19
Der Einbruch
»Ich hätte Riski auch wahnsinnig gern besucht«, zischt Kolja, als wir uns in unsere Wohnküche zurückziehen.
»Wir können nicht in Urlaub fahren«, sagt Paolo stur. »Beck muss seine Fernbeziehung pflegen. Und wenn sie nicht zu ihm kommt, muss er hin zu seiner Uschi.«
Das war zuerst nur Koljas Sprachgebrauch. Aber da der Chef uns den Namen der Zicke, die ihm in immer kürzeren Abständen die Laune versaut, nicht verrät, heißt sie unter uns offiziell so.
»Alter, du denkst nicht weit genug, als dass du auch für mich mitdenken könntest«, motzt Kolja. »Im Leben lässt uns der Chef nicht unbeaufsichtigt, keine Chance.«
Ich halte mich raus, bin in Gedanken woanders.
»Möglich, aber ich will alles über Alma Goedel, Victor Georg Goedel, die GDS, Julie Thompson und dieses Herrenhaus Flusshorst rauskriegen. Tilly muss sich auf die Prüfung konzentrieren. Und du wolltest die Prüfungsfragen beschaffen. Wie denn, wenn wir in Lappland abhängen?«
Kolja zu mir: »Was sagst du dazu?«
»Ich will auch alles wissen, und ich will mit, wenn du die Prüfungsunterlagen besorgst.«
»Oh, doch.«
»Das ist nichts für deine schwachen Nerven.«
»Schluss mit dem Scheiß. Ich bin zehnmal schneller und das zehnmal länger als ihr.«
»Das steht sowieso noch nicht an«, weicht Kolja aus.
»Kannst du mir deine Panikbücher leihen?«, fragt Paolo.
»Was? Nein! Spinnst du?«, raste ich aus. »Damit ihr über meine schwachen Nerven ablachen könnt oder was?«
»Nein, weil ich glaube, dass du keine Verfolgungswahnattacken hast. Ich glaub, du wirst verfolgt. Und das wahrscheinlich schon lange. Deshalb frag ich.«
»Die Bücher sind meine absolute Privatsache!«
BADABOOM, BADABOOM …
Schwache Nerven – kein Ausdruck! Ich hab noch Herzklopfen, als ich schon unter der Decke liege. Alles regt mich auf. Jedes meiner Haare erinnert sich an seine Lippen, an seine Hände. Paolos Augen sind so schwarz, ich könnte hineinfallen, leichter als in den Schlaf. Mein schwächelnder Zustand gefällt mir nicht. Aufgewühlt stiere ich schwarze Löcher in die Dunkelheit, während die neuen Informationen in meinem Hirn rotieren. Alma Goedel. Bin ich das? Ich kriege nicht mit, wie Paolo lautlos die Tür öffnet. Erst als er sie schließt, bemerke ich ihn. Ich kriege auch nicht mit, wie ich an die Wand rutsche und er in mein Bett kommt. Erst als ich mich an ihn ranzittere, realisiere ich, dass er da ist. Meine Hand unter seinem T-Shirt, seine Haut, bringt mich zur Vernunft.
»Keine gute Idee, Paolo. Ich bin nervlich am Tiefpunkt.«
»Pst. Ich will dich nur festhalten, bis du eingeschlafen bist.«
»Und dann kuckst du mich wochenlang wieder nicht an?«
»Ich kuck dich immer an.«
Tränen laufen mir übers Gesicht. »Kann es sein, dass du nur meine Nähe suchst, wenn ich echt am Arsch bin?«
»Tilly, hast du dir mal überlegt, dass es andersherum ist?«
»Hä?«
»Psst.«
»Mich macht das irre, echt. Für ein Komm-her-geh-weg-Spiel bin ich nicht geschaffen.«
»Ich auch nicht«, sagt er und hält mich fest. »Ich hab Angst um dich. Diese Geschichten sind so unfassbar grausam. Ich will dir beistehen.«
»Nicht nur du.« Sein Ständer drückt gegen meinen Schenkel.
»Der beruhigt sich wieder. Schlaf einfach ein.«
Ich bin so benommen, dass es wirkt. Ich schniefe in sein T-Shirt und schlaf in seinen Armen ein.
Als ich aufwache, bin ich allein und ausgeruht. Lange bevor der Bus fährt, laufe ich nach Rastkirch und nach der Schule zurück. In der folgenden Woche behalte ich das Training bei. Die Schule lenkt mich von Grübeleien ab. Paolo weicht meinem Blick nicht mehr aus. Bloß was Kolja vorhat, weiß ich nicht.
»Frau Huber, kann ich einen Aufsatz über ein historisches Bauwerk von Bad Stockbach schreiben? Seit unserem Eisbau-Projekt interessier ich mich für Architektur.«
»Gute Idee. Und welches? Die Brauerei vom Gasthof Lamm ist sehr alt, das Rathaus und der Schuldturm auch. Vielleicht eins davon?«
»Kann ich mich umsehen und mich dann entscheiden?«
»Ab mit dir.« Frau Huber lächelt.
»Alles klar, ab in die Brauerei!«
»Prost, auf die Architektur!«
Im Witzeln der Zurückgebliebenen klingt Neid mit. Doch Faulheit kann man Kolja und auch Paolo nicht vorwerfen, von mir ganz zu schweigen. Anwesend oder nicht, bis jetzt haben wir alle Übungen gemacht und abgegeben. Obwohl Kolja jeden Morgen mit uns im Bus sitzt, zieht er sich drei Tage lang aus dem Unterricht zurück.
Der April ist weniger launisch als ich. Es wird wärmer und die Rennerei stabilisiert mich ansatzweise. Paolo und ich schlafen nachts in unseren eigenen Betten. Von seinen Recherchen über Goedel erzählt er nichts. Meine habe ich auf nach der Prüfung verschoben. Allein der Name bringt mich um die Fassung. Ich konzentriere mich verbissen auf den Schulstoff und mache Tagblatt-Besuche.
»Du siehsch scho viel besser aus!«
»Du auch.«
Maria lacht. »Früher war i schöner.«
Wir blättern in Alben. Ich stelle mir vor, sie wäre meine Großmutter, und nehme sie in den Arm.
»Oh, Mädle, du bisch viel zu dünn.«
»Du auch.«
»I bin alt, aber du brauchsch Subschtanz.«
Subschtanz in Form eines weiteren Schlags Sahne landet auf meinem Apfelkuchen.
»Danke.« Sträuben ist beim Tagblatt sinnlos.
Dann ratschen wir über dies und das. Tut in der Seele gut. Maria hat so eine Art, mit mir umzugehen, als hätte ich keine Fehler, obwohl sie mich mit Kuchen stopfen und beim Laufen bremsen will. Sie tut mir gut.
»Deine Besuche tun mir richtig gut«, sagt Maria.
»Du mir auch«, sag ich.
»Tilly und ich gehen ins Kino«, kündigt Kolja an.
Paolo rammt den Spaten bis zum Anschlag ins Beet, das wir im Beisein des Chefs umgraben.
»Bist du endlich alle Mädchen nördlich der Alpen durch?«
Ätzend, was ist los mit Paolo? Ein Rückfall? Das ist eine Beleidigung gegen mich! Ich bin doch nicht die Allerletzte!
»Wir nehmen den Bus um vier«, sagt Kolja ungerührt.
Es ist halb vier. Die Zeit vergeht langsam und wird von der Sonnenuhr angezeigt. Im Sommer werden wir auf diesem Acker unser selbst gezogenes Bio-Zeugs ernten. Jetzt ist die Zeit der Saat und Setzlinge. Der Chef hat endlose Bauernregeln zitiert.
Alles in mir schreit nach Cola und Currywurst.
Kolja, provokativ: »Tschüss, also dann, bis morgen.«
Wir ziehen unsre Gummistiefel aus und ich frage ihn: »Was soll das, Kolja, du, ich, Kino?«
»Zieh dich schwarz an, komm mit und frag nicht so viel.«
In Bad Stockbach ist der Teufel los auf dem Marktplatz.

Buden, Bierzelt, Blasmusik. Alle Stockbacher sind auf den Beinen. Ich hol mir Cola und Currywurst.
»Das ist die älteste Freiwillige Feuerwehr in der Region.«
»Donnerwetter.«
»Nicht zynisch sein. Bald steigst du ins historische Bauwerk ein.«
»Wieso holst du dir nicht da ein Bier, falls sie dir eins geben?« Ich zeig auf die Schlange vorm Ausschank.
»Nicht in die Brauerei vom Lamm, oh nein, du brichst ins Rathaus ein. Wir holen uns die Prüfungsunterlagen.«
Kein Mensch achtet auf mich, als ich hinter der Tanne in den Hecken verschwinde. »Jetzt geht’s los …«, spielt die Blaskapelle auf dem Markt. Auf Rindenmulch schleiche ich zwischen Rhododendren bis zur Mitte der historischen Rückseite des Rathauses. Nur falls sich jemand zum Scheißen hierher verzieht, kann man mich sehen. Aber das ist unwahrscheinlich, am Platz stehen jede Menge Toilettenwagen. Das Fenster, in das ich einsteigen soll, liegt im ersten Stock. Der alte Festsaal im Erdgeschoss ist wahnsinnig hoch, aber das Gebäude ist in den Hang hineingebaut, das nimmt etwas von der Höhe weg. Trotzdem muss ich mindestens drei Meter an der Fassade hochklettern, deshalb hat mir Kolja den Vorzug gegeben. Die Ritzen zwischen den Sandsteinen sind winzig. Ausatmen, Knie durchdrücken, vorsichtig nach der nächsten Ritze tasten, nächster Zug. Beim sechsten verliere ich den Halt und lande nur zufällig auf den Füßen. Noch einmal: Beine anwinkeln, die Hände auf dem Sandstein und die Fingerspitzen suchen Halt in der Ritze, Gleichgewicht halten, ausatmen, Knie durchdrücken und Blick zum nächsten Griff. Systematisch ein Zug nach dem anderen, bis ich mich am Fenstersims festhalten kann. Unerwartet wahnsinnig schwierig ist es, das Fenster, das nicht abgeschlossen sein soll, aufzudrücken. Wie denn? Mit meiner dritten Hand? Meine Muskeln brennen. Mit allerletzter Kraft drücke ich den Kopf dagegen. Als das Fenster sich einen Spalt öffnet, kralle ich mich am Fensterrahmen fest. Dann bin ich drin, im Personalklo, 1. Stock. Hier raucht der Bürgermeister, heimlich.
Ich ziehe meine Schuhe aus, das Fenster hinter mir zu und spring runter. Links geht’s zum PUTZRAUM – Tür geschlossen halten. Auf Socken schleiche ich am Waschbecken vorbei. Seitdem ich denken kann, schleiche ich auf Socken. Niemals barfuß, viel zu laut, vor allem auf Kunststoffböden. Lautlos – das kann ich, wer weiß, ob ich noch am Leben wäre, wenn ich es nicht könnte – öffne ich die Tür zum Flur und laufe beinah in einen Putzwagen hinein. Die Frau, die ihn schiebt, schreit den offenen Treppenaufgang hinunter: »Ivana, bist du endlich fertig?«
Ich lege blitzartig den Rückwärtsgang ein und ziehe mich in die mittlere Kabine zurück.
Von unten: »Stress! Immer machst du Stress, Cefika!«
RUMS. BOING.
Licht an. Putzwagen scheppert durch die Personaltoilette. Die Putzfrau muss nicht leise sein, sie ist es nicht. Sie brüllt: »Beeilung, ich will auf den Marktplatz!«
Der Putzraum wird abgeschlossen, der Wasserhahn am Waschbecken läuft. Licht aus, eine Tür fällt ins Schloss.
Ich warte lange, dann öffne ich noch einmal lautlos die Tür und mache mich auf zum Laufparcours, wie Kolja ihn mir beschrieben hat: Durch den Flur um den Treppenaufgang, immer links die Büros im Blick behalten, ob ein Lichtschein auszumachen ist, dann den Festsaal umkreisen. Ist die Luft rein, wieder hoch ins Bürgermeisterklo, das Seil aus dem Rucksack nehmen, um die Kabinenwand schlingen und beide Enden aus dem Fenster werfen.
Ich folge den Anweisungen. Kolja steht unten.
Mit dem Seil ist das Hochkommen an sich kein Thema, aber er ächzt und keucht: »Mann, was dauert das denn so lang?«
Ich: »Frag die Putzfrauen, wieso sie in deinem super recherchierten Supercoup nicht vorkommen!«
Er flüstert: »Wirst schon sehen.«
Ich flüstere: »Ich kann dich hören. Zieh die Schuhe aus.«
Ich schleiche hinter ihm her und bedaure meine Aufforderung. »Kolja, das kannst du nicht bringen.«
»Was?«
»Deine Socken stinken dermaßen, das ist krank. Du gräbst Mädchen an. Was willst du? Sie mit einer Socke außer Gefecht setzen und dann mit ihnen rummachen?«
»Maul. Das kommt von den Gummistiefeln. Wenn ich ausgehe, sind nicht nur meine Socken frisch.«
Der stinkige Meisterdieb bewegt sich wie ein Schatten. Im Erdgeschoss hält er vorm Empfang. Er schließt mit einem Dietrich die zweite Tür links schneller auf, als ich lesen kann, was für eine Abteilung das ist. Dann hält er auf das Waschbecken zu, zieht den Stecker vom Wasserkocher aus der Steckdose, füllt ihn mit Wasser, ich soll ihn tragen. Es geht an vier Schreibtischarbeitsplätzen für vier Sesselfurzer vorbei. Dann schließt er die Seitentür zum POSTRAUM auf. Das wandfüllende Fächerregal ist mit abgegriffenen Schildchen versehen. Für die Tür auf der rechten Seite braucht Kolja fünfzehn Sekunden. Kaum packt mich die Nervosität, ist sie offen. Kolja macht das Licht an. Der Raum ist fensterlos.
»Steck den Wasserkocher ein.«
Früher müssen der Postraum und dieser hier ein Raum gewesen sein. Beide sind schmal und haben ein Regalsystem, mit dem einen Unterschied: Die Fächer hier sind abschließbar. Eins der Fächer schließt Kolja auf:
S wie Schule und Bildung.
»Da ist er.« Ein Umschlag liegt im Fach, adressiert an die PRÜFUNGSKOMMISSION VHS-Bad Stockbach, das Oberschulamt ist der Absender.
Aus dem Kocher tritt Wasserdampf aus. Kolja bewegt den gummierten Klebestreifen über dem Dampf hin und her. Er ist die Ruhe selbst. »Fotokopier das dreimal.«
»Wo?«
Ich schleich runter, such den Stecker, die Steckdose und drücke auf on. Der Krach, der folgt, ist in der Stille ohrenbetäubend. Vor Schreck werfe ich mich hinter eine Palette mit A4-Papier.
Mit lauwarmen Kopien flitze ich wieder nach oben.
»Gib mir einen Satz Kopien und steck die beiden andern in deinen Rucksack, falls uns wer filzt.«
Kolja überprüft die Reihenfolge der Originalpapiere, tütet sie ein und klebt den Umschlag zu. Sieht aus, als wäre er niemals offen gewesen.
Alle Türen werden ordnungsgemäß zugeschlossen. Der Wasserkocher kommt an seinen angestammten Platz. Ich schleiche Kolja hinterher. Seine Füße duften, als würde er auf Rosenblättern wandeln. Ich übertreibe.
»Das macht Spaß«, grinse ich.
Er grinst zurück. »Ich arbeite lieber an den Regeln mit, nach denen ich leben soll. Hab ’n besseres Gefühl dabei.«
Ich auch, aber Respekt, wie konsequent er es handhabt. Er hat gründlich recherchiert für seinen Aufsatz über alte Gemäuer. Und bis auf das Putzpersonal hat er an alles gedacht. Mit einem simplen Klebestreifen schafft er es, dass sich das Fenster zuzieht, als er das Seil einholt.
Wir hinterlassen keine Spuren auf dem Rindenmulch.
»Noch ’ne Cola? Ich geb eine aus.« Meine Kehle ist vollkommen ausgedörrt. Die Blaskapelle spielt »Ein Prosit der Gemütlichkeit«.
Wir schweigen und beobachten das Treiben um uns herum. Ein gemütliches, geschwisterliches Schweigen, bis ich frage: »Wo ist deine Schwester?«
»Bei ihrer Mutter«, sagt Kolja knapp.
»Und wieso du nicht?«
»Ich kann nicht.« Kolja trinkt. »Sie hat mir nie geholfen. Nie, auch nicht, als ich ganz klein war. Manchmal ist es blöd, wenn man sich erinnern kann. Glaub mir.«
Das ist sein Schlusssatz zu den Themen Vergangenheit, Familie und all dem Scheiß.
Der Chef und Paolo fangen uns zu Hause ab.
»Und, wie war der Film?«
»Keine Ahnung«, sagt Kolja. »Wir haben’s uns anders überlegt und sind zum Feuerwehrfest gegangen.«
Ich summe »Ein Prosit der Gemütlichkeit«, aber irgendwas verstimmt Paolo. Vielleicht summe ich falsch?
Auf Koljas Frage, »Gibt’s was zu beißen?«, kriegt er auch keine Antwort. »Ich geh hoch, mach mir ’n Brot«, sagt Kolja und schlendert die Treppen hoch.
»Bin platt«, sag ich und eile ihm nach. Sonst verwickelt mich der Chef noch in eine Debatte.
In meinem Zimmer höre ich Paolo draußen im Flur erst genervt und dann entspannt mit Kolja palavern.
Als wir in der Küche die Papiere sichten, finden wir auch die Unterlagen für den Realschulabschluss.
»Wenn wir jetzt schon die Prüfungsthemen für die vorgezogene Realschulprüfung im Herbst hätten, wie geil wär das?«, träumt Paolo.
»Wir müssen die Klappe halten«, mahnt Kolja. »Zu niemandem ein Wort.«
Paolo: »Das ist uns allen arschklar!«
»Und ihr müsst morgen mit mir einen Aufsatz über den Schuldturm schreiben. Das bin ich Frau Huber schuldig.«
»Morgen ist Sonntag! Ich hab heute für euch das Feld bestellt und den Mist untergegraben.«
»Ich bin für euch an einer glatten Fassade hochgeklettert und habe für euch riskiert, mir das Genick zu brechen«, gebe ich zu bedenken, weil ich kommen sehe, dass es an mir hängen bleiben soll, Koljas Arbeit zu schreiben.
»Morgen um zehn, hier«, hakt Kolja nach.
Pause. Wir nicken – alle drei.
Der Einbruch hat mich aufgewühlt, an Schlaf ist nicht zu denken. Ich krabble wieder aus dem Bett und sehe nach den Sternen. Der Mond steht exakt über Marias Haus. Das ist beruhigend, und ich denke, alles ist gut. Wir sind auf die Prüfung vorbereitet, ich bin nicht allein. Der Chef scheint noch wach zu sein, denn ich sehe einen Lichtschein im Garten. Und dann sehe ich ihn! Ein Mann schleicht am umgegrabenen Acker entlang Richtung Gartenlaube und verschwindet dahinter. Ich öffne leise meine Tür – zum Glück ist im Flur das Licht nicht an – und flitze in Paolos Zimmer.
»Steh auf! Im Garten ist einer. Wir müssen es dem Chef sagen!«
Ich kann Paolo gerade noch daran hindern, das Licht anzumachen. Aber dann ist er hellwach.
»Weck Kolja, ich geh nach unten.« Paolo schleicht die Treppe runter.
Ich steh vor Koljas Tür und flüstere so laut wie möglich: »Kolja.« Klopf, klopf. Ich drücke die Klinke, er hat abgeschlossen. Und dann höre ich eindeutige rhythmische Vögelgeräusche. Das darf ja wohl nicht wahr sein! Ausgerechnet jetzt! »Kolja!«
Eins, zwei, drei, vier, fünf … Er öffnet die Tür einen Spalt und zeigt sein durchgeknalltes Gesicht.
»Im Garten schleicht einer rum. Zieh dir was über und komm runter. Wenn’s irgend geht – schnell!«
Ich lass ihn stehen und renne die Treppe runter.
Der Chef und Paolo warten vor der Küchentür auf uns. Die Schalter für die Gartenbeleuchtung befinden sich in der Küche und in der Werkstatt.
»Wo ist Kolja?« Der Chef ist nervös.
»Zieht sich an.« Wir hören ihn die Treppe runterkommen.
»Was hast du genau gesehen?«, fragt der Chef.
»Einen Mann. Er ist am Acker vorbeigeschlichen und hat sich hinter der Gartenlaube versteckt.«
»Ich mach das Gartenlicht an und ihr bezieht Posten an der Werkstatt. Ich sehe in der Laube nach. Vielleicht ist es ein Penner. Wenn er abhauen will, lassen wir ihn.«
Wir schleichen in die dunkle Küche. Der Schlüssel zur Gartentür steckt. Kolja dreht ihn lautlos im Schloss. Er ist noch in Übung.
»Du bleibst hier.« Der Chef meint mich und nimmt die schwere, lange Taschenlampe vom Regal. Dann drückt er auf den Schalter. Im Garten wird es hell.
Paolo und Kolja rennen zur Werkstatt rüber. Kolja rüttelt an der Tür. Sie ist verschlossen. Der Chef hält Abstand zur Laube und ruft: »Ist da wer?«
Keine Antwort. Nichts bewegt sich. Ich friere und spüre gleichzeitig, wie mir das Blut ins Gesicht steigt. Immer sehe ich was, die anderen nie. Immer bin ich die Blöde.
Paolo und Kolja schleichen zum Chef. Sie nähern sich zu dritt der Laube.
Nichts. Paolo checkt rechts, Kolja links. Die Rückseite der Laube schließt ohne Zwischenraum an die Hofmauer an.
»Leuchte auf das Schloss«, hör ich Kolja leise zum Chef sagen. Dann gestikuliert er, und Paolo und der Chef tragen den Gartentisch zur Laubentür. Ich höre keinen Laut, bis die Tür auffliegt und gegen den Tisch kracht. Paolo fällt nach rechts, der Chef nach links. Ein Mann hechtet über den Tisch und schlägt auf Kolja ein. Ich renne ins Wohnzimmer, bin mit einem Sprung in der leeren Kaminholz-Kiste, klappe den Deckel herunter und erstarre. Wie aus weiter Ferne höre ich schnelle Schritte in der Küche, im Wohnzimmer, nebenan in Becks Schlafzimmer und im Treppenhaus.
Dann höre ich Kolja brüllen. »Oberstraße 36 in Lauterstetten! Wir sind überfallen worden! Drei Verletzte! Der Täter ist im Haus und es sind zwei junge Mädchen hier! Schnell!«
Dann höre ich ein Mädchen gellend schreien. »Hilfe!«
Dann wieder Kolja in der Küche oder im Treppenhaus: »Wo bist du, Arschloch? Die Bullen kommen! Ich mach dich fertig, du feige Sau!«
Schnelle Schritte im Treppenhaus. Ein Schlag, jemand fällt. Wieder diese schrecklichen Schritte und dann Gebrüll, diesmal von Paolo, dann Wutgebrüll und gleich noch einmal Paolo. Dann herrscht Stille.
Ich höre nichts mehr.
Schließlich ein schleifendes Geräusch, ein Schlüssel dreht sich, schwerfällige Schritte im Flur, ein Rütteln an der Haustür und dann: »Tilly!!!« Paolo. Verzweiflung pur.
Ich will mich bemerkbar machen. Ich will es wirklich, aber ich weiß nicht mehr, wie das geht. Ich räuspere mich leise, heb den Deckel ganz sachte mit dem Rücken an und lass ihn wieder fallen. Zweimal, dreimal. Plötzlich schießt mir der Gedanke an Koljas Freundin Adrenalin durch meine Adern, genug, dass ich den Deckel aufstemme und so laut ich kann »Paolo!« brülle.
Er lehnt am Türrahmen, sein Gesicht schmerzverzerrt, ein Auge total zugeschwollen.
»Ist er weg?«, frage ich.
»Ja.«
»Kannst du mir raushelfen?«
Er torkelt zu mir hin, fällt vor der Kiste auf seine Knie und zupft an meinen. Ich stecke von den Füßen bis zu den Knien fest. »Kolja hatte ein Mädchen im Bett!«, flüstere ich. »Sie hat geschrien.«
»Oh, nein! Warte, Tilly!« Paolo zieht an meiner Hand und wirft die Kiste einfach um. Das hilft. Ich falle zur Seite und dabei rutscht mein Knie ein Stück nach oben. Erst kriege ich das linke Bein frei, dann das rechte Bein. Ich rolle über den Boden. Paolo liegt auf der Seite. Ich streichle ihm leicht über die Haare. Er stöhnt. Dann stehe ich auf und stechende Schmerzen jagen mir durch die Beine. »Ich geh rauf und sehe nach. Bin gleich wieder da.«
Auf dem Küchenfußboden liegt der Chef. Seine Hand bewegt sich, das hab ich gesehen. Im Flur muss ich über Kolja rübersteigen. »Ich komm gleich zu dir«, sag ich leise. Ich habe ihn atmen hören.
Koljas Bett ist leer. Leises Schluchzen dringt aus dem Badezimmer. Sie hat sich eingeschlossen.
»Ich bin’s, Tilly. Er ist weg! Komm raus.«
Es ist Lea. »Wirklich?« Sie zittert.
Ich nicke und sie fällt mir um den Hals.
»Hat er dir was getan?«, frage ich.
»Ich war unter der Decke und hab gedacht, Kolja kommt zurück. Der Typ hat sie weggezogen, mich angestarrt, dann ist er raus und von Zimmer zu Zimmer gegangen«, schluchzt sie. »Ich hab gedacht, er kommt zurück und bringt mich um. Ich bin ins Badezimmer gerannt, hab abgeschlossen und um Hilfe geschrien.«
»Er ist weg. Lass uns runtergehen.«
Lea lässt das Handtuch fallen und zieht ihre Jeans und ein Kapuzenshirt über. Sie zögert.
»Kolja ist verletzt. Es wird ihn beruhigen, wenn es dir gut geht.«
Auf der Treppe hören wir nahende Martinshörner, das beruhigt mich.
»Ich wär lieber weg, wenn die Polizei kommt«, sagt Lea beklommen.
»Sag, dass du bei mir warst. Geh nicht raus, Lea, vielleicht hat sich der Wahnsinnige draußen irgendwo versteckt.«
Zwei Kranken- und drei Streifenwagen bremsen vorm Haus, und als es Sturm klingelt und ich die Tür öffne, bricht Chaos aus. Drei Polizisten durchkämmen den Garten, drei das Haus. Die Sanitäter kümmern sich um den Chef, Kolja und Paolo. Lea und ich stehen im Flur an der Wand und schlottern.
»Kann mir jemand dazu was sagen?« Ein Polizist hält mit zwei Fingern ein blutiges Nudelholz hoch.
»Damit hab ich zweimal auf ihn eingeschlagen«, antwortet Paolo.
»Wo hast du ihn damit getroffen?« Der Polizist lässt das Nudelholz in eine Tüte gleiten.
»Hinterkopf und Schulterblätter.«
»Du hast zwei Wünsche frei, Paolo.« Kolja kichert unter Schmerzen. »Mit dem Nudelholz, Alter. Genial.«
Über Funk gibt der Polizist weiter, dass der Flüchtige verletzt sei. Draußen suchen also welche nach dem Schwein. Ich bin bereit, mich mit dem Berufsstand der Ordnungshüter zu versöhnen, bis zwei Beamte die Treppe runterpoltern und Lea und mir unverhohlen auf den Busen starren. Mir wird kalt. Ich gehe wortlos nach oben und zieh mir einen Pulli übers Shirt und Jeans über die Schlafanzugshose, und mein distanziertes Verhältnis zu unseren Freunden und Helfern ist wiederhergestellt.
Die Nacht verbringen wir, bis auf Lea, im Krankenhaus Bad Stockbach. Der Chef und die Jungs werden geröntgt, getapet, verarztet.
Am nächsten Tag folgt eine ausführliche Befragung durch die Polizei. Es war kein Raubüberfall, obwohl wir gerne glauben würden, dass Koljas Anruf ihn vereitelt hat.
Kaum sind sie weg, sagt Kolja ratlos, ungläubig: »Ich hab die Bullen gerufen.« Staun: »Und die sind gekommen.«
Der Chef telefoniert lange mit KHK Preuß.
Das Ergebnis der Unterredung kriegen wir tags drauf mit: Bewegungsmelder, Sicherheitsschlösser, Alarmanlage, Gartenzaunverstärkung, Guckloch an der Haustür. Becks Hof wird zum Hochsicherheitstrakt aufgerüstet.
Glücklicherweise nicht durch die Firma GDS.
Über Tilly Krah und Alma Goedel haben wir nichts zu Protokoll gegeben. Paolo hat vor der Vernehmung, als wir drei unbeobachtet waren, die Sprache darauf gebracht. »Kein Ton über Tilly Krah und Alma Goedel oder das Herrenhaus Flusshorst. Irgendwie hab ich den Verdacht, dass der Chef mit dem Anruf bei deiner Alten, von dem er Preuß und Grau erzählt hat, schlafende Hunde geweckt hat. Deshalb der Überfall gestern. Alles, was ich über Goedel recherchiert habe, ist, dass man supervorsichtig sein muss. Der Typ ist Banker und hat sich schon so oft aus der Scheiße gezogen. Einmal hat ihn ein Journalist mit einem Kinderpornoring in Verbindung gebracht, der war danach weg vom Fenster. Goedel hat eine Meute Anwälte auf ihn gehetzt, dass der aus dem Dementieren nicht mehr rausgekommen ist. Unglaublich! Wir dürfen nicht durchblicken lassen, dass du weißt, dass du nicht Tilly bist, bevor wir nicht genau wissen, was davor war. Bei all diesen Geschichten geht’s um dich, Tilly.«
Ich nicke. Ich hätte sowieso nichts gesagt.
»Sollten wir nicht gerade deshalb mit Preuß reden? Mann, Mord und Totschlag, die Typen sind echt gefährlich«, zweifelt Kolja.
»Wir beschützen Tilly. Vergiss nicht, Alter, das Nudelholz des italienischen Pizzamannes hat das Arschloch in die Flucht geschlagen, nicht die Bullen. Die kommen erst, wenn was passiert ist.«
Wir ziehen uns in unsere sichere Küchenhöhle zurück und büffeln.