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Spuren

Kolja stimmt Paolo sofort zu. Ich bin so gut wie tot, aber die Jungs spinnen hellwach an Verschwörungstheorien.

Was, wenn Goedel über die Tatsache, dass die Alarmanlage ausgestellt wurde, auf Tilly kommt?

»Der weiß, wie du aussiehst, Tilly. Er weiß, wie du heißt. Der ist immer auf dem neuesten Stand und weiß, wo du bist. Glaub mir.«

»Aber wieso gerade jetzt? Nach all den Heimen, Jugendpsychiatrien und nach fünf Jahren bei den Krahs? Der muss doch mittlerweile wissen, dass ich mich an nichts erinnere und ihm deshalb auch nicht schaden kann.« Mir schwirrt der Kopf.

»Ja, aber nicht, wenn er denkt, dass du in Flusshorst warst.«

Das stimmt. Wir schleichen uns ins Büro. Paolo fährt den Computer hoch und ändert die Teilnehmerliste. Tilly Krah wird Lilly Grau. Kolja Jäger wird Holger Leher und Paolo Motta wird Bela Notter. Die E-Mails vom Chef löscht er unwiederbringlich.

Dann gehen wir wieder ins Bett.

Endlich kann ich weinen. Ich weine die ganze Nacht. Sie lassen mich weinen. Und dafür liebe ich sie, liebe sie beide, und weine. Den Anruf beim Chef übernimmt Kolja. Mit dünner Stimme berichtet er von unserer Magen-Darmgrippe. Ich sehe total verschwollen und fiebrig aus, aber wie’s aussieht, werde ich damit nicht allein bleiben. Bei den Schlossmädchen fließen die Tränen in Strömen. Die Jungs betteln nach meiner Handynummer und glauben nicht, dass ich keins habe. Angesäuert bricht der Chef vor der Zeit den Aufenthalt bei seiner Uschi ab und wir fahren nach Hause. Auf der Fahrt nach Lübben bedauert Bigot sehr, dass wir unsere Lektion nicht jusqu’à la fin bringen konnten. Nur Melanie hat ihre Zuneigung auf eine schöne Art zum Ausdruck gebracht und mir ein Paket Stullen mitgegeben.

Ich lass das Herrenhaus hinter mir wie eine schwere Krankheit. Jeder Kilometer zwischen Flusshorst und mir lässt mein Gesicht mir wieder ähnlicher werden. Dafür steigert sich Kolja mit jedem Kilometer tiefer in meinen Verfolgungswahn hinein. Er hasst Victor Georg Goedel so sehr, dass Paolo mahnt, er solle Goedel mal nicht mit seinem eigenen Vater verwechseln.

»Nee, mach ich nicht. Mein Alter ist ein mieser Frauenund Kinderhasser, der sich sadistisch an Schwächeren austobt. Er ist einfach unmenschlich, brutal und dumm. Goedel ist ein ganz anderes Kaliber.«

Ich kann den Unterschied nicht sehen, will mich aber nicht streiten, wen von uns es übler erwischt hat. Außerdem will ich nicht dauernd denken: Mein Vater hat mich missbraucht, misshandelt, gequält, lebendig begraben, und er will mich töten, umbringen, mich aus dem Weg schaffen …

Aber Kolja ist nicht zu bremsen, er malt Diagramme, schreibt FRANKFURT in Großbuchstaben und umkreist es mit rotem Stift. »Ich bin mir sicher, dass Pseudo-Ingo Feist dich im Auftrag von Goedel umbringen sollte und versehentlich Sandra erwischt hat.«

Paolo sorgt sich um mich. »Alter, lass mal nach. Du musst Tilly nicht dauernd daran erinnern, dass jemand sie umbringen will.«

»Nicht jemand. Goedel.«

»Das weiß sie auch. Lass die Scheiße doch erst mal sacken. Reite nicht dauernd drauf rum.«

Doch Kolja kann nicht aufhören, ihn regt das viel zu sehr auf. »Ein einflussreicher Banker hat einflussreiche Helfer und kennt einen Haufen Leute, die ihm was schuldig sind. Wie hätten sonst die Papiere aus der Staatsanwaltschaft verschwinden können? Der Hauptsitz von Goedels Büro ist in Frankfurt.«

»Hat das nicht Zeit?« Paolo schüttelt den Kopf.

»Lass ihn, Kolja hat recht. Und was du gestern gesagt hast, stimmt auch«, sag ich. »Goedel weiß alles über mein Leben, über meine Identität als Tilly Krah und unser Leben in Lauterstetten. Kann also gut sein, dass ich nicht mehr viel Zeit habe.«

»Wenn er Becks Konto überprüfen lässt, weiß er sowieso von unserem Sprachkurs«, überlegt Kolja.

Wir spekulieren weiter darüber, warum er mich bis jetzt in Ruhe gelassen hat.

»Vielleicht hatte er früher Schiss, dass über meine Leiche Querverbindungen zu Alma Goedel hergestellt werden könnten. Spätestens dann wär’s ihm ja an den Kragen gegangen.«

Paolo denkt in die gleiche Richtung: »Deshalb hat er versucht, dich in Lappland aus dem Weg zu räumen, so weit weg wie möglich. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei dort herausgefunden hätte, dass du gar nicht Tilly Krah bist, ist kleiner.«

Wir steigen am Ostbahnhof in Berlin aus und warten am Gleis 7 auf den ICE nach Mannheim.

Gib Heckenschützen keine Chance, unter dem Motto verschaffe ich mir unauffällig ein möglichst genaues Umgebungsbild.

»Andrerseits, wenn Goedel Tilly beobachten lässt, muss er überzeugt sein, dass sie einen totalen Dachschaden hat«, grinst Kolja. »Kuck mal. Ist doch unglaublich, wie die immer rumzappelt.« Er richtet sich an Paolo und realisiert, dass der genauso unruhig ist. »Glaubt ihr etwa, die sind schon hinter uns her?«, fragt er baff.

Ich schüttle den Kopf.

Aber Paolo meint: »Ausgeschlossen ist es nicht.«

»Mann, du machst mir echt Angst«, sagt Kolja.

Auf dem Bahnsteig gegenüber steuern zwei Polizisten auf einen Afrikaner zu, der friedlich auf einer Bank sitzt und Zeitung liest.

Die Polizei rufen? Hilfe und Schutz durch die Polizei? Niemals, da sind wir uns einig. Der einfahrende ICE 873 verdeckt, was gegenüber passiert. Wir haben ein Mutter-Kind-Abteil für uns allein, können die Füße hochlegen und uns Melanies Fresspaket widmen.

Kolja: »Dich füttert immer irgendwer. Das Tagblatt, Melanie …«

Paolo: »Weil sie alles runterläuft. Kuck sie doch an. Und dann ist sie auch noch brauner als ich.«

In vorwurfsvollem Ton, als hätte ich ihm was von seiner italienischen Mafia-Herkunfts-Bräune abgekratzt.

So ist das eben, ich bin dunkler und »krieg halt keinen Sonnenbrand wie deine edlen Schlossrosen.«

Kolja schüttelt den Kopf und grinst. »Tilly ist eifersüchtig.«

Paolo sieht mich aus Augenschlitzen an, mit Wimpern wie ein Mädchen. Wir könnten Geschwister sein.

Ich: »Schafft was zu trinken ran. Ich hab’s Futter besorgt.«

Sie motzen, stehen, gehen, holen.

Die Büsche vorm Fenster zeichnen waagerechte Linien, der Zug fährt wahnsinnig schnell, irgendwas klappert. Ich will nicht dran denken, was passiert, wenn sich bei dem Tempo eine Schraube löst. Vor unserem Abteil steht ein Kerl und starrt mich an. Ich starre zurück.

Ein Schaffner drückt sich an ihm vorbei. »Die Fahrkarte, bitte.« Der Typ grinst mich an und schiebt ab.

In mir schrillt eine Alarmglocke. Ich bin in einem Daueralarmzustand.

Paolo knallt Sprudelwasser auf unser Mutter-und-Kind-Tischchen. »Alles okay?«

Ich nicke und gähne, mehr vor Anspannung als vor Müdigkeit. Trotzdem ansteckend, Paolo und Kolja lassen ihre Zäpfchen tanzen.

»Alles ist anders geworden, spürt ihr das auch?« Ich sehe die Jungs an. »Auf der Hinfahrt wollten wir noch was rausfinden, jetzt sind wir plötzlich auf der Flucht.«

»Du hast recht«, sagt Kolja. »Ich fühl mich auch von Goedel gejagt.«

Und dann dämmern wir bis Mannheim nervös vor uns hin, gehen unseren gestressten Fantasien nach und schaffen es gerade noch rechtzeitig über den Bahnsteig in den ICE nach Stuttgart.

Der Chef holt uns ab und löchert uns mit Fragen. Die Jungs berichten und lassen französische Brocken fallen.

»Und du, Tilly?«

Nichts.

Paolo, ätzend: »Ihr fliegen Sprachen zu.«

Und Kolja, sehr überflüssig: »Tilly ist eifersüchtig. Wir müssen immer um sie rumtanzen und dabei den Kerlen ausweichen, die sie vergeblich umschwirren wie Motten das Licht.«

Ich sag nichts.

Der Chef und Pädagoge fragt neugierig: »Wie sollten denn Jungs sein, dass du dich für sie interessierst?«

»Warm.«

»Ich meine, was sollen sie tun?«

»Atmen«, sag ich und kuck zum Fenster raus.

»Und abgesehen davon, dass sie am Leben sein sollten?«, fragt der Chef weiter.

»Das reicht«, sag ich. Hab genug vom lästigen Thema. Paolo kuckt mich wieder komisch an. Wahrscheinlich denkt er an Sandra und Julie Thompson. »Jungs sind nicht mein Problem«, sage ich abschließend und frag den Chef: »Wie war’s bei dir?«

Er wollte Uschi beim Renovieren helfen.

»Brigitte und ich haben uns getrennt.«

Uschi heißt also Brigitte. Ende der Fernbeziehung, die Dritte. Oh nein! Jetzt kocht und backt er wieder gegen seine Rastlosigkeit an und hämmert unablässig auf dem endlos ausbaufähigen Bauernhof herum.

»Das tut mir leid«, sag ich. »Wann denn?«

»Heute.«

Wir sind schuld. Also versuchen wir, den Chef mit unsrer Rückrufaktion zu versöhnen und bereiten ihm friedliche Tage, ohne Konsum illegaler Drogen und ohne Gemotze über seinen Musikgeschmack. Endlos hört er »Candle in the Wind« von Elton John. Da benötigt man starke Nerven oder einen Eimer.

Ich fühle mich besonders schuldig und wische bei ihm durch. Es müffelt, der Chef braucht frischen Wind.

»Wo willst du mit den Gladiolen hin?«

»Die sind vertrocknet. Ich tu sie weg«, sag ich.

»Die brauchen bloß frisches Wasser.«

Genau, vom Blumenwasser ist mir was auf den Turnschuh geschwappt. Das stinkt so derbe, die kann ich wegschmeißen. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Uschi-Gebinde. »Chef, die sind so furztrocken, dass ein Geistesfunken sie entzündet und Haus und Hof dem Feuer preisgibt. Ich trau mich nicht mehr zu denken.«

»Tilly, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du maßlos übertreibst?«

»Noch nie. Du bist der Erste, der das behauptet«, sag ich.

In dem Moment trifft mich ein Geistesblitz.

»Wir müssen ihn hochgehen lassen«, sag ich später zu den Jungs. »Goedel muss verschwinden.«

»Keine Frage«, sagt Paolo. »Da sind wir uns einig.«

Von unserem konspirativen Treffpunkt unter der Buche blicken wir über das weite, grüne, satte Abendland. Ein friedliches Bild, wäre mein Gemüt auf Frieden gepolt. So fühle ich mich wie von fleischfressenden Pflanzen umgeben. Unheimlich, drohend wirkt der nahe Laubwald.

»Und wie?«, fragt Kolja.

»Julies Leiche muss gefunden werden, ohne dass einer von uns damit in Zusammenhang gebracht werden kann.« Es wird still unterm Baum. »Wir müssen irgendeinem Blogger aus irgendeinem Spreewaldforum, den wir nicht kennen und der uns nicht kennt, die Information zuspielen, wo Julies Leiche versteckt ist. Sie muss gefunden werden, und die Polizei muss es erfahren. Dann geht’s Goedel endlich an den Kragen.«