22
Nacht
Am Abend gibt es einen Film. Paolo und ich sitzen nebeneinander. Danach wird es still und ich krieg null mit von dem, was da im Film passiert.
Um elf steigen wir aus dem Fenster. Unsre Dreierbude erweist sich nun doch als Vorteil, und ich bin bereit, den Stress meiner einsamen Abende zu vergessen.
»Soll ich Mountainbikes aus dem Schuppen holen?«, fragt Kolja, für den die Beschaffung kein Problem darstellt.
»Zu Fuß können wir uns besser verstecken«, gibt Paolo zu bedenken.
Es ist lau, trocken, ideal für eine Nachtwanderung.
»Was läuft zwischen dir und Markus?«, fragt Kolja, als wir am Waldrand angelangt sind.
»Was läuft zwischen dir und Franziska, Helena, Luise …?«
»Ich hab zuerst gefragt.«
»Wenn du nicht schneller läufst«, sag ich, »sind wir ewig unterwegs.« Ins Herrenhaus Flusshorst einzubrechen, ist verlockender, als mich von Kolja löchern zu lassen.
»Also, was habt ihr gemacht? Du warst mindestens fünfzehn Minuten mit ihm verschwunden.«
»Französisch geübt«, sag ich.
Paolo schüttelt angewidert den Kopf, Kolja kichert.
Über eine Stunde brauchen wir bis zur Anhöhe, dann liegt das Herrenhaus in der Senke vor uns. Paolo gibt das Fernglas an Kolja weiter.
»Ein zentraler Mittelbau, zwei Flügel zur Hofseite«, murmelt Kolja. »Was unterscheidet das da von einem Schloss?«
»Ist doch schnuppe«, sag ich. »Wir nehmen die Seitentür rechts, zwischen den Büschen.«
»Du bist hundertprozentig sicher, dass nachts keiner drin ist?«, fragt Kolja.
»Wie kann ich das sein?«, frag ich zurück. »Ich war nicht drin und hab gerufen: Ist da jemand?«
»Aber deine Melanie hat gesagt, dass es unbewohnt ist?«
»Und spukt.« Ich hab eiskalte Hände. »Findest du nicht, dass es total verlassen aussieht?«
»Ja, von allen guten Geistern.« Er grinst schief.
»Also los«, sagt Paolo.
Wir schleichen uns im großen Bogen an und nähern uns von hinten dem Holzzaun. Von der Straße aus kann man uns nicht sehen. Wir klettern rüber. Paolo schiebt an der vorderen Ecke Wache, ich an der hinteren, und Kolja knackt die Seitentür zum Herrenhaus. Er ist leise, vorsichtig, verharrt ein paar Sekunden und lauscht. Dann winkt er uns ran. Doch kaum ist Kolja in der dunklen Türöffnung verschwunden, geht die Alarmanlage los. Hektisch schließt er wieder zu und wir hauen Hals über Kopf ab. Ohne es verabredet zu haben, rennen wir den gleichen Weg zurück, obwohl wir dazu die Straße überqueren müssen, was nicht ungefährlich ist. Auf der Anhöhe werfen wir uns ins Gras. Kurze Zeit später rauscht ein Wagen an.
»Zwei Männer mit Hunden.« Paolo hat das Fernglas. »Sie schließen die Eingangstür auf.«
Das kann ich auch erkennen, aber: »Was steht auf dem Auto?«, frage ich ihn. Mein Herz klopft bis zum Hals. Gänsehaut richtet alle Härchen auf meinem Arm auf.
»GDS. Groß und fett. Und drunter steht kleiner Gesamtdeutsche Security.« Paolo gibt das Fernglas an Kolja weiter.
»Irrtum ausgeschlossen«, bestätigt Kolja.
Paolo hält meine Hand. »Du schlotterst.«
Ich flüstere: »Gesamtdeutsche Security. Einer von denen hat die Alte angerufen und sie mit Fragen nach mir gelöchert. Und das kann nur Pseudo-Ingo Feist gewesen sein. Er hat nämlich noch mal angerufen, mit der gleichen Nummer. Das hat mir Daniela erzählt. Er hat sie gefragt, ob sie wüsste, dass ich tot sei.«
»Was?« Paolo lässt das Herrenhaus nicht aus den Augen und flüstert so laut, dass es klingt wie Gebrüll. »Wieso hast du uns das nicht gesagt?«
»Hab ich nicht?«, stottere ich.
»Nein, verdammt! Wir können hier alle bei draufgehen! Wann vertraust du uns endlich?« Er ist völlig außer sich.
»So bin ich zu der Nummer gekommen, von der du rausgefunden hast, dass sie der GDS-Firma gehört.« Ich bin ganz leise. »Du hast nicht gefragt, woher ich sie hab.«
Paolo schüttelt erschüttert den Kopf.
»Aber ich …«, sagt Kolja. »Die Papiere von Ingo Feist sind aus der Staatsanwaltschaft Frankfurt verschwunden. Der Chef erzählt dem Staatsanwalt von dem Anrufer bei deinen Alten. Und kurz darauf werden wir überfallen. Der Typ wollte dich. Nur dich. Uns hat er nur außer Gefecht gesetzt.«
»Du weißt nichts über Goedel. Du hast keine Ahnung, was der für Kontakte hat.« Paolo sieht mich an.
Jetzt sehe ich Schemen hinter der Scheibe im erleuchteten Erdgeschoss.
»Die sichern das Gebäude nicht im Auftrag von Form-Beauty. Das sind Goedels Leute.« Paolo sieht mich an.
Goedel? Mein Vater??? Lässt er mich verfolgen? Will er mich umbringen?
Meine Gedanken geraten völlig durcheinander und ich verstehe Koljas Worte nicht. »Was?«
»Die Alarmanlage. Hast du irgendeine Erinnerung an die Alarmanlage hinter der Seitentür?«, wiederholt er.
Hab ich das? Ich schließe die Augen, spüre Hände unter meiner Achsel und höre eine Stimme: Ein X. Eins, fünf, neun, sieben, fünf, drei. Ganz einfach.
»Ganz einfach, ein X, eins, fünf, neun, sieben, fünf, drei. Aufschließen, Licht an. Der Kasten hängt gleich rechts neben der Seitentür. Das X eintippen, man hat zehn Sekunden Zeit zum Abschalten.« Meine Lippen fühlen sich taub an, meine Stimme ist rau. »So war das damals zumindest.«
Paolos Druck um meine Hand verstärkt sich.
»Die Wachleute kommen raus«, sagt Kolja. »Wenn sie weg sind, gehen wir rein.«
»Aber wieso denn?« Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme kiekst. »Im Haus ist nichts, wie’s mal war. Wozu sollen wir reingehen?«
Kaum sind die Schlusslichter des Wachschutz-Wagens verschwunden, steht Kolja auf.
Ich nicht. Jeder Muskel in mir will in die entgegengesetzte Richtung.
»Ein Versuch, Tilly«, sagt Paolo. »Vielleicht fällt dir ein, was damals passiert ist. Es kann doch nur besser werden.«
Damit ist es entschieden.
Kurz darauf sind wir drin und die Alarmanlage ist deaktiviert. Außer dem Taubheitsgefühl spüre ich nichts, als wir durch die leere Halle gehen. Ich kenne mich aus, kein Zweifel. Aber es ist nicht anders als auf einem Bahnhof, auf dem ich schon mal war. Nur im Flur im zweiten Stock fehlt ein schmaler Streifen Tapete. Das löst Unbehagen bei mir aus, mehr nicht, kein großes Ding.
»Und?«, will Paolo wissen.
»Hier ist nichts und war nichts. Ich kenn mich aus, mehr nicht. Wir sollten abhauen.«
Zu spät. Wir hätten daran denken sollen, dass der abgestellte Alarm bemerkt werden würde. Plötzlich geht überall Licht an, Hundekrallen kratzen auf Parkett, laute Stimmen unten aus der Halle.
»Kommt«, ich flitze nach hinten, in ein geräumiges Zimmer mit gestreiften Stofftapeten, und drücke gegen die Wand. Eine Tür tut sich auf. Dahinter ist eine gewundene, enge Treppe, die direkt in die Waschküche führt. Ich verriegle die Tapetentür und wir stürmen hinunter. Ich stemme ein Klappfenster auf. Wir durchqueren den Garten. Es fühlt sich an, als wäre ich erst gestern hier entlanggerannt. Ein Déjà-vu. Meine Füße finden allein den Weg zwischen Hecken und Waldsaum. Ich jage im Zickzack durch die Wildnis. Ein zugewachsener Pfad führt zur Jagdhütte. Ich springe über die Steinmauer und die Schienen der stillgelegten Spreewaldbahn.
Als wir den Forstweg erreichen, keucht Kolja: »Wir haben sie abgehängt!«
»Wir müssen zurück«, sag ich.
»Bist du wahnsinnig?« Kolja wird laut.
Ich flüstere: »Ich muss zurück! Da war was. Ich weiß es.«
»Was?«, fragt Paolo.
Ich schüttle den Kopf. »Die Hütte. Da ist was! Ich muss noch mal hin.«
»Das ist zu gefährlich, wir haben die Typen nervös gemacht. Wir kommen morgen wieder«, sagt Paolo, und Kolja unterstützt ihn. Also machen wir uns auf den Rückweg.
Meine Erinnerungen überschlagen sich, beängstigende Bilder und Schreie, die Bäume zerschneiden könnten. Dazu kommt der Modergeruch. Im nächtlichen Wald werden die Bilder schärfer, als ich es aushalten kann. Sie kommen direkt aus dem Auge meines inneren Panik-Orkans. Ich kriege kaum Luft.
»Ich muss dir was sagen«, setzt Paolo an.
Instinktiv krall ich mich an Koljas Arm fest.
»Du musst dich zusammenreißen. Okay?«
Mach ich, mach ich! Mach ich dauernd!
»Am Verzeichnis der Leichenfunde hängt ein Anhang. Hast du den gelesen?«
Ich schüttle den Kopf.
»Der alte Beck hat nicht alle Leichenfunde auf seinem Tisch gehabt. Der von dem Mädchen«, Paolo stockt, »von Tilly Krah, ist im September 2009 in Leipzig untersucht worden. Goedel hat mit dem Institut für Rechtsmedizin Kontakt aufgenommen. Im Anhang ist eine Kopie des Antwortschreibens vom 2. Oktober 2009 an ihn, dass es sich bei dem unbekannten Mädchen nicht um seine Tochter Alma Goedel handelt.«
Er verstummt und Kolja fährt fort:
»Ist doch klar. Er sucht dich. Sie finden ein totes Mädchen, du bist es nicht. Ihr Tod, das Alter und dein Verschwinden stimmen in etwa überein, aber ein anderes Mädchen wird nicht vermisst. Wenn er nicht blöd ist, kommt er auf die Idee, dass es ausgetauscht worden ist. Er, oder wer immer für ihn sucht, stößt in der Nähe der Fundstelle auf die Assifamilie Krah. Es ist also höchstwahrscheinlich so, dass Goedel seit Oktober 2009 weiß, wer Tilly Krah in Wirklichkeit ist.«
»Du hast bis Oktober 2009 nur Albträume aufgeschrieben. Und ab Oktober hast du über deine Panikattacken und über deine Angst vor Verfolgern geschrieben«, sagt Paolo sanft.
Ich will, dass er aufhört, was er tut.
Aber Kolja ist noch nicht fertig: »Goedel hat dich beobachten lassen. Immer, wenn du in den Panikbüchern über deinen Verfolgungswahn geschrieben hast, ist auch etwas passiert.«
Genau! Und jetzt gerade ist er besonders stark!
»Weg hier«, flüstere ich. »Schnell!«
Hinter der Biegung ist die Brücke über den Köhlerfließ. Wir drücken uns durch die Tannenschonung und können den GDS-Wagen im Mondlicht auf der Brücke lauern sehen. Fast wären wir ihnen in die Arme gelaufen.
Warten oder schwimmen? Beides ist zu gefährlich. Ich führe sie zurück zum Damm der alten Spreewaldbahn. »Da entlang gibt’s noch ’ne Brücke, wo die mit dem Auto nicht hinkommen.«