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Korrekturen

»Wenn wir die Realschulprüfung machen, kennen wir uns genau ein Jahr«, sagt Paolo.

»Nie im Leben bau ich mitten in einer giftigen Weltallsuppe ’n Rieseniglu«, fällt mir dazu wieder ein.

»So was merkst du dir, aber über den Schulstoff legt sich der Schleier des Vergessens.« Paolo spielt auf den Umstand an, den ich eben beklagt habe.

Wir lernen im Hochsicherheitsgarten. Der Rest der Welt ist im Sommerloch verschwunden. Ferienzeit, Zeit der Stille. Zig Einladungen hat Kolja ausgeschlagen. Er hatte die Möglichkeit, im In- und Ausland, auf Bergen oder am Strand, wahlweise mit Mia, Lena, Anna, Lisa, Laura, Sarah, Hanna oder den Schlossgrazien Franziska, Helena und Luise auf einem Handtuch zu liegen. Paolos Optionen interessieren mich nicht, seitdem ich weiß, dass ich ihn liebe. Ich bilde mir ein, dass ich alle Zeit der Welt habe. Außerdem ist er hier neben mir. Zwischen uns stapeln sich Lernmaterialien. Mein Steiß tut weh vom Rumsitzen.

AUA!

»Als Dr. Motta mit Kiffern rumgezogen ist und ich als Gegenentwurf vom Ende unserer Betreuung gefaselt hab, war meine Vision nicht, dass wir Doktorarbeiten fälschen wie unsere dummen Politiker«, motze ich.

»Du bist bloß zu faul, dir Bio reinzuziehen«, sagt Kolja.

Stimmt, aber das bringt mich auf eine Idee. »Hast du die Nummer von Frau Huber?«

»Die ist in den Ferien. Wieso?«

»Ich mach die praktische Prüfung in Sport«, kommt mir genüsslich über die Lippen.

Kolja, perplex: »Geht das denn?«

»Laut Prüfungsordnung, ja. Und für Sport muss ich nichts tun.« Grins. »Wann holen wir uns die Prüfungsunterlagen?«

»Zehn Tage vorm Prüfungstermin sind sie im Schulamt.« Kolja hat recherchiert.

»Und wieso machen wir bis dahin keine Pause? Alle machen Ferien, ich will das auch!«

»Dir fehlen deine Panikattacken, Tilly, und mir auch. Ohne deine Adrenalinschübe bist du unerträglich hibbelig.«

Paolo hat recht. Ich hab noch gar nicht realisiert, dass sie weg sind. Innerlich juble ich: Paolo passt auf mich auf! Er achtet auf mich! Ich leg mich ins Gras und sage: »Mit eurer Hilfe ist das Chaos in meinem Leben übersichtlicher geworden. Und seit ein paar Tagen ist es richtig schön und friedlich auf der Welt.«

»Saft wäre mir lieber als leere Worte.« Kolja hält die leere Flasche hoch. »Nimm Ritalin oder trink mehr, Tilly, dann kannst auch du dich besser konzentrieren.«

»Ich bin es euch schuldig, dass auch euer Dasein aufgeräumter wird.« Ich lass mich nicht beirren.

»Mir wäre was zu Trinken auch lieber«, sagt il Chefe Paolo.

»Ich meine, nach den gelungenen Einbrüchen könnten wir die Methode auch auf unser Datenleben und auf unser Aktendasein anwenden. Wir ziehen eine kilometerlange Aktenblätterspur hinter uns her. Nicht gerade eine Zierde unsrer Lebensläufe, sondern Scheiße am Schuh. Habt ihr den Aktenberg aufm Schreibtisch von Kommissar Preuß in Frankfurt noch vor Augen? Den sollten wir ausdünnen, löschen, verschwinden lassen. Im Sinne von angewandtem Datenschutz aktenunkundig werden.«

Die beiden starren mich an.

Kolja, baff: »Und du sagst, du willst Ferien machen?«

Paolo: »Was soll das, Obergestörte?«

Ich doziere: »Stigmatisierung. Mein neues Fremdwort Stigma bedeutet Wundmal. Als vorbestrafte Heimkinder werden wir einer sozialen Randgruppe zugeordnet …«

»Schon verstanden«, sagt Kolja. »Bin dafür.«

»Ich bin für die Logistik zuständig«, schränkt Paolo ein.

Kolja: »Ich manage den Zugang und Tilly steuert den nötigen Wahnsinn bei.«

»Wobei denn, wenn ich fragen darf?«, fragt der Chef.

Herzinfarkt! Unerträglich, diese Anschleicherei! Wir haben ihn nicht kommen hören.

»Von Würzburg nach Ulm kann man dreihundert Kilometer auf dem Jakobsweg wandern. Wir wollen nicht die ganze Strecke machen, aber ein Stück. Was meinst du?« Paolo sieht den Chef erwartungsvoll an.

Kolja greift nach der Saftflasche und haut ab. In mir steigt Hysterie auf und ich ringe mit aller Macht um Fassung.

»Pater Johannes Kloop sagt, der Weg durchs Taubertal sei sehr spirituell«, fährt Paolo fort.

Unglaublich! Wahrscheinlich hat er den Pater tatsächlich irgendwann mal so etwas äußern hören.

Der Chef fixiert mich. »Was sagst du dazu?«

»Bin absolut für Bewegung nach der endlosen Sitzerei und dem Büffeln, aber ich will nicht von spirituellen Wanderern angelabert werden. Ich bin gegen den … Jakobsweg.«

»Die Strecke ist organisiert. Es gibt billige Wanderheime. Ihr könnt mich jederzeit erreichen und es ist in der Nähe. Alles spricht dafür.«

Kolja hat nasse Haare, als er wiederkommt. Er muss sich kaltes Wasser über den Kopf gegossen haben, aber seine Augen funkeln immer noch irre. Ich kuck schnell weg.

»Wenn du nicht angesprochen werden willst, Tilly, spricht dich auch niemand an«, sagt der Chef. Wieder einmal ist er von Dr. Mottas Kunstgriff umgedreht worden und merkt es nicht einmal. »Hilft mir einer, die Einkäufe reinzutragen?«

Paolo opfert sich und ich mach Kolja mit der aktuellen Entwicklung vertraut.

»Der Jakobsweg, abgefahren!« Er kriegt sich nicht mehr ein. »Nachspionieren kann uns der Chef da nicht. Das hat der Mafioso sauber hingekriegt.«

Weil alles so ruhig und friedlich ist, will ich einen Tag vor unserem »Daten-Pilgerweg« auf meiner Standardstrecke laufen. Unter der Buche mache ich Dehnübungen und linse dabei übers Land. Nicht paranoid, ich kontrolliere ganz entspannt mein Umfeld, wie jeder vernünftige Mensch das tut. Dann federe ich über den Waldboden Richtung Graufels, tanze mit Bäumen, tauche unter tief hängenden Ästen weg und lasse mich von Blättern streicheln. Wald ist wunderbar. Dörfer mag ich nicht. Sie strahlen Wahnsinn aus. Unheil kriecht durch die leeren Straßen. Die Geschäfte wirken, als wären ihre Eigentümer gerade eben geflüchtet oder verdampft. Die abmontierten Ladenschriften – Metzgerei, Bäckerei Kranz, Edeka – sind auf den staubigen Hauswänden noch lesbar, aber alles ist zu, verrammelt, wie ausgestorben.

Der Wald wird lichter. Gleich komme ich am östlichen Rand von Epflingen vorbei, auch so ein trostloses Kaff. Um den alten, totenstillen Dorfkern herum zieht sich ein Kranz von Einfamilienhäusern jüngeren Datums. Alle haben ein Trockenblumenherz an der Tür hängen, drei blaue Glaskugeln auf Stöcken im Vorgarten stecken und hinter der Garage ein riesiges, angerostetes Trampolin stehen. Was soll das? Ich muss Maria fragen, wieso das so ist. Jetzt ist es Zeit, umzukehren. In den Straßen, egal ob in Lauterstetten, Graufels oder Epflingen, verhallen meine Schritte ungehört. High Noon, Westernstimmung. Im Geist hör ich es ballern, Pferdehufe. In Wirklichkeit bewegt sich nicht mal ein Vorhang.

Diesmal ist alles anders. Vor der ehemaligen Raiffeisenbank stehen zwei Autos mit laufendem Motor. Daneben drei Typen, die wissen, wie man einschüchternd auf einem Bürgersteig herumsteht. Sie traben los, als sie mich sehen. Aus dem vorderen Wagen steigt einer aus, dreht sich zu mir um und starrt mich an.

Das ist er.

Zwei von den Typen kommen mir entgegen. Nicht gelaufen, sondern gerannt!

Meine Schritte trudeln aus und etwas in mir setzt komplett aus. Denken funktioniert nicht mehr, dafür spring ich aus dem Stand über den grünen Lattenzaun neben mir. Ich rase am Haus vorbei, durch den Garten in den Nachbargarten, vorbei am Trampolin und hinter dem Nachbarhaus weiter durch den Gemüsegarten. Ich setze über die Buchsbaumhecke. Nur ein Gelände mit Neubau trennt mich vom Maisfeld.

Zack, mit einem Sprung bin ich drin und sehe nur noch grün. Ich muss bergab laufen, dann komme ich zum Wald. Mein Herz, mein Atem und die Maisblätter machen einen Höllenlärm. Wie verrückt flitze ich die schmalen Reihen zwischen den Pflanzen entlang. Dann ist das Feld zu Ende und ich sehe nicht den ersehnten Wald, sondern das Feld mit der halb fertigmontierten Solaranlage. Geduckt laufe ich zwischen der dritten und vierten Reihe weiter bergab Richtung Wald. Ich muss da vorne über den Forstweg, dann kann ich in der Tannenschonung verschwinden. Sie ist zum Greifen nah, aber etwas reißt mich zurück, verdreht mir den Arm und zieht mir die Füße weg. Ich falle vornüber auf den Weg und kriege Staub in die Nase. Eine Schuhsohle im Nacken hindert mich, den Kopf zu drehen, und einen panischen Moment lang denke ich, ich ersticke.

»Bleib liegen oder ich jag dir ’ne Kugel in den Schädel«, keucht einer von oben auf mich herunter.

Er ist allein, denke ich, und er bringt mich nicht um, sonst hätte er’s getan. Ich hör Autos näher kommen und weiß: Das ist Goedel. Gleich ist er da. Der wartet nur auf Goedel!

»Ich rühr mich nicht!«, sag ich, aber er kann mich nicht verstehen, weil ich Dreck zwischen den Zähnen habe. Doch der Druck im Genick lässt nach, und ich ziehe sofort den Kopf zur Seite, dreh mich in einer Bewegung auf den Rücken und trete mit aller Kraft nach oben. Ich erwische ihn zwischen den Beinen, trete noch einmal zu, komm auf die Füße und stolpere in die Tannenschonung.

»Bleib stehen!«, schreit einer aus dem Auto hinter mir her.

Ich laufe, so schnell ich kann, in den Wald hinein und brülle: »Goedel, du feige Sau! Komm her und schlag mich tot, wenn du kannst!« Die Arme vor dem Gesicht gekreuzt, stürme ich, ohne Rücksicht auf die peitschenden Äste, vorwärts. Meine Fußspitzen berühren den Boden kaum. Ich springe, falle und stürze bergab und brülle, so laut ich kann: »Erst der Schmerz, dann das Geschenk! Erst der Schlag, dann ein Keks! Zuerst kaputt machen und dann blabla! Du warst schon ein Arsch, Goedel, da war ich noch gar nicht geboren! Niemals akzeptiere ich dich als Vater!« Ich spucke das Blatt aus, das mir in den Mund gefetzt ist, und schreie: »SADIST!«

Nicht Richtung Lauterstetten, sondern talwärts taumle ich. Am Waldrand im Forsthaus Graufels wohnt Koljas Freundin Julia. Inständig hoffe ich, dass sie und ihre Familie nicht im Urlaub sind, und bin mehr als froh, dass ihr Vater da und von wortkarger Art ist. Auf meine Sturzgeschichte hin wirft er mir einen Blick zu, murmelt »Glück gehabt« und fährt mich heim.

»Bist du sicher, dass es Goedel war?«, fragt Kolja.

»So sicher, wie man ohne Ausweiskontrolle sein kann, war das Goedel. Die Typen haben kein GDS-Logo auf dem schwarzen T-Shirt gehabt, aber sie haben meilenweit nach Wachmannschaft geschrien.«

»Morgen hauen wir ab, und niemand außer uns weiß, wo wir sind«, sagt Paolo zu meinem Bericht.

Er bleibt die Nacht über bei mir und streichelt mich, bis ich null Komma null Körperspannung mehr habe.

»Kannst du jetzt schlafen?«, flüstert er.

Es kitzelt an meinem Ohr, und ich nicke.

»Kannst du noch sprechen?«

Ich schüttle den Kopf.

Ab Stuttgart Hbf 08:51, an Halle-Neustadt 14:40.

Ab Halle-Neustadt 15:25, an Bitterfeld 16:22.

Kein Déjà-vu, es ist eine Wiederholung. Wir fahren Zug, die Jungs hören Musik und mampfen mir gegenüber. Ich rutsche rum, such Platz für meine Beine und spüre den Druck von Paolos Schenkel an meinem.

STROMSCHLAG! HERZSTILLSTAND!

Mein Schenkel brennt, er steht in Flammen! Er sieht mich an. Tiefer Fall in seine Augen. Er saugt mich fest, ich reiß mich los und bin weg.

BRRRRRRRRRRRRRRR.

Dreihundertdreiunddreißig Herzschläge pro Sekunde. Erst sehr viel später traue ich mich wieder aus dem Bordbistro. Die beiden pennen und auf meinem Platz liegt eine Plastikkarte. Ein Schülerausweis vom Internat Schloss Weihenstein mit meinem Bild über dem Namen Helena von Runstein. Mit einem offenen Auge sieht mich Paolo an und hält mir seinen Ausweis hin. Wir gehen ins gleiche Internat. Er heißt Markus Mann und ist volljährig.

SCHUFT!

»Wie heißt du?«, frag ich Kolja nach einer Weile.

Er fummelt seine Plastikkarte aus der Gesäßtasche. »Hugo von Moorbeck, sehr altes Geschlecht.« Er grinst.

Altes Geschlecht, ich fass es nicht. »Wozu die Rückkehr zum Feudalismus?«

»Paolo behauptet«, sagt Kolja, »in der Ex-DDR wird man öfter nach Identitätspapieren gefragt als im Westen.«

Ossi-Wessi-Quatsch in Verbindung mit Blaublütigen! Schlimmer kann’s nicht kommen. »Und dann zeigen wir unsre Adelswappen her, und die Bullen sind beeindruckt, denkt sich der schlaue Spaghettifresser.«

Paolo grinst.

Ich sag: »Itaker.«

Paolo grinst noch breiter.

Das zuständige Jugend- und Sozialamt für Eichwitz hat dienstags von 09:00–12:00 und 13:00–18:00 geöffnet.

»Und wenn jemand kommt?«, wispere ich.

»Kolja schließt den Putzraum auf. Geputzt wird morgens von sechs bis acht. Ist alles recherchiert.« Grade noch rechtzeitig haben wir es vom Bahnhof hierher geschafft und warten darauf, dass wir eingeschlossen werden.

»Was meinst du, wo meine Akten sind?«, frage ich leise.

»Im Archiv. Das befindet sich auch im UG«, flüstert Paolo.

»Woher willst du das wissen?«

»Für meine Diplomarbeit zum Thema Archiv- und Datenschutz auf Kreis- und Verwaltungsebene hab ich eine telefonische Erhebung durchgeführt.«

Ich: »Du bist der geborene Betrüger.«

Er: »Ja. Und treu bis in den Tod. Deshalb muss ich auch weg von meiner Familie.«

Ich sag gar nichts mehr, bis Kolja mir einen Schubs gibt.

»Mach dich unsichtbar und kuck nach, ob alle weg sind.«

Ich ziehe meine Schuhe aus und nehme die Hintertreppe. An den Ecken zu den Fluren lausche ich, bis ich neben dem Rauschen der Technik mein eigenes Blut rauschen höre. Keine Macht der Welt kriegt mich dazu, von Bürotür zu Bürotür zu schleichen. Ich hab Schiss, auch wenn es totenstill ist. Vielleicht gerade deshalb. Als ich wieder im Untergeschoss ankomme, macht Kolja sich schon an der Stahltür am Ende des Flurs zu schaffen.

Kein Zweifel, wir betreten das Archiv: lange Reihen, schmale Zwischenräume, ohne Ende Hängeregistraturen. Wir suchen nach K wie Krah. Mein archiviertes Desaster fällt Kolja in die Hände und wir entfernen sauber alle Spuren von Tilly Krah aus der Familienakte und versenken meine prall gefüllte Akte im Rucksack.

»Okay, raus hier.« Kolja schließt hinter uns ab.

Wir folgen im Eilschritt dem Flucht-Männchen auf grünem Grund und stoßen auf eine weitere Stahltür.

»Die Tür muss auf der Rückseite vom Amt sein, daran grenzt die Sportanlage an«, sagt Paolo.

»Ich will das auch lernen«, bettle ich, als Kolja die Tür auf- und hinter uns zumacht, als wäre er im Besitz des Universalschlüssels zu allen Schlössern der Welt.

»Pst.« Er schleicht die äußere Kellertreppe hoch.

Ich klettere als Erste über den Metallzaun und verzieh mich neben der Aschenbahn ins Gebüsch.

An der Hauptstraße reißt Paolo den Arm hoch und stoppt ein Taxi. »Zum Bahnhof Bitterfeld, bitte.«

»Habt ihr Geld?«

»Zeig dem Mann die Reisekasse, Markus«, sagt Hugo von Moorbeck, der neben mich auf die Rückbank rutscht.

»Geld ja, Zeit nicht.« Paolo klappt sein Portemonnaie auf.

Mithilfe der Plastikkarte und zwei Hunderteuroscheinen sind die Bedenken des Fahrers beseitigt.

Ab Bitterfeld 19:55, an Naumburg (Saale) Hbf 20:51.

Ab Naumburg (Saale) Hbf 20:57, an Jena Paradies 21:22.

Der erfolgreiche Sprint durch den Bahnhof und Sprung in den Zug haben mich euphorisiert. Die Kerle keuchen noch, als wir dem Schaffner unsre Tickets hinhalten.

»Lass mal deine Akte sehen«, sagt Kolja.

»Bist du wahnsinnig? Was, wenn einer im Vorbeigehen sieht, um was es sich handelt?«, zische ich. Ich stehe auf und bugsiere den Rucksack nach oben in die Ablage.

Paolos Handy fiept. »Der Chef.« Er zieht mein T-Shirt über sein Handy und reibt auf dem Mikro rum. »Chef? Chef?« Er brüllt: »Schlechter Empfang, Chef« und drückt ihn weg.

Ich bin bauchfrei. Kolja grinst meinen Nabel an. Den Gang rauf und runter erntet Paolos Aktion Blicke, die alle schlussendlich an meinem Bauch kleben bleiben. Ich fetze Paolo mein T-Shirt aus der Hand und setze mich.

Wo in der Ferne der Acker zu Ende ist, versinkt die Sonne.

BLUBB.

Alles wiederholt sich, denke ich. Über und unter den Wolken geht die Sonne unter. Beim Flug wie im Zug.

Beim Chef melden wir uns erst in Jena Paradies. Er klingt zufrieden, weil er denkt, dass wir uns auf dem Jakobsweg abschinden. Doch wir brechen in die Stadtverwaltung ein. Die Böden sind feucht. Alles ist dunkel. Vom Putzpersonal droht keine Gefahr. Im Fachdienst Soziales lassen wir die Akte von Kolja Jäger aus Galeben verschwinden.

»Das ist nicht alles«, sagt Kolja.

Wir suchen weiter und finden beim Fachdienst Jugendhilfe eine fette Akte. Wir torkeln vor Müdigkeit. Es ist drei Uhr nachts.

»Wir pennen im Putzraum und morgen früh gehen wir normal raus«, schlägt Paolo vor.

Gute Idee, wo sollen wir denn sonst hin?

Ich schrecke aus dem Schlaf. Jemand rüttelt an der Tür.

PANIK!!!

Paolos Hand steckt in meiner Hose zwischen meinen Schenkeln. Koljas Kopf liegt direkt neben mir. Ich halte ihm den Mund zu. Zwei Sekunden, dann lese ich in seinen Augen, dass er weiß, wo wir sind. Paolo zieht seine Hand raus und rappelt sich auf. Vor der Tür entfernen sich Schritte nach links, Richtung Aufzug. Kolja hatte das Schloss blockiert. Jetzt schließt er es schnell auf.

Paolo und ich laufen nach rechts, wieder dem Fluchtweg nach. Kolja schließt ab und folgt uns. Im Treppenhaus setzen wir unsre Rucksäcke auf. Paolo fährt mir durch die Haare und zieht meine Jacke glatt.

»Wie spät?«, frag ich ihn.

»Zehn vor neun. Wir haben total verpennt.«

Eine Frau kommt auf uns zu und kuckt uns fragend an.

»Ich mach mein Praktikum bei der Parkverwaltung«, sag ich laut zu den Jungs, ohne sie anzusehen.

Kolja zieht mich vorwärts. »Beeil dich, wir sind spät dran.«

Wir biegen um die Ecke und kommen ins Foyer. Es ist menschenleer, der Empfang nicht besetzt.

»Die haben heute zu«, sagt Paolo leise und sehr nervös.

»Raus kommt man immer«, entgegnet Kolja und folgt dem Hinweis Ausgang. Er drückt gegen die Tür.

UFF.

Frischluft. Wortlos gehen wir die Ernst-Haeckel-Straße runter und rennen los, als wir die Bäckerei entdecken. Heißhunger beschreibt mein Bedürfnis nach Futter nicht ansatzweise. Eine halbe Stunde intensives Frühstücken, dann sind wir bereit, nach Duisburg weiterzureisen.

Paolo schreibt an den Chef: Zweites Frühstück, lassen es langsam angehen. Gruß, deine angeschlagenen Pilger.

Ab Jena Paradies 10:59, an Nürnberg Hbf 13:24.

Ab Nürnberg Hbf 14:00, an Duisburg Hbf 17:50.

Die Akten und alles Überflüssige aus unseren Rucksäcken schließen wir im Schließfach ein. Dann latschen wir hinter Paolo her, bis er auf einen hässlichen, sechsstöckigen Kasten zeigt.

»Das Archiv ist hier im ersten Untergeschoss.«

»Wie gehen wir vor?«, frag ich.

»Das Amt ist seit vier zu«, sagt Kolja. »Wir können einfach dreist probieren, ob wir reinkommen.«

»Guter Plan.« Ich will so schnell wie möglich wieder weg.

»Ich check mal. Ihr wartet hier«, sagt er.

Nudeln, Cocktails, Salate, uppen, Frühstück, Pizza steht in weißen Klebebuchstaben auf den Scheiben eines Cafés. Das S von uppen liegt zusammengekringelt auf dem Boden. Ein paar wenige Gäste sitzen zwischen Palmen in Kübeln an Tischen.

»Ich will mit.«

»Nein.« Kolja geht einfach.

Paolo hält meinen Arm fest. »Ich spendier dir ’ne Uppe.«

Zwei Stunden später ist es dunkel. Paolo ruft Kolja an und wird weggedrückt. 21:00. Er versucht es wieder. Koljas Handy ist abgestellt. Paolo sieht mich an. Angst hat er wie ich. 21:09. Das Café macht zu, aber wir können nirgendwo anders hin. Also drücken wir uns draußen rum. Die Leute kucken schon komisch. 21:21. Ich kenne sämtliche Auslagen am Platz, auch die des Tierfutterladens. Schwierig, eine ansprechende Deko für so was zu finden. Ich bin hundemüde, gestresst, und plötzlich reißt es mir den Kopf herum. Ein Martinshorn gellt. Im Laufschritt kommt ein Wachmann aus dem Foyer den Polizisten entgegen und schließt die Eingangstür für sie auf. Hektisch sehe ich mich nach Paolo um. Wir sind in entgegengesetzte Richtungen gelaufen.

»Hast du Kolja gesehen?« Er kommt mir entgegengerannt.

»Nur einen Wachmann. Zwei Bullen sind reingegangen.«

Das Blaulicht taucht die Gegend in pulsierendes Blau. 21:36. Ich halte das nicht aus. Paolo zerfleischt sich mit Selbstvorwürfen. »Ich Vollidiot. Ich hätte ihn nicht anrufen dürfen!« 21:44. Unveränderte Situation. Wir müssen abhauen, ich ernte ständig neugierige Blicke. Mit steifen Beinen gehen wir Richtung Bahnhof. Kuhstraße. Kuhtor. Stecken auf einer Bank die Köpfe über Paolos Handy zusammen. Das machen alle so, das fällt nicht auf. 22:21.

Es läutet. »Kolja! Ja … ja … ja …« Paolo zerquetscht meine Hand. »Wir treffen uns am Schließfach.«

DANKE!

Ich sehe einer auffliegenden Taube nach. Paolo zieht mich hoch, allein schaff ich’s nicht mehr. »Ich trag Koljas Rucksack auf dem Martinsweg.«

Paolo lächelt. »Jakobsweg.« Sein schönes Lächeln erlischt viel zu schnell. »Ich muss den Chef anrufen.« Wir eilen dem Bahnhof entgegen, während Paolo lügt, Kolja würde schlafen, Wandern sei gut, würde aber wahnsinnig müde machen. Er gibt das Telefon an mich.

Ich sag: »Gute Nacht, Chef.«

Hör ihn laut lachen und fragen: »Ist das alles?«

»Fühl mal, was für eine saugute Matratze du hast, bevor du schläfst.« Ende des Gelabers. Ich leg auf. »Ich hab nicht gelogen.«

Paolo lächelt. »Du lügst nicht gern?«

Nee. »Du?«

»Nicht grundsätzlich, nicht ohne Grund und dich nicht.«

»Was, mich nicht?«

»Dich lüg ich nicht an.« Er nimmt meine Hand und lässt mich nicht los, bis wir den Klinker-Klotz-Bahnhof betreten.

»Kolja!« Er lehnt an den Schließfächern, kalkweiß im Gesicht, ohne Jacke, nur im T-Shirt.

»Was ist passiert?« Ich will ihn umarmen.

»Stopp!« Er reißt die Hand hoch. »Nicht anfassen.«

Sein Bein ist seltsam angewinkelt. Paolo dreht auf dem Absatz um und holt einen Gepäckwagen.

»Hast du den Schlüssel?«, fragt er mich.

Ja, in der Hosentasche. Ich kriege ihn kaum ins Schloss.

»Wir haben Tickets für den Nachtzug und müssen zum Gleis 12.« Kolja lässt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Gepäckwagen nieder. »Sofort.«

Paolo legt ihm seine Jacke um. »Auf geht’s, und lacht mal! Nicht nach rechts kucken. Der Bahnhofsbulle kuckt rüber.«

Paolo schiebt los. Kolja lacht. Es klingt falsch.

Ich stolpere hinterher und lese die Ticket-Info:

Ab Duisburg Hbf 22:52, an Dortmund Hbf 23:28.

Ab Dortmund Hbf 23:56, an Flensburg 05:53.

Mit Tempo schieben wir am Bahnhofspolizisten vorbei. Gleis  12, 22:50. Kein Zug auf den Schienen. Wir sind schneller als die Eisenbahn. Voraussichtliche Ankunft 23:00, steht auf der Anzeigetafel.

»Gebt mir die Tickets und Schülerausweise. Schnell, der Bulle kommt, nicht nach links kucken.«

Wir ziehen unsre Ausweise aus den Gesäßtaschen und packen sie auf die Tickets. Paolo bündelt das Ganze, schiebt es in seine vordere Rucksacktasche und fragt: »Wo fahren wir überhaupt hin?«

»Nach Flensburg und dann nach Kiel«, flüstere ich schnell.

Im Kieler Archiv der EPM-Geschäftsstelle sind drei Akten zu viel. Das bedarf unsrer letzten Korrektur.

»So spät unterwegs? Darf ich mal die Ausweise sehen?«

Paolo zieht sie mitsamt den Tickets aus der Tasche und fragt: »Wie voraussichtlich ist es, dass der Zug um 23 Uhr kommt?«

Sehr. Ich sehe ihn schon einfahren.

»Wichtige Reise?«, fragt der Beamte zurück.

»Wir haben morgen eine Segelregatta. Unsre Schule gegen das Goethe-Gymnasium Flensburg«, sagt Paolo.

»Mit kaputtem Fuß?«

»Bin von der Bühne geflogen.« Kolja grinst. »Mein Vater hat vorne einen Vortrag gehalten. Ich hab hinten den Abflug gemacht.«

»So, einer derer von Moorbeck«, meint der Polizist unbeeindruckt. »Wo hat der Herr Vater vorgetragen?«

»An der Uni über Ethik.« Paolo streckt die eine Hand nach den Papieren aus, mit der andren kramt er im Rucksack, ohne den Polizisten anzusehen.

Der Zug bremst. Die Tür geht auf.

ZISCH.

Druck entweicht. Bei mir auch. Ich gähne vor Stress, halte mir die Hand vor und murmle gut erzogen wie ein Schlossmädchen: »Pardon.«

Wir lassen den Mann stehen und steigen in den Zug ein.

LACH! Im Osten wird häufiger kontrolliert als im Westen.

Sizilianisches Vorurteil. Kein Kommentar meinerseits.

Dafür redet Kolja. In der halben Stunde bis Dortmund erfahren wir: Alles lief super. Kolja hat sich durch das UG gefummelt, bis er auf das Archiv gestoßen ist. Er hat auch problemlos die dicken Ordner der Mottas gefunden. »In der Mitte bei M wie Macker, mittlere Katastrophe, Mist, Motta, Muschi.« Er hat Paolos Akte in den Rucksack gesteckt. Dann hatte er die geniale Idee, die Hängeordner einem neuen, noch nie dagewesenen Alphabet zuzuordnen. Bis zum: Brr, brrr, brrrr. Handyalarm. »Alter, was hast du dir dabei bloß gedacht?«

»Deine Weiber rufen doch dauernd an, wieso hast du’s nicht abgestellt?«

»Alter, meine Mädchen vibrieren stumm! Du löst Alarm aus. Das weißt du.« Kolja tritt mit seinem gesunden Fuß zu. Paolo sitzt ihm gegenüber und wehrt sich nicht.

Kurz und gut, eine Sekunde nach dem Handyalarm hat sich ein Schlüssel im Schloss gedreht. Koljas Schuhe waren im Rucksack. Der Rucksack stand bei M auf dem Boden. Totale Slapsticknummer. Der Wachmann so rum, Kolja andersherum. Er hat es MIT RUCKSACK lautlos auf Socken aus der Tür geschafft, während der Wachmann mit seinen Schuhen, klack, klack, klack, immer noch die Reihen abgesucht hat. »Danke, Tilly, für den Sockentipp.«

»Gern geschehen.«

Kolja ist ins Erdgeschoss geflitzt und hat sich im Fotokopierraum eingeschlossen, der blöderweise kein Fenster hat. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis der Wachmann und die Bullen an der Tür vorbeigestiefelt und mit dem Aufzug nach oben entschwunden sind. Kolja ist ins nächste Büro eingebrochen, Flurseite links, nach hinten zum Parkplatz. Er hat das Fenster aufgekriegt und ist gesprungen. Unglücklicherweise auf die Kellertreppe. Auf Socken und mit verknackstem Knöchel hat Kolja die Orientierung verloren und sich ein Taxi genommen. Er hat uns beim Schließfach erwartet. »Wo denn sonst?« Dann hat er Paolo angerufen und die Tickets gekauft.

»Die Reisekasse hab ich doch«, sagt Paolo.

»Ich hab die Lottokasse aus dem Büro mitgehen lassen«, sagt Kolja. »Zweihundertneunzig und ein paar Zerquetschte.«

»Wieso denn das?«, frag ich.

»Als Ablenkungsmanöver. Die Blechkiste stand da rum.«

»Du hast was gut bei mir«, sagt Paolo.

»Trag mich. Und besorg mir Eis für meinen Knöchel.«

»Und wenn er gebrochen ist?«, frag ich ihn.

»Ist er nicht. Bin beim Knochenbrecher höchstpersönlich in die Lehre gegangen.«

Im Night Liner packen wir Eis auf Koljas Elefantenfuß, wickeln ein Handtuch drumrum und stecken alles in eine Plastiktüte. Dann übermannt uns der Schlaf.

Morgens in Flensburg versuchen wir, uns mit Brötchen wiederzubeleben. Halb wach und halb in Trance fahren wir kurz vor sieben weiter. Kiel ist das Ziel. Bei der Ankunft macht es für uns keinen Unterschied mehr, ob wir nun durch Kiel oder Tokio wanken. Donnerstag? Zeit und Raum sind aus den Fugen geraten. Unfassbar! Wir sind erst zwei Tage unterwegs! Zwei Tage, in denen niemand ahnt, wo wir sind und was wir tun. Selten hab ich mich sicherer gefühlt als in den Zügen oder in den Besenkammern der Ämter. Jetzt ist mir schwindelig, und ich warte in der Morgensonne, während Kolja und Paolo Salbe und eine elastische Stützsocke holen. Die gibt uns insgesamt einen besseren Halt und unser Bezug zu Realität festigt sich.

Paolo telefoniert: »Rissmann, Klempner, Moin … Ham Sie Akten im Keller? … Ja, ein Wasserproblemchen. Ist das Büro besetzt, falls wir abstellen? … Gut. Tschüs.«

»Will ’ne Pause! Lass uns ans Meer gehen!«, mault Kolja.

»In der EPM-Geschäftsstelle ist kein Schwein und kommt heute auch keins mehr. Die Akten sind im Büro.«

Wir klingeln bei den Anwälten im 1. Stock. »Post.«

SUMM. Tür auf. Mit dem Aufzug in den 3. Stock.

E P M

ERLEBNISPÄDAGOGISCHE MASSNAHMEN

GESCHÄFTSSTELLE

steht an der Tür, an der sich Kolja zu schaffen macht. Er deutet eine Verbeugung an und lässt uns den Vortritt. Wir marschieren rein. Manchmal ist das Leben genial einfach.

Wir finden alles und dreimal so viel: vollständige Akten der Jugendämter, Heimberichte, Polizeiakten, Gutachten der jugendpsychiatrischen Abteilungen. Da Beck offiziell die Vormundschaft hat, sind es Originale. Becks Berichte aus dem Camp sind auch dabei.

Noch zieht mein Rucksack mich nicht zu Boden, aber er ist jetzt deutlich schwerer. »Was jetzt?«, frage ich.

»Ab ins liebliche und spirituelle Taubertal«, schlägt unser Reiseleiter, Dr. Motta, vor.

»Zuerst bringen wir die Ablage durcheinander«, sagt Kolja. »Wenn jemand nach unsren Akten sucht, soll er den Eindruck gewinnen, sie könnten bei dem Chaos überall sein. Dann können wir von mir aus lospilgern und büßen.«

Bis Würzburg nehmen wir den Zug, bis Rothenburg ob der Tauber die Bummelbahn. Da versorgen wir uns mit den nötigsten Sachen. Dann trampen wir nach Oberspeltach, unserem dritten Tages-Etappenziel.

»Chef, ich brauch ’ne orthopädische Gehhilfe. … Nein, ich übertreib nicht. …« Kolja und der Chef plaudern über die Beschwerlichkeiten des Pilgerlebens.

Ich: »Hi, Chef? Wie sieht der Garten aus? Ich hoffe, du lässt nichts vergammeln.« Er klingt konsterniert und redet sich raus. »Wandern macht naturverbunden, kannst du morgen mal gießen?« Ich halte Paolo das Handy hin. »Er will nicht mehr mit mir sprechen.«

Paolo: »Wir sind auf dem Weg zum Waldgrillplatz.  … Ja, Feuerchen machen. … Ich weiß nicht, ob Pilgern eine lebenslange Passion von mir werden wird. Die Füße tun weh, aber der Kopf wird schön leer. …«

Die Grillstelle liegt am Waldrand. Das Abendlicht taucht den Platz in eine seltsame Stimmung. Ohne Feuer lodert der rostige Rauchabzug im Licht. Wie eine Milchhaut überzieht Nebel die Wiese. Würde mich nicht wundern, wenn ein weißer Hirsch aus dem Wald herausgetreten käme. Ich lasse meine Akten aus dem Rucksack in die ummauerte Feuerstelle mit Rost rutschen, lockere das Ganze etwas auf und fackle die Seiten am Rand ab.

Das Feuer frisst sich vor und leckt und schleckt an den übereinandergerutschten Seiten. Feuer verzehrt, da ist was dran. Mein Feuer ist magisch, es verzehrt den Dreck und das Gift, das andere über mein Leben ausgeschüttet haben. Ich werde leicht und laufe einmal um die Wiese. »Juhu!« Zwei Sprünge, ein Überschlag. Ich lass mich ins kühle Gras fallen.

»Komm her, Obergestörte!«

Kolja liest aus Becks Finnland-Bericht vor. Mein gutes Gefühl platzt wie eine Seifenblase. Ich bin unangenehm berührt, als würde ich mit einem Verräter, IM Chef, unter einem Dach leben. Den Jungs geht es nicht anders.

»Übel, er schreibt, wie er unser Vertrauen gewonnen hat, grad so, als hätte er uns und nicht wir ihn ausgesucht.« Kolja schüttelt sich. »Eitler Sack, der Chef.«

Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich starre in die Aktenglut. Noch immer sind Stempel und Worte auf den glimmenden schwarzen Papierresten zu erkennen. Nur umgekehrt, helles Grau, fast weiß, auf Asche. Ich lese GUTACH GLUT ASCH. Achte gut, Glut! Gut achtgeben, Asche.

Paolo weckt das fast erloschene Feuer mit seinen Papieren auf. Schön und leuchtend sieht er aus im Feuerschein.

Eine Träne, rot glänzend, läuft Kolja über das Gesicht. Er hält einen aufgeschlagenen Ordner in der Hand.

»Lies nicht«, bitte ich ihn. »Alles Lügen, lass sie brennen.«

»Lass ihn lesen, wenn er will!«, fährt Paolo dazwischen. »Es kann nicht jeder den Kopf so perfekt in den Sand stecken wie du.«

»Was mach ich?« Unter ›Kopf in den Sand stecken‹ stelle ich mir was komplett anderes vor. »Für mich ist das ein Neuanfang! Ich sag nicht, dass es das ganze Elend nicht gegeben hat, aber ich werde es nicht länger mit mir herumschleppen oder anderen zur Lektüre überlassen!«

»Stört den Abendfrieden nicht.« Kolja zieht die Nase hoch und wirft das Aktenpaket ins Feuer. Es erstickt beinah. Mit einem Ast stochert er in der Glut, bis ein Funken- und Ascheregen auf uns niedergeht.

Ein Löchlein frisst sich in Paolos Windbreaker von Titus.

»Ich stopf’s«, biete ich als Abendfriedensbeitrag an.

»Kriegst ’ne neue.« Kolja weiß, wie gern Paolo shoppen geht.

Unser Mann aus Sizilien versprüht noch eine Weile sein südländisches Temperament. »Vaffanculo …«

Wir lassen ihn toben und sammeln Holz.

»Habt ihr an Würstchen gedacht?«, fragt Paolo, als die Aktenverbrennung in ein richtiges Lagerfeuer übergeht.

Kolja zieht drei Eier aus seinem Rucksack. »Ich dachte, ich pack mir ’n Ei drauf.«

Er wirft mir eins zu. »Wie soll das gehen?«

»So«, Kolja feuert sein Ei auf den Rost.

ZISCH. SPRITZ.

»Eisprung, yeah!« Auch mein Ei zerplatzt.

»Hier, meins kannst du auch haben«, sagt Paolo.

»Schmeiß es selber hin. Das tut gut.«

Auch bei ihm wirkt es. Und natürlich hat er an Würstchen und an Senf gedacht.

»Super! Klasse! Vielen Dank!« Kolja und ich übertreiben ein bisschen, damit Paolo sich nicht zu breit in seinem Überlegenheitsgefühl einrichtet. Dann braten wir Würstchen und stochern in der Glut, bis der letzte Aktendeckel zu unidentifizierbarem Staub zerfallen ist.

»Kuck weg.« Paolo und Kolja pissen darauf. Es zischt.

Kein Grund, Penisneid zu entwickeln, aber ungerecht finde ich es schon.

Es wird kühl und Wind kommt auf.

»Was machen wir, wenn’s morgen regnet?«, fragt Kolja. »Mit meinem kranken Fuß pilgere ich nicht bei Regen.«

»Dann wallfahren wir eben mit dem Bus oder mit dem Taxi.«

Nichts dergleichen. Am vierten Pilgertag brechen wir ab. Der Chef holt uns von Bad Stockbach ab. Als er Koljas Knöchel sieht, attestiert er uns sogar Realitätssinn. Und unsere Ringe unter den Augen entlocken ihm ein Lächeln. Wir sind außerstande, ihm einen zusammenhängenden Pilgerbericht zu geben, und fallen stattdessen auf den Liegen im Hochsicherheitsgarten in einen komatösen Schlaf. Er schiebt es auf die körperliche Anstrengung, die hinter uns liegt.

Ich wache schweißgebadet aus einem Albtraum auf.