16
Tilly Krah ist tot.

Der Wind heult ums Haus. Es ist späte Nacht. Vor mir auf der Bettdecke liegt Dr. Becks Liste, aufgeschlagen bei Nr. 79-W-6-091019. Die rechtsmedizinische Untersuchung des sechsjährigen Mädchens hat keinen Nachweis auf ein Gewaltverbrechen ergeben. Der Leichnam lag schon seit circa fünfeinhalb Jahren in den Resten einer alten Wäschekiste, ehe Waldarbeiter beim Aufbau eines Jägerstandes auf das illegale Grab gestoßen sind. Das war im Herbst  2009. Da war ich im Heim, sonst hätte ich es mitbekommen. Die Fundstelle, Gemarkungsgrenze Buchstädt und Eichwitz, liegt auf meiner damaligen Rennstrecke, genau zwischen Tante Mandys Haus und meiner alten Schreckensheimat.

Am 16. Januar bin ich fünfzehn geworden. Ich atme vorsichtig aus, als könnte mein Atem alles durcheinanderbringen. Angst packt mich. Ich will nicht, dass meine Ahnung Gewissheit wird, obwohl ich weiß, fühle, fürchte, spüre: Das Datum stimmt nicht. Es ist gut, dass ich im Bett liege, denn der Boden unter mir trägt mich nicht mehr. Er lässt mich fallen. Ich versinke in ihm und spüre, wie die Erde um mich herum friert. Wurzeln erstarren, alles wird zu Eis und bricht auseinander. Tief unter mir oder in mir höre ich Schreie. Eine Wäschekiste ist doch kein Sarg!

Ich trage den Namen eines toten Mädchens. Viel zu dicht bei mir ist der Tod. Tillys Tod. Taub und benommen macht mich seine Nähe. Ich weiß nichts mehr – am allerwenigsten, wer ich bin. Bloß wer ich nicht bin, das weiß ich und sehe es in schrecklichen Bildern vor mir.

Mit einem Sprung ist Paolo am Herd, zieht den Milchtopf von der Flamme und rettet so die Milch vorm Überkochen.

»Was soll ’n das werden?«

»Kakao.« Er schüttelt den Kopf und stiert mir auf die Beine.

»Wieso bist du noch nicht fertig?«

»Kann heute nicht.«

»Okay, ich hau mich wieder hin. Ich geh nicht …«

»Allein? Musst du nicht. Ich bin ja auch noch da«, sagt Kolja und wirft sein Tasche aufs Sofa. »Ich komm mit. Nach der Schule treff ich mich mit Olga am Bahnhof.«

»Was ist? Bist du krank, Tilly?«, fragt Paolo. Einfach so: nüchtern, sachlich, brutal-neutral, ohne einen Hauch von Mitgefühl.

»Ich bin nicht krank und ich bin nicht Tilly.«

»Ja, ja, das sind die Worte des obergestörten Fräulein Krah«, kommentiert Kolja.

Ich schütte Kakaopulver in die heiße Milch und beschließe beim Rühren, nach Hause zu fahren. Was ein böser Witz ist! Aber er aktiviert meine überreizten Lebensgeister. Mit dem Kakao ziehe ich mich in mein Zimmer zurück, pack die Tasche und warte, bis ich die ersten Lebenszeichen aus dem Erdgeschoss höre.

»Chef, ich muss mit meiner Schwester reden.«

»Ruf sie an«, sagt er.

»Nein, ich muss hin. Es ist wichtig.«

Beck stellt frustriert seine Kaffeetasse ab und schüttelt den Kopf.

»Tut mir leid.« Ich meine es ernst.

»Was ist los, Tilly? Wieso sprichst du nicht mit mir? Ich meine mehr als das, was du dir zwischen Tür und Angel von mir mühsam aus der Nase ziehen lässt.«

»Tut mir leid.«

»Mit Riski«, er benutzt den Nachnamen so wie ich, er nennt ihn sonst Voito, »hast du doch auch gesprochen. Muss man zwanghaft mit dir durch die Gegend rennen, bevor du mit einem redest?«

»Die Obergestörte und zwanghaft, das bin ich für euch. Und es stimmt.« Pause. Womit könnte ich ihn milde stimmen? »Ich hatte es noch nie so gut wie hier bei dir, Chef.«

Er stöhnt. »Du machst es einem nicht einfach.« Er schüttelt resigniert den Kopf. »Wann bist du wieder da?«

»Morgen.«

»Nimm dein Handy mit.«

»Das bringt nichts. Es ist nie da, wo ich bin, oder ich bin nicht rechtzeitig dran …«

»Du nimmst es mit. Ich will dich erreichen können. Klar?«

Ich nicke. »Fährst du mich zum Bahnhof?«

»In Ordnung, ich muss sowieso nach Stuttgart. Halbe Stunde noch, okay?«

Mehr als das! Stuttgart habe ich nicht zu hoffen gewagt. Es erspart mir ewige Warterei auf zwei zugigen Regionalbahnhöfen. »Danke.«

Fieberhaft suche ich nach einem Gesprächsthema für unsere gemeinsame Fahrt. Die tief verschneite Landschaft, durch die wir flitzen, gibt kein schau mal hier und kuck mal da her. Soll ich ihn fragen, ob er seine Freundin besucht, die in Stuttgart wohnt? Nein, zu indiskret. Aber was dann?

»Was meinst du, wann du mit der Renovierung fertig bist?«, frage ich beiläufig.

»Nie«, er seufzt. »Ich versuche damit, die bösen Geister zu vertreiben, die mein Vater durch seine Tätigkeit ins Haus geschleppt hat.«

Ich kann nicht anders, ich muss kichern, obwohl der Chef alles andere als amüsiert geklungen hat. »Das Tagblatt und damit die Weltöffentlichkeit weiß von den Geistern.«

»Vor Maria bleibt nichts verborgen. Gar nichts, kein böser Geist und auch die guten nicht.«

Hä, woher weiß er, dass ich sie besuche? »Äh, meinst du mich?«

»Ganz Lauterstetten fragt sich, was die Maria und das Zigeunermädchen mit der Sherpamutter miteinander zu besprechen haben.«

Jetzt grinst der Chef und ich nicht mehr. Ich kann’s nicht ab, wenn andere über mich labern. Am liebsten wär ich unsichtbar. Prompt fällt mir kein Gesprächsstoff mehr ein. Bläulich schimmert der Schnee in der Morgendämmerung und ich sehe Sandras Schneegrab vor mir.

»Ein endloser Winter ist das«, rutscht mir nach einer Pause heraus.

Zustimmendes Nicken vom Chef. »Weil wir so lange im Eis waren. Ich könnte es gut verstehen, wenn du in den Süden fahren wolltest. Deine Schwester hat dich nicht ein einziges Mal angerufen. Niemand von deiner Familie. Wissen die überhaupt Bescheid, dass du kommst?«

»Nein«, sag ich ehrlich. »Sonst haben sie nur Zeit, sich auf Lügen vorzubereiten.«

»Was willst du von ihr?«

»Kindheitssachen, damit mach ich grad rum.«

Ich versuche, von mir abzulenken. »Was hat denn dein Vater für eine Tätigkeit ausgeübt?«, frage ich, als hätte ich keine Ahnung.

Der Chef quittiert meine Bemühung, das Gespräch am Laufen zu halten, mit einem verzweifelten Grinsen. »Er war Rechtsmediziner. Und er hat wahnsinnig gern meiner Mutter und mir von seinen Fällen erzählt. Beim Abendessen, zum Beispiel. Dies zum Thema Kindheitssachen. In meinen Albträumen kommen immer Leichen vor, die nicht vollständig sind.«

Ich hab keine Ahnung, wie alt der Chef ist, und frag ihn: »Wie alt bist du?«

»Am 7. Mai werde ich neununddreißig.«

»Wird man den Scheiß nie los?«

»Fürchte nein.«

»7. 5. 74, das kann ich mir merken. Am 8. 5. haben wir unsre Prüfung.« Seine Mutter hat er nie erwähnt, also frage ich auch nicht nach, wo sie ist. Wir schweigen, aber jetzt empfinde ich die Stille als nicht mehr so bedrückend.

»Tilly?«

Ich mach die Augen auf. »Was ist?«

»Du hast gestöhnt.«

»Tut mir leid.«

Er schüttelt den Kopf. »Lass mal das ständige Bedauern bleiben. Wir sind gleich da.«

Ich muss ewig mit einem ausgeliehenen Albtraum vom Chef gepennt haben. Eine Wäschetruhe kam auch darin vor, eine ganz kleine. Stöhnen? Ich könnte schreien.

Gute Reise, Tilly.

Ab Stuttgart Hbf 08:51, an Halle-Neustadt 14:40.

Ab Halle-Neustadt 15:25. an Bitterfeld 16:22.

Die Landschaft wird im Affenzahn an mir vorbeigezogen. Ich bleib stehen und grüble zurück. Mein Leben rückwärts gibt nichts her. Ich wühle in Bilderfetzen und hau sie mir um die Ohren. Nie hab ich mich gefragt, wieso ich mich kaum an etwas erinnern kann. An meine Kindheit bei Tante Mandy habe ich null Erinnerung. Erst ab der Einschulung gibt es ein paar vage Erinnerungsfetzen. Sonst ist alles Rennen, Laufen, Stürzen, Springen, Flitzen, Flüchten. Über Zäune, Hecken, durch den Wald. Konnte ich nicht rechtzeitig abhauen, gab’s brutale Schläge, von ihr oder von ihm. Kann ich mich nicht erinnern, weil mein Leben zu beschissen war? Hab ich mir eingeredet, ich kann mich an nichts erinnern, weil ich gestört, zwanghaft, paranoid und saudumm bin? Nach Sandras Tod hat mich Beck direkt mit der Nase darauf gestoßen und ich hab immer noch nichts geschnallt.

»Deine Mutter hat gesagt, du wärst nicht ihr Kind.«

»Sie verliert leicht mal den Überblick bei ihrer großen Kinderschar. Ich hab jahrelang bei Tante Mandy gewohnt, ihrer Schwester. Fast bis zur Einschulung. Früher hab ich immer geglaubt, dass Tante Mandy meine Mutter ist. Auf jeden Fall hab ich es lange gehofft.«

»Aha. Sie hat, äh, sich beschwert, ich hätte sie doch erst vor Kurzem nach dir gelöchert. Und da hätte sie mir doch schon gesagt, wo du steckst und dass du nicht ihrs wärst.«

Ich hab’s auf den Suff geschoben, hab gedacht: Klar, ich hab halt ’ne Mutter, die nicht will, dass ich ihr Kind bin. Aber irgendwoher habe ich noch eine andere vage Vorstellung von einem anderen Leben als dem, das ich kenne. Und das macht mir richtig Angst.

»Tschuldigung.«

Jemand stößt gegen mein Knie. Ich blicke in ein grinsendes Männergesicht und schiebe mich zurück auf meinen Sitz. Hat sich der Zug gefüllt? Ich sehe mich um. Nein.

Noch breiteres Grinsen, blonde Föhnfrisur, MacBook Pro, iPhone. »Ich beobachte dich schon eine Weile.«

Alarm!

»Wärst du interessiert zu modeln?« Lächeln. Der ganze Kerl ein einziges Lächeln. Kommt er mir bekannt vor? Keine Ahnung. Draußen fliegt eine verschneite Biogasanlage vorbei.

»Nein.«

»Interessiert es dich gar nicht?«

»Nein.«

Sattes Lachen. Hahahaha. »Das hört man nicht oft. Ich bin Model-Scout. Ich sehe viele Gesichter. Und ich sage dir, du hast ein besonderes Gesicht. Wie groß bist du?«

Ich explodiere: »Ich werde nicht mit Ihnen mitkommen, damit Sie Fotos von mir schießen können, die Sie dann irgendwelchen einflussreichen Leuten zeigen!« Noch lauter: »Ich werde nicht Ihren Freunden oder Ihnen selbst einen blasen, damit ich auf die Titelseite vom ›Apotheker-Blättchen‹ oder des ›Sparkassen- und Raiffeisenbankenmagazins‹ komme! Verschwinden Sie oder ich schreie!« Das ist hart am Geschrei.

Mein Gegenüber verschwindet augenblicklich.

Die restliche Strecke kann ich nicht einmal darüber nachdenken, wieso ich nicht denken kann. Ich bin einfach in Aufruhr. Fotos! Das Letzte!

Bitterfeld an 16:22 hat sich nach hinten auf an 16:41 verschoben. Der Anschlusszug nach Loßig ist weg. Keinen einzigen Gedanken und zwei Stunden später um 18:49 erreiche ich Buchstädt. Eine weitere halbe Stunde Fußmarsch und ich klingle an Tante Mandys Tür.

Es brennt Licht. Sie muss da sein.

Meine Schwester Daniela macht die Tür auf und sagt: »…………….. .«

»Hallo, Daniela«, sage ich. Sie hat ein paar Kilo zugelegt, seit ich sie vor vier Jahren das letzte Mal gesehen habe. Sie ist erblondet, sieht ganz gut aus.

»Mensch, Tilly. Du hast echt Sinn für überraschende Auftritte. Muss man dir lassen, hast du immer gehabt.«

»Komm ich ungelegen?«

»Nee. Ja.«

Hinter Daniela erscheint Tante Mandy. Geisterhafter als alles, was dem Chef und dem Tagblatt je die Ruhe geraubt hat. Augen aufgerissen, Mund halb geöffnet. Alt ist sie seit unsrer letzten Begegnung geworden. Mandy Zabel hat immer auf sich gehalten, wie sie das selbst ausgedrückt hat. Sie hat auf sich gehalten, nicht geheiratet, immer gearbeitet. Ihre Schwester, meine Mutter, nicht. Und nicht nur das, ihre Schwester, meine Mutter, hat obendrein den falschen Mann, meinen Vater, geheiratet.

»Guten Abend, Tante Mandy.«

Tante Mandy mit zitternden Lippen: »Tilly, komm doch rein.« Sie geht voraus in die Küche  – immerhin. Das Wohnzimmer wäre noch förmlicher gewesen. Was hab ich mich immer darüber gewundert, dass ich gar nichts von meinem Leben bei TANTE Mandy weiß? Nichts, kein Bild, kein Ton, kein Geruch, abgesehen von meinem Wunsch, bei ihr wohnen zu können. Tausendmal lieber wäre ich bei ihr gewesen als ZU HAUSE bei meiner MUTTER und meinem VATER.

»Ich bin nicht Tilly.«

Tante Mandy schwankt.

Daniela haut gegen den Türpfosten und brüllt: »Hammer!«

Das heißt: JA.

Beide brechen sofort in großes Jammern aus.

Ich habe das Gefühl zu verdursten und schenke mir selbst ein Glas Milch ein, weil meine Gastgeber meine Gegenwart unter dem Druck der Ereignisse verdrängt haben.

Erst nach dem zweiten Glas wendet sich Mandy unter Tränen an mich: »Tilly lag morgens tot im Bett. Ihr Herz hat im Schlaf einfach aufgehört zu schlagen.«

»Wann war das?«

»Es war der 16. Februar, ein Monat nach ihrem sechsten Geburtstag. Sie war so ein liebes, kleines Mädchen. Mein hübsches, kleines Mädchen«, heult Mandy. »Ich hab mich immer um sie gekümmert. Sie war schwach und meistens krank, aber so lieb.« Soweit ich weiß, hat Mandy keine eigenen Kinder. »So zart war sie. Ganz feine rotblonde Locken hatte sie. Sie war mein Ein und Alles.«

Ich kann sie kaum noch verstehen.

Daniela tätschelt ihren Arm.

»Und was dann?«, frage ich.

»Ich hab nicht zuerst den Hausarzt angerufen, sondern Kathrin.«

Ihre Schwester, meine MUTTER. Klingt so, als würde Mandy das heute noch bitter bereuen. Ich hab immer gewusst, dass Mandy Angst vor meiner MUTTER hat. Jeder hat Angst vor ihr.

»Der Alte war damals im Knast«, sagt Daniela.

Mandy schnieft und schüttelt den Kopf über ihre Schwester. »Kathrin hat nie, nie, nie auf mich gehört.« Lautes Heulen, Schluchzen, Zähneklappern. »Sie hat Tilly selbst begraben. Ihr eigen Kind!«

Wütend starrt mich Daniela an, als wär es meine Schuld.

»Und wieso?« Ich kapier gar nichts, ich muss einfach weiterfragen.

Mandys Gestammel entnehme ich: Kathrin Krah fand es praktischer und billiger, den Tod ihrer Tochter zu verschweigen. Irgendwie hat sie darauf gesetzt, dass das Amt bei ihren zahlreichen Blagen den Überblick verloren hätte. Eins mehr, eins weniger … Sie brauchte das Kindergeld.

»Ich bin am nächsten Tag aus Kleingruna weggezogen, hab mein Haus verkauft und das hier gekauft«, sagt Mandy und schnäuzt sich die Nase.

»Was ist mit mir?«, frage ich.

Ich kann die beiden unmöglich fragen: Wer bin ich?

Mir ist total klar, dass ich das selber rauskriegen muss.

»Ich hab dich gefunden«, sagt Daniela. »Im Schuppen bei den Hühnern. Zwei Wochen nach Ostern. Du musst dich da schon ’ne Weile versteckt haben. Du hast unsre Eier geklaut und Maiks Klamotten von der Wäscheleine genommen. Die hattest du an, und unglaublich gestunken hast du.«

Daniela starrt mich aus zusammengekniffenen Augen an. Ich glaube, sie versucht rauszukriegen, was ich weiß. Aber ich sehe nur übergroß und im Detail den Gartenkalender an der Wand.

Da ich nichts sage, macht sie weiter. »Was du gesagt hast, hat keiner verstanden. Ziemlich irre war das. Du hast gebissen und gekratzt. War arschklar, dass du nicht freiwillig aus dem Schuppen kommst. Total durchgeknallt. Die Alte hat dich aufgepäppelt. Du warst wie ’n Tier und sie war richtig nett zu dir.« Von dieser Tatsache heute noch irritiert, schüttelt Daniela den Kopf und schränkt ein: »Na ja, am Anfang, später normal.«

»Anfang Mai hat sie mich angerufen und gesagt, ich hab ’ne neue Tilly.« Mandy schüttelt den Kopf. »Sie hat nie, gar nie auf mich gehört.«

»Uns hat sie hintereinanderweg durchgeprügelt. Das ist Tilly, hat sie gebrüllt, die bleibt bei uns. Tilly ist eure Schwester! Sie war bei Tante Mandy. Keine Fragen mehr! Kapiert?« Daniela lacht bitter. »Keiner hat mehr gefragt. Und ich musste in meiner Bude einen Platz für dich freischaufeln.«

Mandy schnäuzt sich die Nase. »Anfang Juli hat sie wieder bei mir angerufen. Das Schulamt hat ihr die Einschulungsaufforderung für Tilly geschickt, weil Kathrin sie bis Ende Juni noch nicht in der Grundschule angemeldet hat. Von wegen, das Amt merkt sich nicht jedes Krah-Kind …« Mandy lacht bitter. »Im Kindergarten war Tilly nie. Sie war zu schwach. Deshalb war sie ja bei mir, und wenn ich auf Arbeit war, hat Anne Thiel auf sie aufgepasst. Die war Rentnerin und sehr lieb zu Tilly.« Ihr Redefluss stockt. »Kathrin denkt, ich bin blöd. Sie hat nie auf mich gehört. Andauernd hat sie mich gebraucht, immer hab ich ihr helfen müssen, aber sie denkt heute noch, ich wär zu doof, um was zu merken. Sie rechnet immer nur, was für sie rausspringen kann. 1.536  Euro Kindergeld mit Tilly. 1.357 Euro ohne Tilly.«

So komm ich ins Spiel.

Darum hab ich Tillys Platz eingenommen. Um der Familie zu 179 Euro mehr im Monat zu verhelfen.

Eine Million Affen schlagen mit Kokosnüssen auf meinen Kopf ein. Ich kriege wahnsinnige Kopfschmerzen.

»Der Alte war im Knast und sie war besser drauf als sonst. Sie hat dich echt betütelt. Eigentlich war’s bis in die Sommerferien hinein ’ne richtig schöne Zeit«, sagt Daniela. »Und das, obwohl ich dir einen Teil von meinem Zimmer abtreten musste. Du hast nie gemeckert. Manchmal hast du morgens in meinem Bett gelegen und dich an mich gedrückt. Du warst dünner als unsre Hühner.«

»Nach den Sommerferien ist Daniela bei mir eingezogen«, sagt Mandy.

Irgendwie lässt sie immer durchblicken, dass sie mich nicht leiden kann. Das war von jeher so, daran kann ich mich erinnern.

»Wenn ich in dem Irrenhaus geblieben wäre, hätte ich meine Lehre nie durchgehalten«, sagt Daniela.

Weggegangen, Platz vergangen. Eierklau. Identitätsklau.

»Nach den Ferien bist du als Tilly Krah in die Schule gegangen. Niemand hat sich gewundert. Der Zweitälteste, Stefan, ist ja auch so ein dunkler Typ. Und alle haben gewusst, dass du bei mir aufgewachsen bist. Kathrin hat triumphiert«, sagt Mandy.

»Du sagst ja gar nichts«, stellt Daniela fest.

Stimmt. Ich finde keine Worte. Geht nicht.

»Es war furchtbar, als man Tilly ausgegraben hat! Ich hab seither immer Angst«, heult Mandy. »Wenn du uns meldest, sind wir dran. Dann ist alles aus!«

Ich bin nicht, ich bin nicht, ich bin nicht Tilly Krah.

Es ist nicht amtlich, aber wahr. Der drohenden Amtlichkeit wegen vergießen Daniela und Mandy bittere Tränen.

»Ich melde gar nichts«, sag ich. »Hast du noch Milch?« Ich verdurste. Mir ist schlecht.

»Kurz nach deiner Einschulung ist der Alte entlassen worden«, sagt Daniela und schenkt mir Milch ein.

Da setzt meine Erinnerung ein. Schlichter, alltäglicher Wahnsinn. Suff, Gebrüll, Schläge und ab über die Hecken. Ich weiß nicht, wer schlimmer war, er oder sie?

Ich trinke Milch. »Kann ich telefonieren?«

Daniela zeigt mir das Telefon.

»Hallo Chef, ich wollte mich nur melden. Morgen bin ich wieder da.« Ich spreche auf seinen AB. Er ist nicht da und ich habe mein Handy in Lauterstetten liegen lassen.

»Arbeitest du?«, fragt Mandy.

»Ja«, sage ich.

»Hast du damals das Jugendamt angerufen?«, fragt Daniela. »Der Alte flippt heute noch aus, wenn er mich sieht, und behauptet, ich sei’s gewesen.«

»Nein, ich war’s«, geb ich zu.

Nachdem das Klo wochenlang kaputt war, draußen war’s eiskalt, der volle Eimer stand neben dem Herd, hab ich an meinem elften Geburtstag, am 16. Januar 2009, das Jugendamt angerufen, nachdem er mich wieder einmal halb tot geschlagen hatte. Mein Geschenk an mich. »Christian und Stefan waren eh weg. Und du warst bei Tante Mandy. Ines, Mario und Maik sind zusammengeblieben. Die waren mehr als froh rauszukommen. Anna und Lena wollten zusammen ins Heim, aber nicht mit Mario und Maik«, sage ich.

Es ist eine Entschuldigung und Erklärung gleichzeitig. Die sogenannte Familie Krah ist auseinandergeflogen, ist einfach explodiert. Aber es ist für uns alle dadurch nicht schlechter geworden. Gut nicht, aber besser. Ich bin woanders untergekommen, allein, auf meinen Wunsch, weil ich nachdenken musste. Drei Heime später war ich in der Jugendpsychiatrie, dann Finnland, jetzt Lauterstetten.

Und im Moment – hier.

»Ich gehe jetzt ins Bett.« Mandy steht wankend auf, obwohl sie nichts Stärkeres trinkt als Kamillentee. Sie stützt sich mit der einen Hand auf den Küchentisch, mit der anderen zieht sie mich hoch und sagt: »Ich hab’s dir übel genommen, dass du Tillys Platz eingenommen hast. Das tut mir wirklich leid, weil du noch sehr klein warst. Entschuldige bitte.«

»Keine Sorge, ich verrate euch nicht«, sage ich.

Ich schlafe auf dem Sofa im ungeheizten Wohnzimmer. Es ist eiskalt unter der klumpigen Bettdecke. Die Füllung besteht wahrscheinlich aus vollständigem Geflügel mit Schnäbeln, Krallen, Federn, denn sie rutscht nach rechts und links weg. Direkt auf mir besteht die Bettdecke nur aus zwei Stoffschichten. So war’s immer, kalt, schwer, schmerzhaft. Zum Glück spüre ich nichts vor Müdigkeit.

Bevor Mandy und Daniela aufstehen, bin ich weg und stehe in vollkommener Dunkelheit vorm Jägerstand. Ich weiß nicht, ob es Mandy oder Daniela in ihrem Selbstmitleid dämmert, oder ob meiner MUTTER oder meinem VATER durch den Suffkopf geistert, dass heute der 16. Februar ist und heute vor neun Jahren Tillys Herz aufgehört hat zu schlagen.

Ihre Stellvertreterin können sie auch nicht mehr schlagen.

Alle künstlichen Blumen und Pflanzenranken aus Mandys Windfang hab ich abgenommen und schmücke damit Tillys ehemalige Grabstelle.

Absolute Stille. Keine Schnee-Eule.

Nur mein Herz schlägt.

Ich gehe lange zu Fuß, warte lange auf den ersten Bus und auf den Zug. Hauptsache weg.

Nach meinem Horrortrip in die Vergangenheit bin ich richtig schlecht drauf. Erst haut es mich in der Hofeinfahrt um, nur weil ein schwarzer Mercedes die Oberstraße runterfährt. Kurz darauf verliere ich in der Bibliothek das Bewusstsein. Die Ohnmachten machen mich doppelt fertig, weil ich beschlossen hatte, nie wieder umzukippen.

In seiner Ratlosigkeit schlägt mir der Chef eine Hypnosetherapie vor. Aus nackter Panik, ich könnte unter Hypnose irgendeins meiner Geheimnisse preisgeben, verstumme ich total.

»Tilly! Telefon!«

Lauter. »Tilly!!! Telefon!!!«

»Bin nicht da!«

Hämmern an meiner Tür, die Stimme des Chefs klingt verärgert: »Ich bin nicht dein Chefsekretär. Komm runter, sofort!«

»Wer ist es?«

»Geh ans Telefon und finde es heraus.«

Riski: »Hi, Tilly!«

Ich: »Hast du gewonnen?«

Riski: »Ja.«

»Gratuliere, du finnischer Lapplandmeister im Biathlon!« Ich freu mich über seinen Sieg.

»Wie geht’s dir, Tilly?«

Ich stöhne: »Schlecht. Hat’s dir Beck erzählt?«

»Er macht sich Sorgen.«

»Aber in der Schule bin ich gut.«

»Das sagt er auch. Was ist los?«

»Wenn ich’s dir sagen könnte, würde es dir schlecht gehen. Weiß Mieto schon mehr über die geklauten Papiere? Mit uns hat die Polizei nicht gesprochen.«

»Willst du mit ihnen sprechen?«

»Ich will wissen, wer der Mörder von Sandra ist und wieso er auf mich geschossen hat.« Meine Stimme hört sich fremd an.

»Ich werde es Mieto sagen. Und du solltest mit Paolo und Kolja reden. Die fühlen sich ausgeschlossen, wenn du dir nicht von ihnen helfen lässt.«

»…«

»Ich ruf dich nächsten Sonntag an.«

»Danke, Riski.«

Am 8. März feiern wir Paolos sechzehnten Geburtstag. Über mein Geschenk, einen zweiten Rollerhelm, der mir zufälligerweise auch passt, freut er sich ehrlich.

»Komm mit zum Bowling«, sagt Paolo. Er ist mit Kolja und Leuten aus dem Kaff in Rastkirch verabredet.

Ich schüttle den Kopf, stell mich auf die Zehenspitzen und gebe ihm einen Kuss. Auf die Lippen. Dann schließe ich mich wieder in meinem Zimmer ein.