5
November

Was ist in den vergangenen zwei Wochen passiert?

Zuerst haben wir kollektiv unseren Körperschmuck entfernt, ausgelöst durch Lars, die Glatze. Unter Schmerzensgeheul kam er in den Küchencontainer gestürmt.

»Was hat der denn?« Wir rätseln.

Die Antwort ist simpel. Die Ufer des Paatsjoki frieren zu. Es ist wahnsinnig kalt. Metall leitet Kälte besser als Fettgewebe. Und die Folge davon ist: Piercings drosseln die Blutzirkulation, das Gewebe kühlt ab, und der Schmuck friert auf den unbedeckten Hautstellen fest. Das tut sauweh. Ich entferne blitzartig meine Ohrstecker.

Insgesamt geht in unsrer Gruppe gut ein Kilo Metall ab.

Der Rest war Schufterei, Seifenoper, Tratsch, Zoff und ein weiteres übles Besäufnis, diesmal mit absolut ungeklärter Alkoholbeschaffung.

Zur Schufterei: Nach konstantem Schneefall sehen unsre Container Iglus bereits verblüffend ähnlich. Riski macht unmenschlichen Druck. Wir haben aufgeholt und liegen wieder im Zeitplan. Die Stahlkonstruktionen für die Korridore und Außenwände der Jugendherberge sind fertig. Daneben stehen die Konstruktionen für das separate Diskoiglu. Vor vier Tagen haben wir vom Aurora Linna Icehotel eine Schneekanone geliefert bekommen. Mit Wasser aus dem Fluss, das in Schnee verwandelt wird, werden die Zwischenwände beschossen, bis sie kompakt gefüllt und gefroren sind. Dauert ein paar Tage, dann kommt die Dachverschalung drauf. Wieder Schneekanonenbeschuss, Warten, Stahlkonstruktionen und Verschalungen abbauen und fertig. Fürs Mobiliar bekommen wir Eisblöcke aus dem Kühllager, an denen wir uns künstlerisch austoben sollen. Im Frühjahr schmilzt die ganze Angelegenheit und fließt zurück in den Fluss. So viel zur Vergänglichkeit getaner Arbeit. Sind so kalte Hände, kalte Finger dran, darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann, hat Tonberg gestern gesungen. Beck hat sich schlapp gelacht. Die Arbeit macht mürbe und albern gleichzeitig. Musikbeschallung aus der Anlage ist bei der Arbeit neuerdings verboten, weil unterschiedliche Musikgeschmäcker zu Schlägereien geführt haben.

Jetzt zur Soap: Vanessa macht weiterhin im Wechsel mit Lars, Cem, Sam, Nils und Ben rum. Das hat Unfrieden im Lager der Einsilbigen zur Folge. Zwei Schlägereien. Dazu gräbt sie neuerdings auch Paolo an, der sie abfahren lässt. Wahnsinnsdrama, eine Schlägerei, und bei mir ein unbekanntes Gefühl. Dass es Eifersucht sein könnte, mag ich nicht mal denken.

Den Trost am gekränkten Mann übernimmt dann wieder Jana. Drama, Gekeife, Zoff ohne Ende. Sie haben die Betten auseinandergestellt und die Spinde zurückarrangiert und sie kurz darauf in einem Moment alter freundschaftlicher Gefühle wieder zusammengerückt. Dann wieder auseinander. Sandra verzieht sich bei den nervigen Umbaumaßnahmen zu Kolja.

Als sie mir die Haarspitzen stutzt, ist ihre Rede: »Kolja hat …« – »Kolja ist …« – »Kolja sagt …« - »Kolja macht …« – »Kolja kann …«. So viel, wie er kann, traue ich ihm zu, den Alkohol beschafft zu haben. Scheint so, als wäre eine geschlossene Tür für Kolja nicht mehr als ein Vorschlag oder eine Idee, die man auch anders interpretieren kann. Dank Sandra kenne ich ihn jetzt ganz gut. Kolja, Paolo, Sandra stehen auf meiner Liste oder anders gesagt, meine Liste steht fest. Wenn sie nur nicht ausgerechnet wie ich aussehen und mit mir »Sport« machen wollen würde. Beim Wocheneinkauf in Ivalo hat Sandra sich Haarfärbemittel besorgt. Black. Dann hat sie von mir verlangt, dass ich ihr die gleiche Manga-Frisur verpasse, wie ich ihrer Meinung nach eine trage. Bloß, ich hab dickes Rosshaar, das sich auch noch lockt, wenn’s ’n Tick länger ist. Ihr Haar ist lang und seidig. Aber sie hat gebettelt und ich hab’s gemacht. Drama. Dann hat sie es schwarz gefärbt. Noch größeres Drama, weil Kolja die Augen verdreht hat. Aber aufgehalten hat es sie nicht. Nach einer halben Dose Haarspray musste er zugeben, »Du siehst aus wie Tilly«.

Zum Tratsch: Ob man sich raushält oder nicht, bei der Arbeit erfährt man mehr voneinander, als man wissen will. Gossip und Fakten, Dichtung und Wahrheit. Mich interessiert vor allem Paolo, von dem man sich wilde Mafia-Geschichten erzählt, die er weder bestätigt noch widerlegt.

»Tilly rennt Voito Riski nach!«, sagen alle. Das stimmt. Von dem Mann will ich nichts, aber abhängen lass ich mich auch nicht. Seitdem alles zugeschneit ist, bringt er mir Langlaufen bei. Er hat mir Skier besorgt und mit dem Schneemobil eine Loipe angelegt. Für mich hat das nur Vorteile, denn ich komm raus, muss eine Stunde weniger arbeiten und bin vom Kantinendienst befreit. Wieso die anderen freiwillig darauf verzichten? Ich werde es nie kapieren. Ohne Riski hätte ich mich nach meiner Panikattacken-Serie nicht mehr vor die Tür getraut. Er hält mich für ein läuferisches Genie, denn Angst hat mich schon immer schnell gemacht. Ich würde wie ein Knochenwindspiel übers Eis flitzen, behauptet er, so schnell wäre ich. Es stimmt, ich bin kurz davor, ihn beim Langlauf abzuhängen.

»Bringst du mir Schießen bei?«, hab ich ihn gestern gefragt. Und zwar an der Stelle, wo am russischen Ufer die Hütte ist und ich mir diesmal einbildete, ein Licht aufflackern gesehen zu haben.

»Nein«, sagte er. »Definitiv, nein.«

»Wieso nicht?«

»Weil du ’ne Macke hast.« Auf Englisch natürlich.

Ich blicke rüber zur anderen Uferseite. Die Hütte wirkt total verlassen und liegt im Dunkeln.

Im Camp schleicht Beck um mich rum und will mit mir reden, weil ihm meine komatösen Zustände zu schaffen machen. Sooft ich kann, weich ich ihm aus.

»Tilly! Bleib stehen!«

»Was is’n los?«

»Du sollst stehen bleiben!« Beck stapft wütend auf mich zu. »Ich will deine Eltern nach ein paar gesundheitlichen Daten fragen.«

»Und?«

»Was gibt’s da zu grinsen?«, fragt er irritiert. »Ich will wissen, ob du einen frühkindlichen Schaden hast. Diese Ohnmachtsanfälle müssen doch eine Ursache haben! Also, ich finde das nicht witzig. Schließlich trage ich hier für dich die Verantwortung!«

»Ja, versteh ich. Nur zu.«

Ich muss mir das Lachen verkneifen. Ich bin meinen Eltern scheißegal. Sie wissen nichts über mich. Ich zweifle daran, überhaupt Kind leiblicher Eltern zu sein.