26
Das Alma-Marter-Material

wächst und füllt einen großen, blauen Ordner. Paolo schiebt ihn mir über den Küchentisch zu. »Lies.«

»Nein. Nein. Nein. Mir reicht es, dass ihr es wisst.«

»Goedel ist dein Vater …«, hebt Kolja an.

Kolja und Paolo wechseln sich dabei ab, jeden seiner Schritte im Auge zu behalten.

»Und? Ich will nichts über ihn wissen. Ich will, dass er verschwindet.«

»Aber die Sendung siehst du dir mit uns an?«

»Ja.« Aber nur, weil die Moderatorin gesagt hat, dass Victor Georg Goedel sich nicht zu einem Interview bereit erklärt habe. In einer Sondersendung auf SDR werden frühere Kindermädchen von Alma Goedel vorgestellt oder vorgeführt oder interviewt. Keine Ahnung, wen das außer uns interessieren soll. Paolo zeichnet den Bericht auf.

Aus der Sicht der damals sehr jungen und häufig wechselnden englischen Kindermädchen erfahre ich etwas über Victor Georg Goedels Beziehungen zu ihnen, nämlich meistens intime, und über seine Beziehung zu mir, kalt und brutal von seiner Seite aus und sehr angstvoll von meiner.

Amy Borwick, hübsch, jung, sagt: »Er war gut aussehend, charmant und dabei sehr bestimmend …«

Sie ist die Fünfte und weckt wie die anderen zuvor keinen Funken Erinnerung bei mir.

»Ich kotz gleich.« Kolja ist angeekelt. »Victor«, Kolja spricht das V extrem stimmhaft aus und das C wie ck, »hat nichts anbrennen lassen, meine Fresse.«

»Sagt wer?«, frotzelt Paolo.

»Nimm das ja zurück«, fordert Kolja. »Der Mann ist so ein brutales Arschloch, da gibt’s keinen Vergleich mit mir!«

Ich sage nichts. Mir ist übel. Ich habe Herzrasen. Meine Augen brennen. Das folgende Interview einer fülligen Vierzigjährigen löst in mir eine Erinnerung aus.

»Die arme Kleine hat mir so leidgetan«, sagt die Frau. Im Hintergrund ist Flusshorst eingeblendet. »Nur, wenn Herr Goedel in Frankfurt war, wirkte die kleine Alma manchmal fröhlich. War er da, hatte er eine sehr klare Vorstellung davon, was jeder im Haus zu tun und zu lassen hatte.« Die Frau kämpft mit den Tränen und dreht den Kopf weg. »Zwei Monate nach meiner Kündigung sind Alma und Julie verschwunden. Ich habe mir immer Vorwürfe deswegen gemacht.«

»Aber Sie hätten es doch nicht verhindern können«, sagt die Journalistin besänftigend.

»Nein, aber ich hätte mich entschlossener vor das Kind stellen müssen.«

»Sind Sie nicht gerade deshalb entlassen worden, weil Herr Goedel der Ansicht war, dass Sie sich zu viel um Alma gekümmert haben?«

Koljas Fuß schlägt rhythmisch gegen das Tischbein.

»Kolja, lass das!« Ich habe eine dunkle Erinnerung an die Frau, verbunden mit dem Duft nach …

»Stimmt, ich war nicht für das Kind zuständig, und ich habe Deutsch mit ihr gesprochen. Die Kindermädchen mussten Englisch mit ihr sprechen. Aber Alma konnte sich doch mit niemand unterhalten!« Die Frau schüttelt ratlos den Kopf und fügt resigniert an: »Ich war als Haushälterin und Köchin in Flusshorst angestellt.«

»Kuchen! Ja, ich erinnere mich!« Ich kann nichts dagegen machen, dass mir die Tränen übers Gesicht laufen. »Sie war nett, ich hab sie fast so gern gehabt wie Julie!«

»Haben Sie die Mutter von Alma kennengelernt?«

»Nein. Alma war drei Jahre alt, als ich in Flusshorst angefangen habe. Niemand hat ihre Mutter gekannt. Und niemand hätte gewagt, offen nach ihr zu fragen«, sagt die Frau. »Das Thema war tabu.«

Paolo haut mit der Faust auf den Tisch. »Mann, mir wird schlecht, wenn ich das höre.«

Dann werden wir still, denn in England hat die Journalistin die Mutter von Alma Goedel ausgegraben. Forsch klingelt sie an einer großen, modernen, dunklen Metalltür, die in keiner Weise den typischen englischen Reihenhaus-Türen ähnelt. Einen Namen erwähnt die Journalistin nicht. Und die Tür öffnet sich auch nicht. Niemand erscheint vor der Kamera.

Psychische Belastungen seien der Grund für den Rückzug, informiert sie ihr Publikum, das ihr glauben kann oder nicht, dass dies die Tür zum Haus der Mutter von Alma Goedel ist.

Ich glaube es nicht. Die psychischen Belastungen, ja, wen wundert’s, denke ich und rede mir ein, dass ich mich nicht für sie interessiere.

»Habt ihr ein konspiratives Treffen oder darf man eintreten?«, will der Chef, in der Tür stehend, wissen.

»Wenn du uns den Unterschied zwischen Nachrichten und Info-Müll erklären kannst?« Paolo, ganz der eifrige Schüler, pocht mit dem Kuli auf das leere Blatt, das er schnell auf den blauen Ordner mit der fetten Aufschrift ALMA-MARTER-MATERIAL gelegt hat.

Unser Privatpädagoge stöhnt: »Hört ihr nie auf zu lernen?«

»Erst, wenn wir das Abi in der Tasche haben«, sagt Paolo.

Krankhafter Ehrgeiz. Der Chef, Kolja und ich schütteln erschüttert den Kopf.

»Ihr kommt also nicht mit?«

»Wohin?«

»Zum Badesee und dann Eis essen«, sagt er.

Doch, wir fahren einträchtig übers Land. Ich kontrolliere unauffällig, ob jemand hinter uns her ist. Paolo schwimmt mit mir bis zum alten Baggerkran und die Mädchen halten einen Mindestabstand zu Koljas Badehose.

Ein gelungener Sommertag.

Am Himmel ziehen sich die ersten Wolken seit Langem zusammen. Wir sitzen vorm Venezia in Rastkirch und schlabbern Eis. Ich bin bei Joghurt-Kirsche, hab an der Erdbeere noch kaum geschleckt, geschweige denn an der Schokokugel, die tief in der Waffel steckt, da öffnet sich der Himmel und duscht den Staub von allen Dingen ab, die unter freiem Himmel sind.

»Hm«, ich atme tief durch die Nase ein. »Ein genialer Geruch. Mein absoluter Lieblingsgeruch, der erste frische Regen auf altem Staub.« Ich halte die Hand übers Eis, schließe die Augen und lächle. Als ich sie öffne, sitzen der Chef, Paolo und Kolja genauso da. Warmes, tiefes Glück rauscht durch mein Blut, und ich muss auflachen, aufjauchzen. Wir lachen uns zu viert schlapp, klatschnass. Die anderen Gäste grinsen aus der Eisdiele zu uns herüber. Der Kellner pocht gegen seine Stirn. Nur ein Kind entwischt seiner Mutter und tanzt im Regen zwischen den fluchtartig verlassenen Tischen herum.

»Mara! Komm sofort rein!«, brüllt es aus der Eisdiele.

»Nein! Komm raus!«

Der Chef lässt Klamotten springen. Ich kaufe mir in einem Billigladen ein Fehldruck-Madonna-T-Shirt mit passenden Shorts in Pink für € 4,–. Die Jungs brauchen ewig und das Zehnfache an Geld.

»Madonna Bad Girl«, Kolja grinst. »Tilly kann alles tragen, weil sie schön ist. Andere Mädchen wären mit diesem Ensemble entstellt.«

Mir fällt keine Entgegnung ein, aber ich gewinne eine ungefähre Vorstellung davon, wie Kolja seine große weibliche Fangemeinde einfängt.

»Hauptsache, ihr verfärbt mir nicht die Autositze«, sagt der Chef, der auf zeitlose Jeans und Kariertes steht.

Der gemeinsam verbrachte Tag hat Leichtigkeit in unser ländliches Heim gebracht.

»Ich koch uns was«, ruft der Chef von unten hoch.

»Nein«, rufen wir von oben nach unten.

In mir haben die Glücksmomente eine Wand eingerissen. Mit blutigen Händen hab ich damals erste Löcher reingebohrt und bin aus der Nacht, in der ich mit Julie begraben war, in den Tag geflohen. Heute hat das Glück den Durchbruch so weit vergrößert, dass ich nicht allein durchgehen muss.

BANG! BAZZ! BOING!

Nur ein Lachen, ein Lachen im Regen mit den Menschen, mit denen ich zusammenlebe, und mit Paolo, den ich liebe. Okay, ein Brüllgelächter mit Regentanz, aber es hat gereicht. Wie leicht das ist! Paolo, Kolja und der Chef haben mich mit vor Freude blitzenden Augen angesehen und meine Augen haben auch geblitzt. Ich habe Blitze auf alles geworfen, was ich angesehen habe.

YIPPIE!

Schlafen ist unmöglich. Ich schleich mich hinters Haus und setze mich auf den Holzspaltklotz. Der starke Regen hat die Sterne poliert. Die Milchstraße zieht sich über den Himmel. Eine Sternschnuppe warte ich ab, damit ich mir was wünschen kann. Was ich mir wünsche, weiß ich genau und überkreuze schon mal Zeige- und Mittelfinger an beiden Händen. Bin bereit, in Wunschposition, aber nicht auf ein Husten hinter mir vorbereitet. Ich fahre herum und erschrecke meinerseits eine Igelfamilie. Igelmutter oder -vater, wer weiß das schon bei Igeln, und vier Junge schmeißen sich ins Gras und machen sich rund. Mir rast das Herz. Der dicke Husten-Igel und ich linsen uns an. Angsthase und Igel. Es dauert eine Weile, bis sie ihre langen, dünnen Beine ausfahren und überraschend schnell in unserem Gemüsegarten verschwinden. Macht euer Testament, Nacktschnecken, das war’s! Zu spät, die Igel schmatzen schon. Ich lege den Kopf wieder in den Nacken, versinke im Anblick des Weltraums und beobachte einen Satelliten. Von rechts fällt eine wunderschöne Sternschnuppe vom Himmel. Finger sind bereits über Kreuz, die Augen zu. Und mein Wunsch ist: Rummachen mit Paolo im Stile der Nacktschnecken, bloß ohne schmatzende Igel. Ich träume von seiner Haut, seinen Lippen, geflüsterten italienischen Worten und so.