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Prüfung II

»In all den Jahren habe ich alles in meiner Macht Stehende getan, um die Vermissten, vor allem meine Tochter Alma Goedel, zu finden.«

Paolo zitiert Victor Georg Goedel, der im Gesellschaftsteil des Nordkuriers eine Doppelseite für die Rehabilitation seines angekratzten Ansehens zur Verfügung gestellt bekommen hat. Goedels Recherchen sind dokumentiert, Ausgaben aufgelistet und die Anstrengungen dargestellt, den Verkauf des Herrenhauses rückgängig zu machen. Er hat es auf Alma Goedel rückübertragen lassen.

»Der hat nicht nur Anwälte, sondern auch ein PR-Büro beauftragt«, sagt Kolja. »Der geht nicht in den Knast.«

»Das ist doch alles nicht neu«, sag ich. »Er muss trotzdem weg!«

Liegt es an unseren nervenzerfetzenden und kriminellen Aktivitäten oder an Lauterstetten, dass meine Unruhe wieder in Panik umkippt? Ich spüre deutlich eine bösartige Gegenwart, ein unsichtbares Beobachtetwerden, merke mir wieder Automarken und Gesichter, lerne seit Tagen extrem verbissen. Hab Schiss vor meinem Schatten und knalle mehrmals irgendwo gegen, weil ich nach hinten kucke. Frau Huber wird sich dafür einsetzen, dass ich die praktische Prüfung in Sport machen kann, und ich traue mich nicht mehr zu laufen.

In neun Tagen ist die Realschulprüfung, und wir haben noch keinen Plan, wie wir uns dieses Mal die Aufgaben vorab beschaffen. Wie kommen wir rein und raus? Fassadenkletterei ist mit Koljas kaputtem Knöchel ausgeschlossen. Deshalb will er sich einschließen lassen, das Ding im Alleingang durchziehen. Paolo ist strikt dagegen, doch er kann weder Schlösser knacken noch an Fassaden hochklettern.

Da Maria nicht am Fenster sitzt, laufe ich gleich ums Haus herum in den Garten. Sie hockt an ihrem Gartentisch und schnippelt Bohnen.

»Da kommt meine Tilly. Grüß Gott.«

»Grüß Gott, Maria. Wie geht’s dir?«

»Gut geht’s mir.« Sie gießt mir ein Glas Wasser ein.

Ich trinke, während Maria erzählt: »Da hot oiner die ganze Oberstraße runter fotografiert. Bei euch zuerscht. Den hab ich gefragt, warum er des macht. Er sei an Immobilien interessiert, hat der gsagt. Aber da sei nix zu verkaufen, sag i zu ihm. Da sagt er, woher i des denn wissen will?« Sie ist fassungslos.

»Hatte er einen Dialekt oder hat er hochdeutsch gesprochen? Und hast du sein Autokennzeichen gesehen?«

Maria nickt. »Gegen drei isch ein schwarzes Auto mit dem Kennzeichen F die Schulstraß runter Richtung Rastkirch. Des isch ungewöhnlich.«

»Danke, Maria.«

»So was willsch du doch wissen?«

»Ja, genau so was.«

»Aber du willsch mir nicht erzählen, warum des für dich wichtig isch?«

»Doch, aber jetzt noch nicht.«

Maria lächelt fein. Und ich lächle zurück.

»I bin so neugierig«, sagt sie.

»Ich auch«, sag ich. Goedel auch, denke ich. Erst der Zeitungsartikel, der ihn entlastet, dann die Immobilienrecherche. Beides kommt mir wie eine Warnung an mich vor. Er wird keine Ruhe geben, bis er mich vernichtet hat.

Auf dem Heimweg versuche ich, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Als ich schon Koljas Stimme im Garten höre, hält neben mir ein Lieferwagen.

»Wo finde ich den Stehmer-Hof?«, ruft mir einer durchs offene Beifahrerfenster zu.

»Es gibt zwei Stehmer-Höfe«, sag ich und geh ans Fenster. »Der erste ist gleich da unten links …«

EIN SCHWARZES LOCH.

Ich liege auf einem feuchten Lappen und bin blind. Ich blinzle. Eine Augenbinde verhindert, dass ich was sehen kann. Mein T-Shirt ist nach oben gerutscht, und der Lappen an meinem nackten Rücken stellt sich als meine eingeschlafene Hand heraus. Fremd und kalt, als würde sie nicht zu mir gehören. Welche ist es? Ich liege auf den Händen. Sie sind zusammengebunden. Ich reibe sie aneinander, bis das Leben mit heftigen Stichen zurückkommt. Mit meinen Füßen stoße ich gegen Blech, als ich mich aufrichten will. Ich liege im Lieferwagen.

Und ich bin nicht allein. Meine Lage kommt mir unheimlich vertraut vor.

»Ist Blindekuh immer noch dein Lieblingsspiel?« Meine Stimme hört sich fremd an. Ich weiß, dass er da ist.

»Du erinnerst dich daran?«, sagt er nach einer Pause.

Seine Stimme klingt zu kontrolliert. Er hat nicht damit gerechnet, dass ich ihn direkt anspreche.

»Wie könnte ich das vergessen?«

Es ist still. Ich atme nicht und versuche herauszuhören, ob er allein mit mir ist.

»Du bist hier, weil ich Bedingungen habe«, sagt er.

»Wenn du mich umbringst, verlierst du alles«, sag ich. »Das ist ganz einfach. Wenn man in meiner Lage ist, muss man auf Nummer sicher gehen. Man macht sein Testament und stellt sicher, dass es Leute gibt, die alles wissen.«

Ich warte darauf, dass er mir wehtut, und halte den Atem an.

Aber er tut es nicht.

Er lacht. »Jeder in deiner Lage würde das sagen.« Dann klingt seine Stimme wieder unverändert kalt und ruhig. »Viele Leben hängen eng mit deinem Leben zusammen. Jede Menge Krahs, unter anderem. Vor allem aber auch deine neuen Mitbewohner. Du bist für viele Menschenleben verantwortlich. Wenn du nicht mitspielst, könnte es dir oder ihnen so gehen wie deiner Freundin.«

Er will mich fertigmachen, mich aus der Reserve locken, will, dass ich an Sandra denke. Ich schweige.

Er sagt: »Ich will keine Einmischung von deiner Seite.«

Ich sag nichts. Ich bin nicht in der Position, was zu sagen. Und ich werde seinen Namen nicht aussprechen, solang er meinen nicht sagt.

»Ich will nicht, dass du irres Zeug kreischst, wenn du durch den Wald rennst.«

Er hat mich gehört! Ich spüre eine zaghafte Überlegenheit. Ein fernes Triumphgefühl.

»Ein falsches Wort zu den falschen Leuten und deine Freunde sterben.« Seine Stimme ist leise. »Alle deine Freunde werden sterben.«

Dann Stille. Bleierne Stille. Die Stille der Steine.

»Hast du verstanden oder soll ich deutlicher werden?«

»Ich hab verstanden und will jetzt gehen.«

Es geht schnell. Ich kriege einen Schlag auf den Kopf, einen Tritt in die Seite. Ich rolle auf den Bauch. Die Schiebetür kracht auf. Ich werde an den Händen hochgezerrt, bis die Gelenke knacken und ich auf steinigen Boden pralle. Gras im Gesicht. Die Seitentür knallt zu.

Das Auto entfernt sich. Ich warte, halte mich an meinen Schmerzen fest und bewege mich nicht. Fieberhaft denke ich: Ich hatte nie eine Chance. Immer, wenn ich gedacht habe, es ist vorbei, hatte er noch einen Nachschlag auf Lager. Er ist immer noch da und kuckt zu! Das Spiel war immer erst zu Ende, wenn er genug hatte, und diesen Teil mochte er am allerliebsten: Ich, hilflos, denke, hoffe, bete, dass es vorbei ist. Und er kann mich spüren und wissen lassen, dass ausschließlich er bestimmt, wie lange und wie sehr ich leide. Nur er allein.

Diesmal beende ich das Spiel. Endgültig. »Bedingungen kann man nur stellen, wenn man sich an Bedingungen halten kann. Und das hast du noch nie gekonnt, du kranke Sau.«

EIN SCHWARZES LOCH.

Über mir ragt der Graufelsen auf. Ich starre in die Wolken. Zwei Vögel kreisen über mir. Ich schreie. Mein Schrei, der Klagelaut aus meiner Kehle, klingt unmenschlich, doch die Vögel kreisen unbeirrt. Es sind keine Geier und ich schrei weiter, bis meine Stimme wieder nach mir klingt. Dann gebe ich mir einen Ruck und teste meine Körperfunktionen, denn ich fühle mich auf schmerzhafte Art und Weise unversehrt. Ich kann sehen, Finger und Fußzehen bewegen, trotz übler Schmerzen im Ellbogen und in der Schulter ist es mir möglich, die Hände anzuheben. Sie sind weiß, mit Kletterkreide eingerieben. Alles klar, Goedel, du kranker Psychopath, wer mich findet, soll wohl denken, ich sei beim Klettern abgestürzt. Ich drehe mich vorsichtig zur Seite. Ein paar Meter weiter rauscht der Talbach. Der war, als ich aus dem Lieferwagen geworfen wurde, noch nicht da. Es dauert, aber ich schaffe es, auf die wackeligen Beine zu kommen, und zieh die Hose runter: kein Blut in meiner Unterhose. Ich taste, fühle. Er hat mich nicht verletzt. Ich wanke direkt in den Bach und leg mich rein, den Kopf unter Wasser. Eiskalt. Der Atem stockt, ich schnapp nach Luft und wate zurück.

Kein Selbstmitleid! Selbstmitleid ist verboten. Selbstmitleid kostet Kraft, und die brauch ich jetzt, sag ich mir und eiere los. Am Talbrunnen steht: Kein Trinkwasser. Egal.

Nach einer Stunde trocknen meine Kleider endlich.

»Wo kommst du her?«, fragt der Chef verärgert. »Erst verschwindest du und dann Kolja. Und niemand hält es für nötig, mir Bescheid zu sagen!«

Ich will nicht, dass er mich sieht, und geh die Treppen einfach weiter hoch. »Ich hab bei Maria den Hühnerstall ausgemistet. Muss duschen. Wo ist Paolo?«

»Hinten, im Garten.«

Es verunsichert mich total, wenn der Chef so launisch ist. Als ich die Turnschuhe in den Schrank stelle, fällt mir das leicht gekippte Brett auf dem Alma-Marter-Material auf. Eine Ecke der blauen Mappe lugt heraus, weil das unbelastete Brett nicht richtig aufliegt. Das kann nicht so bleiben. Außerdem hab ich nicht abgeschlossen. War jemand in meinem Zimmer? Ich überprüfe, ob alles noch so ist, wie ich es zurückgelassen habe. Ist es nicht!

Mein Rucksack ist weg!

Ich reiß das Fenster auf. »Paolo!«

Er sitzt am Gartentisch und lernt.

»Wo ist mein Rucksack?« Mein Herz hämmert wie wild.

»Der steht hier!«

Heißes Wasser prasselt auf meinen steinharten Nacken. Nachlässigkeit kann ich mir nicht leisten. Der Boden unter mir ist brüchig, das darf ich nicht vergessen. Habe ich etwas übersehen, als ich den Rucksack ausgeräumt habe, Tickets oder andere verräterische Zeichen unsrer Reise? Hat der Chef was gefunden, was ihn uns gegenüber hat misstrauisch werden lassen? Wenn er uns auf die Spur kommt, ist das für uns alle lebensgefährlich!

»Wie kommt mein Rucksack hierher?«, frag ich Paolo.

»Ich hab ihn mitgenommen.« Er sieht nicht mal zu mir hoch.

Ich, scharf: »Was?«

Jetzt sieht er mich an, schweigend und abwartend.

»Ich will nicht, dass du in mein Zimmer gehst und Sachen rausholst, wenn ich nicht da bin.« Wasser tropft aus meinen Haaren.

»Du willst also, dass ich in dein Zimmer gehe, wenn du da bist?« Pause. »Du hast ihn in der Küche liegen lassen, Obergestörte. Komm mal runter.« Er mustert mich.

Mein Abstieg beginnt sofort. »Seit wann sitzt du hier?«

»Erst dreht Kolja durch, dann du«, stöhnt Paolo. »Unser Schlossknacker kennt normalerweise keine Nervosität, es sei denn, seine weiblichen Fans zeigen nicht die gewünschte Anhänglichkeit. Und die sind in der Tat sauer, weil wir dauernd zusammenglucken. Du bist zu Maria, und ich bin zehn Minuten später in den Garten, weil Kolja eine Turteloffensive am Handy gestartet hat, um seinen Taubenschlag wieder vollzukriegen. Sonst noch was?«

»Hast du mitgekriegt, dass einer von der Straße aus das Haus fotografiert hat?«

Paolo wird ernst, schüttelt den Kopf.

»Maria hat ihn gesehen. Schwarzes Auto, Frankfurter Kennzeichen.«

»Wahnsinn, ich fass es nicht. Es geht wieder von vorne los«, sagt er leise und nimmt meine Hand.

Nein, nichts geht von vorne los. Ich bin nicht mehr allein. Der Unterschied ist so riesig, dass für mich alles völlig anders ist als jemals zuvor. »Alles ist anders geworden durch dich und Kolja und mit dir und Kolja«, sag ich leise. Nichts werde ich tun, was ihnen gefährlich werden könnte, und ich werde Paolo nichts von Goedel sagen. Ich werde auf ihn aufpassen. Ich werde ihn und Kolja nicht aus den Augen lassen. Goedels Tage sind gezählt, wenn er auch nur versucht, ihnen ein Haar zu krümmen.

In dieser Nacht kommt Kolja nicht zurück.

Der Chef rastet aus. »Sein Handy ist abgestellt. Also frage ich euch, wo ist er?«

Ich sterbe vor Angst um Kolja und kämpfe mit den Tränen. »Wenn du dich so aufregst, mach ich mir auch Sorgen.«

»Das ist doch Quatsch! Kolja ist über sechzehn, was soll sein? Der ist bei ’ner Freundin oder macht Party.« Paolo versteht überhaupt nicht, wieso ich mich so aufrege.

Wütend holt sich der Chef ein Glas aus der Vitrine und entkorkt die Schnapsflasche.

Ich renne nach oben, schließ mich ein und zieh mein Bett vors Fenster. Zu viel Gewalt und Hass für einen Tag.

Stunden später wache ich davon auf, dass jemand ständig den Türgriff auf- und abbewegt. Ein blässlicher Lichtstreifen trennt in der Ferne den Himmel von den Feldern. 05:17.

»Kolja pennt im alten Festsaal und wartet, dass ihm der Bürgermeister von Bad Stockbach die Tür aufschließt«, flüstert Paolo.

Ich kapier gar nichts. Er kriecht zu mir ins Bett und nimmt mich in den Arm. »Kolja hat unsre Prüfungsaufgaben geholt. Es geht ihm gut. Er hat ’ne SMS geschickt.«

»Danke«, flüstere ich. »Danke.«

Die Kirchenglocken läuten. Schlag zehn knattert Kolja mit der Vespa in den Hof und läuft dem Chef voll ins Messer. Paolo poltert die Treppe runter. Ich hinterher.

»Wo warst du?«, fragt der Chef gefährlich leise.

»Wir haben gefeiert und in der Kegelhöhle übernachtet. Ich wollte dich anrufen, aber mein Handy war platt.«

»Gib her!« Der Chef streckt seine Hand nach Koljas Rucksack aus.

Kolja wirft mir einen flackernden Blick zu, während der Chef bereits einen Satz Fotokopien aus der Tasche zieht.

»Du blöder Arsch, wir haben uns Sorgen gemacht. Und du haust über Nacht mit meinen Übungsblättern ab!«, schluchze ich und habe ECHTE Tränen in den Augen.

Ich nehme dem Chef die Blätter aus der Hand und sehe bei meinem dramatischen Abgang aus den Augenwinkeln, wie Kolja seine Hosentaschen nach außen stülpt und in der Unschuldsgeste verharrt, weil der Chef in seiner Tasche nichts Verdächtiges finden wird, außer ein paar Kondomen, Zahnputztabletten, Deo, Kamm, paar Euro, Schlüssel, Stifte, Schreibblock und Taschenmesser.

Sein Spezialwerkzeug zum Türenöffnen ist nie im Rucksack. Das hab ich mehrmals überprüft, weil ich damit üben wollte. Zur Strafe muss Kolja für eine Woche die Vespa-Schlüssel abgeben. Der Arme.

»Ich bin sehr enttäuscht von dir«, sagt der Chef.

»Ich liebe dich, Dicker«, sagt Paolo, als wir weit genug weg sind.

»Ich auch«, sage ich.

Soll sich angesprochen fühlen, wer will. Es ist wahr.

In der folgenden Woche denkt keiner von uns an einen Ausflug mit der Vespa. Wie die Blöden lernen wir Fragen und Antworten der Prüfung auswendig. Wir essen im Stehen. Der Küchentisch ist komplett mit Büchern und Papieren bedeckt. Zum Glück straft uns der Chef mit Schweigen und kommt nicht zu uns herauf. Ich verlasse nur noch zum Laufen das Haus, was für mich jetzt offiziell zu den Prüfungsvorbereitungen gehört.

»Tilly!«

»Muss mich umziehen, Chef.«

»Was ist los mit euch?«

»Was ist los mit dir?«

»Ich kriege euch nicht mehr zu Gesicht.«

»Ich hab mir mein Leben auch nicht so lernintensiv vorgestellt. Ist es aber, wenn wir die Prüfung schaffen wollen. Dein Punkt A  – vom untersten Sozialhilfesatz leben  – ist nicht das, wovon wir träumen. Und dann strafst du uns auch noch ab. Das kapier ich nicht.«

»Und wovon träumst du?«

»Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit für alle, Liebe und Glück.« Glaub nicht, dass ich was vergessen habe.

»Tilly, du bist unrealistisch.«

»Das muss ich von dir haben.«

Ich sitze auf meiner Fensterbank und sehe hinaus. Seit Minuten fliegt das Laub konstant von unten nach oben. Von wegen Schwerkraft! Ich kichere leise. Das Laub fliegt vom Boden hoch, tanzt durch die Luft, macht einen eleganten Schlenker um die Dachrinne herum und fliegt über das Haus auf und davon. Nicht ein einziges Blatt fällt zu Boden, seit Minuten nicht. Wunderbar, die Welt ist auf den Kopf gestellt. Ich, Tilly Krah, habe die Mittlere Reife!

Unsere Zeugnisse sind bombastisch ausgefallen. Der Schnitt liegt zwischen 1,2 und 1,4. Der Chef dreht durch vor Stolz. Bratendüfte ziehen durchs Haus. Er kocht ein Festmahl für uns. Er und die Jungs trinken Bier.

»Ihr seid großartig. Ich bin sehr stolz auf euch. Prost!«

Mein Tässchen selbst gezogener Zitronenmelissentee dampft. »Prost.«

»Ich würde euch gerne eine Freude machen. Habt ihr einen Wunsch?«

Ich will weg, aber das trau ich mich in der Stimmung nicht rauszuhauen. »Eine Reise?«, formuliere ich vorsichtig.

»Ich will lieber, dass wir für das Abi in zwei Jahren büffeln.«

»Spinnst du jetzt total!« Nur die Spätzle in meinem Mund verhindern, dass ich so laut bin, wie ich will. Was das Schulische anbelangt, hat Paolo einen unmenschlichen Zug drauf. Ohne mich.

Vom Chef kriegt er natürlich die volle Unterstützung. »Mit dem Zeugnis könnte ich euch auf dem Gymnasium anmelden.«

»Nein danke«, protestiere ich.

»Das hier hat so gut geklappt, weil wir selbstbestimmt lernen. Schule ist echt nichts für mich«, sagt Kolja. Zum Glück.

»Aber vielleicht könntet ihr unter Anleitung zielgerichteter lernen«, überlegt der Chef.

Noch zielgerichteter als wir lernen, geht nicht.

Paolo lenkt ab. »Ich wünsche mir einen gemeinsamen Theaterbesuch. Der ›Faust‹ wird dermaßen gut besprochen und ich war noch nie im Theater.«

»Faust! Was soll denn der Scheiß? Ich komm von der Straße und nicht aus Oxford!« Paolo macht mich fertig.

»In zwei Jahren kommen meine Brüder vielleicht aus dem Knast und an meinem achtzehnten Geburtstag läuft die Zeit beim Chef ab. Da will ich das Abi in der Tasche haben und an der Uni eingeschrieben sein. Weit weg vom Zugriff meiner Brüder. Klar?«

Der Chef verschluckt sich vor Begeisterung. »Paolo …« Hust, hust. »Ich halte das für eine ausgesprochen kluge Haltung. Auf jeden Fall werde ich dich unterstützen.«

»Deswegen müssen wir doch nicht zur Belohnung für unser Superzeugnis im Theater vergammeln. Faust!«

»Der Pakt mit dem Teufel. Müsste doch interessant für dich sein?«, sagt Paolo.

Er spricht von ihm, Goedel. Mir vergeht der Appetit. Es kommt mir auf einmal vor, als säße er mit uns am Tisch und würde mich ansehen. Ich bin das Gespenst seiner Schuld und geistere durch seine Ängste, weil er mich noch nicht beseitigt hat. Ich hab viel zu verlieren, mein Leben, meine Freunde, und ich hab eine Rechnung offen.

Zwei Rechnungen.

»Lassen wir das Thema ruhen. Prost, Tilly, auf dich.«

Ich heb meine Teetasse.

»Was soll ich denn mit der Anfrage von der Deutschen Schulsportstiftung machen?«

»Wegschmeißen.«

»Jugend trainiert für Olympia. Deine Ergebnisse waren sensationell …«

»Ich trainier mit Riski. Ich will ihn besuchen.« Kein Bock auf Druck und Gelaber. Ich will hoch, meine Ruhe haben, was lesen.

»Wenn es Schnee hat? Über Weihnachten vielleicht?«

»Von mir aus«, sage ich.

Zum Glück reitet der Chef nicht länger auf der Sportstipendiumsache herum. Er sollte sich eine neue Freundin suchen. Uns ist nicht entgangen, dass unser Lerneifer auf ihn übergegangen ist. Er tippt neuerdings. Viel, laut und demonstrativ.

»Was schreibst du?«, fragt Kolja.

»Freut mich, dass du fragst.« Der Chef lächelt zufrieden und verkündigt: »Ich schreibe ein Buch.«

»Über was?« Paolo tut sich zum dritten Mal auf.

»Pädagogik.«

»Mir wird schlecht.« Ich leite schon mal meinen Abgang ein.

»Weil ich über Pädagogik schreibe?«, fragt der Chef.

Oje, jetzt bezieht er schon alles auf sich! »Nein, ich habe meine Regel.«

Draußen ist es kalt. Es regnet seit Tagen. Ich werde häuslich, und deshalb kriege ich das Telefonat vom Chef mit Stefan Tonberg mit.

»Wann ist die Geschäftsstelle besetzt?« Der Chef ist in der Bibliothek, die Tür ist angelehnt. Seine Stimme klingt ungeduldig und von seinen Worten verstehe ich Akten, Chaos, Praktikant, Recherche, peinlich. »Das darf nicht wahr sein!« Letzteres gebrüllt.

Ich stehe flach an der Wand vor der angelehnten Tür. Der Chef telefoniert mit Jugendämtern, die ihm nicht helfen können bei seinem Wunsch nach Material über uns. »Ja, ich weiß, dass die Akten September letzten Jahres an die EPM-Geschäftsstelle weitergeleitet worden sind, aber Sie müssen doch im Archiv …« Pause. Der Chef, laut, zu sich: »Idioten! Das gibt’s doch nicht!« Ein lauter Schlag, hört sich an wie eine Faust auf dem Tisch, dann Schritte.

Ich bin weg. Meine Zimmertür kriege ich hinter mir so schnell nicht zu. Ich stelle mich einfach vor den Schuhschrank. Als er in mein Zimmer platzt und wir uns gegenüberstehen – unerwartet, unangeklopft – ist er so baff wie ich.

»Was soll man bei dem Scheißwetter bloß anziehen?«, frag ich ratlos.

»Willst du raus?«, fragt er blöd.

»Ja, zu Maria.«

»Wo ist Paolo?«

»Will sich ein Buch besorgen, der Streber.«

»Na dann, bis später.« Er verzieht sich.

Der Chef ist zum Schnüffeln gekommen. Und er will sein Pädagogikbuch über UNS schreiben!

Meinen glühenden Wunsch nach Anonymität kann ich an den Nagel hängen. Alles, wofür ich geackert habe, war sinnlos, für die Katz. Ich kann hier nicht bleiben. Und das Alma-Marter-Material und die Panikbücher müssen auch sofort raus hier und in Sicherheit gebracht werden. Ich packe alles in den Rucksack, ziehe wasserdichte Stiefel an und eine Jacke über und stolpere die Oberstraße runter zu Maria.

»Wenn du was verstecken müsstest, was kein Mensch finden darf, wo würdest du das hintun?«

Maria überlegt. »Gib’s mir.«

»Du bist neugierig.«

»Geh in’n Keller runter. Such dir einen Platz und versteck’s. Da isch’s vor mir und vor allen anderen auch sicher.«

Ich suche, bis ich eine Stelle finde, wo auch ich mir sicher bin. Als ich wieder raufkomme, hat sie einen Kakao gemacht.

»Ich bin also die Hüterin deines großen Geheimnisses«, sagt sie und lächelt.

»Ja, Maria«, sage ich ernst.

Sie streichelt mir über den Kopf.

»Isch’s so schlimm?«

Ich weine. Hab keine Kraft mehr.

Ja.