paolo unseren Wortschatz.

»Ich bin hundertmal genau an der Stelle, wo das Mädchen gefunden worden ist, vorbeigelaufen.«

»Wieso?« Paolo liest noch einmal die Ortsbeschreibung der Fundstelle vor. »Kommst du von da?«

Ich nicke. »Das Mädchen in der Wäschekiste, also das kleine Mädchen …« Ich verstumme.

Paolo starrt mich an. »Du weißt, wer sie ist?«

Ich nicke wieder.

»Kennst du ihren Namen?«, fragt Kolja aufgeregt. »Ich meine, da steht Nicht identifizierte Leichenfunde. Man hört doch immer, dass Ungewissheit für die Leute, die jemanden verloren haben, das Schlimmste ist.«

Kolja bringt mich total aus dem Konzept.

»Das Mädchen ist doch nicht ermordet worden«, sage ich irritiert.

»Aber das spielt doch keine Rolle!« Er kapiert es nicht. »Außerdem, wie kann man das nach vier, fünf Jahren sicher wissen?«

»Wer ist sie?«, fragt Paolo.

Ich hole Luft, versuche es. Ein Krächzen. Ich hole wieder Luft.

Kolja breitet die Arme aus, als wolle er »Was jetzt?« fragen.

»Wer ist sie, Tilly?« Paolo packt mich am Arm.

»Tilly. Tilly Krah.« Ich flüstere sehr leise, aber sie haben mich trotzdem verstanden.

»Wer?«

»Tilly Krah.«

Stille. Nur das Gebälk knarrt.

Kolja springt auf. Beide sehen mich entsetzt an. Auch sie spüren den nahen Tod, das weiß ich. Es ist zu viel. Ein totes Mädchen sieht aus wie ich. Ein anderes totes Mädchen trägt meinen Namen.

»Das tote Mädchen ist Tilly Krah?« Paolo versucht Sinn und Leben in die Sache zu kriegen. »Und du bist auch Tilly Krah?«

Ich schüttle den Kopf.

»Was? Du bist nicht Tilly Krah?« Kolja klingt verstört.

»Nein.«

»Wer bist du dann?«, fragt Paolo.

»Ich weiß es nicht«, sage ich.

Kolja haut auf den Balken vor sich. »Was soll ’n das heißen – ich weiß es nicht?«

»Ich weiß nur, dass ich nicht Tilly Krah bin«, flüstere ich.

Schwindel, Versinken, Auflösung. Paolo und Kolja sind da, mit ihren Familiengeschichten und ihren Alltagsgeschichten. Was mich betrifft, bin ich mir nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt existiere. Hab mehr das Gefühl, eins von Dr. Becks Gespenstern zu sein. Huuuuh!

Es bleibt lange still, bis Kolja fragt: »Weißt du das von deiner Schwester?«

»Von Tante Mandy und Daniela.«

»Glaubst du, was die sagen?«, will Paolo wissen.

»In dem Fall, ja. Von sich aus hätten sie’s mir nie gesagt. Ich bin selbst draufgekommen, als ich das mit dem toten Mädchen gelesen habe. Jetzt macht nämlich plötzlich manches Sinn, was vorher komplett irre war.«

»Wie alt ist Daniela?«

»Neun Jahre älter als ich. Wir, also die Krahs, sind neun Kinder. Zwischen Christian, meinem, äh, dem Ältesten, und Lisa, der Jüngsten, liegen fünfzehn Jahre.«

»Ich weiß ja gar nichts über dich!« Kolja klingt fast wütend.

Sofort fährt ihn Paolo an: »Reiß dich zusammen! Du wirst Tilly nicht anmachen, mit keiner Silbe, kapiert?«

»Klar.« Kolja nickt. »Wo liegt der Jägerstand, von dem da die Rede ist?«

»Zwischen Eichwitz und Buchstädt. Nächste größere Stadt ist Bitterfeld, vierzig Kilometer nordwestlich, in etwa.« Das sind Fakten und Tatsachen, die mir in meinem großen Schwanken auf unsicherem Grund Halt geben.

»Was haben dir deine Tante Mandy und Daniela erzählt?«

»Tilly ist bei Mandy aufgewachsen. Sie war oft krank. Bei der Alten, die ich für meine Mutter gehalten hab, hätte sie nicht überlebt. Bei uns ging’s brutal zu. Die Alte hat zu gern, zu oft und zu hart zugeschlagen. Sie war absolut unberechenbar. Der Alte war noch brutaler, bloß war der meistens zu besoffen. Tilly kam also zu Tante Mandy nach Kleingruna. Einen Monat nach ihrem sechsten Geburtstag lag sie morgens tot in ihrem Bett. Herzversagen. Die Alte hat es für sich behalten, Tilly im Wald begraben und gehofft, dass es keiner merkt.«

»Aber wieso denn?«, fragt Paolo fassungslos. »Du hast doch was von Herzversagen gesagt?«

»Sie wollte das Geld für die Beerdigung sparen und das Kindergeld kassieren. Der Alte war im Knast.«

»Manchmal würde ich am liebsten …« Kolja lässt offen, was für Maßnahmen ihm vorschweben. Er hat Tränen in den Augen und klettert wie ein Irrer die Leiter hinunter.

»Kolja! Komm zurück!« Paolos Stimme klingt hart. Er merkt es selbst. »Bitte!«

Koljas Schritte auf dem Heuboden entfernen sich, dann wird es still. Nur das Holz ächzt.

»Wir warten auf ihn«, sagt Paolo.

Ich sag gar nichts. Und dann nimmt er mich in den Arm. Ich schließe die Augen. Seine Hände streicheln über meinen Rücken. Er flüstert etwas auf Italienisch. Ich verstehe seine Worte nicht, aber ich verstehe, dass er da ist, nicht weggeht und mich festhält. Ich spüre seine Lippen in meinen Haaren. Dann lässt er mich plötzlich los, und ich sehe etwas in seinen Augen, total unverstellt und direkt. Er und ich. Und das bilde ich mir nicht ein. Mehr brauch ich nicht. Genau so ist es gut.

Ich streichle ganz kurz sein Gesicht, lass die Hand fallen, dann taucht Koljas Gesicht auf.

»Hab bloß was zu trinken geholt«, sagt er und stellt die 1,5-Liter-Cola-Flasche auf den Boden.

Wir trinken aus einer Flasche.

»Sie hat ihre eigene kleine Tochter aus Geiz begraben«, sagt Kolja. »Da musste ich kurz weg. Aber jetzt erklär mir mal bitte, wieso heißt du Tilly Krah?«

Meine Erklärung verkommt zu einem Krächzen. Ich bin so heiser, dass sie mich nicht verstehen können, und ich setze ein zweites Mal an: »Mich hat Daniela zwei Monate später aus dem Hühnerstall gezogen. Die Alte hat dann so getan, als wär ich Tilly.«

Zwei Augenpaare. Pures Unverständnis.

»Warte, warte, warte«, sagt Paolo, »das geht zu schnell. Wieso warst du im Stall? Warst du da … eingesperrt?«

»Nein. Daniela hat gesagt, dass sie mich im Schuppen gefunden hat.«

»Wie? Was? Gefunden?«, fragt Kolja verstört.

»Anscheinend hab ich mich in dem Hühnerstall versteckt. Ich weiß es nicht! Ich hab ihre Hühnereier gegessen und die Klamotten von Maik von der Leine geklaut und angezogen.«

»Die haben nicht gewusst, wer du bist?«, fragt Paolo fassungslos.

»Nein. Daniela hat nur gesagt, ich hätte Angst gehabt und wollte nicht aus dem Hühnerstall rauskommen.«

»Aber irgendwie musst du doch in den Stall reingekommen sein?«, sagt Kolja. Er ist total durcheinander. »Du bist doch irgendwo hergekommen, wenn die dich nicht selber eingesperrt haben! Das gibt’s doch gar nicht!«

»Wir haben am Dorfrand gewohnt, im letzten Haus, der nächste Nachbar war zweihundert Meter entfernt. Also …« Ich hab keine Ahnung, wie ich den beiden die wahnsinnigen Zustände, die für mich ewig lange normaler Alltag waren, erklären soll. »Also, Daniela hat nur gesagt, sie hätte mich gefunden, und ich hätte nicht gesprochen. Jedenfalls nichts, was sie verstanden hat.« Dass ich wie ein Tier gewesen sein soll, sag ich nicht.

»Daniela, Daniela.« Jetzt hat Paolo Tränen in den Augen. »Kannst du selbst dich gar nicht daran erinnern? Du weißt überhaupt nicht, was vorher war? Wo du hergekommen bist?«

Ich schüttle den Kopf. »Daniela sagt, die Alte hätte mich aufgepäppelt. Ich war klein und dünn. Sie haben alle so getan, als ob ich Tilly wäre. Besuch ist sowieso nie gekommen. Und nach den Ferien bin ich als Tilly Krah eingeschult worden. Und seither bin ich Tilly Krah, obwohl die richtige Tilly Krah tot ist. So ist es. Das ist alles, was ich weiß.«

»Das ist das Allerletzte!« Die ganze Sache regt Kolja total auf.

Paolo bleibt ruhig oder er ist erstarrt. »Das heißt, alle haben einfach Tilly zu dir gesagt?«

Ich nicke. »Tilly hatte rotblonde Locken, sagt Tante Mandy.«

»Gibt’s Fotos von Tilly?«, fragt Kolja.

»Alter! Wir sind nicht die drei Fragezeichen!«, regt sich Paolo auf. »Wir spielen nicht Detektive! Kapiert?«

»Okay«, sagt Kolja. Und zu mir: »Und an was kannst du dich erinnern?«

»Der Alte ist aus dem Knast gekommen. Alle sind zu ihm hingerannt. Ich nicht. Aber er hat mich gesehen, gewunken und mir die Hand entgegengehalten. Ich bin dann auch gerannt, und dann hat er mir zur Begrüßung volle Kante eine gescheuert. Ab da kann ich mich erinnern, und seither renne ich. Immer in die Gegenrichtung.«

»Kolja!« Pause. »Wo steckt ihr denn?« Der Chef ruft aus der Werkstatt. Seine Stimme klingt weit entfernt.

Hoffentlich kommt er nicht hier hoch.

»Und davor?«, flüstert Paolo.

»Nichts. Absolut nichts. Nur …«

»Was nur?«

»Albträume. Panikattacken. Bilderfetzen. Angst.«

»Kein Wunder«, flüstert Kolja. »Kein Wunder.«

»Der Chef sucht uns. Wir machen später weiter, das muss ich erst mal verdauen.« Paolo murmelt irgendwas auf Italienisch weiter.

Ich putze, freiwillig, obwohl ich die Küche am wenigsten versaut habe von uns dreien. Weil ich erleichtert bin! Und ich koche nach Packungsanleitung ein perfektes Mirácoli, von Paolo mit Schafskäse veredelt. Kolja verziert zum Dank sich selbst und den Tisch mit Tomatensoßenspritzern.

Paolo: »Du frisst wie ein Schwein.«

Kolja: »Grunz.«

Seltene Eintracht.

»Habt ihr ein konspiratives Treffen?« Der Chef streckt seinen Kopf zur Tür herein.

»Wenn du Hunger hast, kannst du teilnehmen«, kontert Kolja.

»Vielen Dank, aber die fünf Nudeln im Topf schafft ihr auch noch«, lehnt der Chef ab und sieht mich an. »Wollte nur nachsehen, wie’s dir geht.«

»Besser«, sag ich, »morgen geh ich in die Schule.«

»Gut. Ich bin in der Werkstatt, wenn ihr was braucht.«

Er lässt uns allein. Wir essen schweigend, Kolja schmatzend, unser leckeres und preiswertes Gericht auf.

Gerade schieb ich die letzte Gabel in den Mund, da schnappt sich Kolja meinen Teller, verkündet laut, »ich räum ab«, schleicht stattdessen zur Tür und reißt sie auf.

Er hat den Chef nicht beim Lauschen erwischt.

Paolo kommentiert Koljas Lauschabwehr-Tricks nicht. »Du weißt nicht, wie du bei den Krahs in den Stall gekommen bist?«

»Nein. Keinen blassen Schimmer.«

»Es gibt Methoden, wie man sich wieder an Sachen erinnern kann. Zum Beispiel, wenn man sich auf alles, was mit der Oma oder so zu tun hat, konzentriert«, sagt Kolja.

»Ich hab alles probiert. Da ist nichts. Ich fühle es in meinem Blut, da ist keine Geschichte. Vor der Entlassung des Alten und meinem ersten Schlag ins Gesicht ist nichts.«

Paolo zuckt zusammen. »Bilderfetzen hast du gesagt. Was meinst du damit?«

Meine Panikbücher kann ich ihnen nicht zeigen. Ich überlege, was ich stattdessen sagen kann: »Nichts Konkretes. Ich will damit sagen, dass ich keine Oma habe. Keine Ahnen, keine Ahnung, keine Fußstapfen, in die ich treten kann oder soll. Ich versuche zu fühlen, ob da jemand vor mir da war, aber da ist niemand. Ich bin wie von einem anderen Stern, ein Findling.«

»Findling, so ein Quatsch«, sagt Kolja. »Du bist kein Stein.«

Er und Paolo sind sich einig: »Und du bist auch kein Alien, nur ein abnormaler Erdling. Unsre Obergestörte halt.«

»Klar. Und wie geht die Tilly-Krah-Geschichte mit Pseudo-Ingo Feist zusammen? Und wie mit der Gesamtdeutschen Security? Mit den Schüssen und Sandras Tod?«, frage ich.

»Alter«, Kolja wirft Paolo ein Kissen an den Kopf, »sag noch mal, dass wir nicht die drei Fragezeichen spielen.«

Schneller, als Kolja damit gerechnet hat, fliegt das Kissen zurück: »Das hier ist kein Detektivspiel.«

»Dann gib Pseudo-Tilly mal ’ne Antwort.«

»Einen Moment bitte.«

Paolo haut sich auf das Sofa, schließt die Augen und denkt. Er kann das, und er verblüfft mich immer wieder mit seiner Gabe, logisch und strukturiert zu denken, wenn mir absolut nichts mehr einfällt.

»Wann hat Daniela dich gefunden?«

»Am 25. April 2004.«

»Da kann es nachts noch richtig kalt werden«, denkt Paolo laut. »Wie weit kommt ein circa sechsjähriges Mädchen allein durch Deutschland, ohne aufgegriffen zu werden?«

»Wenn es Angst hat und schlau ist, maximal hundertzehn Kilometer«, sagt Kolja, als sei das ein Fakt, unbestreitbares statistisches Allgemeinwissen.

»Und wie lange braucht es dafür?«

»Maximal vier Wochen«, behauptet Kolja.

»Wir suchen also nach einem Mädchen, das im Jahr 2004 vermisst gemeldet wurde. Finden wir mehrere, dann konzentrieren wir uns auf März und April und die Bundesländer Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Okay?«

»Macht Sinn.« Kolja nickt.

Paolo verlässt die Küche und setzt sich an den Computer.

Ich schäme mich. Seit Jahren liste ich meine Albträume und Panikattacken auf. Wann, wo, warum ich umgekippt bin, vor Panik und Angst geschlottert und schier den Verstand verloren habe. Mit Skizzen, Bildern, Fotos. Meine mittlerweile fünf vollen Panikbücher sollen mir Antworten auf Fragen geben, die ich mir nicht stelle, weil ich viel zu blöd bin!

»Nichts da, du bleibst da, Tilly.« Kolja ist mein Fluchtreflex nicht entgangen. »Wie soll ich dich jetzt eigentlich nennen?«

Ich zupf das mit meinem Namen bestickte Leinentuch vom Quarkkuchen und lege es mir übers Gesicht. Sofort narkotisiert der im Stoff hängende Kuchenduft meine aufgewühlten Sinne.

»Wann essen wir den auf?« Kolja meint den Kuchen.

»Wenn er wieder da ist.« Ich meine Paolo.

Kurz darauf ist er da. »Hast du das Verzeichnis mit den Leichenfunden?«, fragt Paolo.

Er hat was gefunden, ich sehe es ihm an. »In meiner Bude.«

Paolo imitiert die Stimme des Chefs: »Es hat also die Bibliothek verlassen. Hol’s her. Und du kochst Kakao, Kolja. Kapiert?«

»Klar, Kommandant.«

Ich verzieh mich und verstaue den Ordner IV. Nicht identifizierte Leichenfunde 2000–2010 vorsichtshalber in einer Jutetasche, falls der Chef wieder reinplatzt. Meine Panikbücher stecken im Rucksack. Sicherheitshalber nehme ich ihn auch mit in die Küche.

Bei den Jungs kommen zwei Kuchenstücke auf maximal vierfachen Gabeleinsatz. Runtergespült wird die Masse mit einem halben Liter Kakao pro Kerl.

Ich muss zusehen, wie ich zu meinen Nährstoffen komme.

Paolo: »Auf, wir gehen spazieren.«

Widerrede ist zwecklos.

Kolja unternimmt einen müden Versuch: »Wie lange willst du noch den Chef raushängen lassen?«

»Bis wir an einer internationalen Universität studieren, in etwa.«

»Wo wollt ihr hin?« Der echte Chef schleift einen alten Stuhl ab. »Ich hab eben überlegt, wir könnten in die Stadt fahren und ins Kino gehen«, protestiert er.

»Gute Idee«, sagt Paolo. »Morgen? Heute müssen wir was Schulisches besprechen.«

»Und Tilly braucht Auslauf. Die macht uns irre«, sagt Kolja, als wäre ich ein Hund.

Wir gehen zur alten Buche außerhalb von Lauterstetten und setzen uns auf die Bank. Nähert sich jemand, kann man das schon Minuten vorher sehen.

»Du kippst nicht um«, sagt Paolo. »Ich mach keine Mund-zu-Mund-Beatmung.«

»Ich mach’s«, sagt Kolja und grinst, obwohl auch er nervös ist.

Paolo gibt mir und Kolja je einen mehrseitigen Ausdruck.

Und ich lese.

Familienname: Yaren / Vorname: Seyma / Vermisst seit: Freitag, 02.01.2004

Personenbeschreibung zum Zeitpunkt des Verschwindens: Alter: 7 Jahre / Gewicht: 26 kg / Größe: 130 cm / Haare: schwarz, glatt, schulterlang

Bin ich vielleicht eine Türkin? Hat mich Daniela deshalb nicht verstanden? Nein, der Eintrag löst keine Erinnerung bei mir aus. Ich überspringe den Rest und lese weiter.

Familienname: Pohl / Vorname: Elke / Vermisst seit: Dienstag, 02.03.2004

Personenbeschreibung zum Zeitpunkt des Verschwindens: Alter: 8 Jahre / Gewicht: 27 kg / Größe: 131 cm / Haare: braun, glatt, kurz

»Acht ist, glaub ich, zu alt.« Ich werde immer aufgeregter.

Familienname: Kowalska / Vorname: Ewa / Vermisst seit: Donnerstag, 18.03.2004

Personenbeschreibung zum Zeitpunkt des Verschwindens: Alter: 7 Jahre / Gewicht: 24 kg / Größe: 128 cm / Haare: blond, gewellt, lang

Blond, nein, denke ich, als ich auch schon über den nächsten Eintrag stolpere.

Familienname: Goedel / Vorname: Alma / Vermisst seit: Dienstag, 30.03.2004

Personenbeschreibung zum Zeitpunkt des Verschwindens: Alter: 5 Jahre / Gewicht: 21 kg / Größe: 120 cm / Haare: schwarz, gelockt, schulterlang

Bekleidung: blaue Wollhose, blau-weiß gestreifter Wollpullover, blaue Daunenjacke, weiße Mütze, graue gefütterte Schnürstiefel

Sachverhalt: Seit Dienstag, 30.03.2004, 1 Tag vor ihrem 5. Geburtstag, wird Alma GOEDEL aus Alt-Bodow, Spreewald, vermisst. Victor Georg GOEDEL, der Vater des Mädchens, hat sie zuletzt um 17 Uhr in Begleitung ihres Kindermädchen Julie Thompson im Garten des Herrenhauses Flusshorst gesehen. Seitdem sind das Mädchen und das Kindermädchen verschwunden. Die Polizei schließt nicht aus, dass sich das Kindermädchen mit dem Kind im Ausland aufhält.

Mir rutschen die Blätter aus der Hand.

»Sagt dir das irgendwas?«, fragt Paolo mit rauer Stimme.

Mir wird flau, übel. Schnell klaube ich die Seiten wieder auf. »Gibt es Bilder?«

»Bestimmt. Muss danach googeln.«

»Bist du schon bei Alma Goedel? Das sagt mir was.« Kolja springt auf und umrundet die Eiche. »Ich komm gleich drauf.«

Im Panik-am-Polarkreis-Buch klebt sein abfotografierter Gästebucheintrag vom 28. Dezember 2011 aus dem Aurora Linna Icehotel. Als ich damals die violette Tinte und die Schrift gesehen habe, hat es mich schlagartig aus den Latschen gehauen. Ich hatte keine Ahnung, warum.

Ich halte Paolo und Kolja die Seite hin.

What a warm welcome in this icy paradise!

Salute! Victor Georg Goedel

Kolja sieht Paolo über die Schulter. »Was is’n das? Das hab ich doch …« Er greift nach dem ganzen Buch, aber ich zieh es weg.

»Du hast es fotografiert.«

»Victor Georg Goedel war in Lappland, ganz in unsrer Nähe!« Paolo schüttelt den Kopf. »Das können nicht viele von sich sagen. Zufälle gibt’s, aber vielleicht gibt’s da auch einen Zusammenhang. Was ist das für ein Buch, Tilly?«

»Eins meiner Panikbücher. Ich kann mich an nichts erinnern, aber manchmal denke ich, ich werde verfolgt, sehe Bilderfetzen, Bruchstücke, grauenhaftes Zeug. Das schreib ich da rein.«

»Wir gehen heim. Tu einfach, als hättest du alle Tassen im Schrank. Glaub mir, wir finden alles über diese Sache heraus«, sagt Paolo und drückt mich an sich.

»Kein Alleingang mehr, Tilly. Der Scheiß ist ’ne Nummer zu groß und gefährlich für einen allein.« Kolja fährt mir über den Kopf und zieht mir die Mütze über die Augen.

Die harten Kanten der Landschaft sind plötzlich weich. Die Sonne geht unter und färbt die Wolken orange, was der Landschaft einen goldenen Glanz gibt. Alles wirkt wie ein Versprechen. Sogar das Hoflicht strahlt heller.

»Bin gerade fertig«, ruft der Chef aus der Küche. »Hab Hühnersuppe gekocht.«

Die Herren des Hauses löffeln um die Wette.

SCHLÜRF. SCHMATZ. Ich krieg nicht viel runter.

»Voito Riski hat euch für die Pfingstferien nach Lappland eingeladen«, sagt der Chef in die gefräßige Stille hinein.

Er hat einen beiläufigen Ton angeschlagen. Ich könnte wetten, dass es ihm entgegenkäme, wenn wir uns über Pfingsten verziehen würden. Kurzer Check, den Jungs ist es auch nicht entgangen.

»Klar! Wir hätten sonst bloß blöd für die Prüfung gebüffelt. Die fängt einen Tag nach deinem Geburtstag an und hört nach den Ferien auf. Wenn wir dreißig Punkte schaffen, meldet uns Frau Huber für die vorgezogene Realschulprüfung im Herbst an. Aber das knicken wir gern«, sagt Paolo unschuldig.

Dreht der jetzt voll ab? Ja. Paolo stiert uns derart fordernd an, dass Kolja und ich schnell zustimmend nicken.

»Nein! Der Plan ist gut! Macht das unbedingt!« Der Chef betrachtet uns drei Streber total verknallt.

Mir wird klar, womit Paolo pokert: Der Chef braucht Zeit für sich und seine strapaziöse Fernbeziehungs-Uschi und wir für uns. Das geht astrein zusammen. Paolos Rede war eine vertrauensbildende Maßnahme.

»Ich hätte Riski wahnsinnig gern besucht«, sag ich.