9
Wer?
Wer war es?
Wer hat Sandra erschossen?
Erschossen. Das klingt so wahnsinnig … entschlossen.
Und wenn sie erschossen worden ist, weil sie so ausgesehen hat wie ich? Wenn der Mörder sie mit mir verwechselt hat? Wenn er mich töten wollte? Aber wieso? Wer will mich loswerden?
In dem Augenblick, als die Panikwelle auf mich zurast, klopft es. Ich sitze auf dem Bett, schnappe nach Luft und rufe nicht herein.
»Tilly?« Becks Stimme hinter meinem Türvorhang-Laken. Und noch mal: »Tilly, bist du da?«
Ich kriege nur ein Krächzen zustande: »Ja.«
Der Vorhang wird ein Stück zur Seite geschoben. Becks Kopf taucht auf. »Ist das hier okay für dich?«
»Wenn es für die Jungs okay ist«, murmle ich.
»Wir sind alle im Küchencontainer.«
Beck wartet, dass ich mich bewege, aber ich bin noch nicht so weit. »Vanessa erzählt Kommissar Mieto Lügen über mich«, sage ich.
»Nicht nur über dich. Sie ist …«, Beck verstummt. »Wie geht’s dir?« Er macht sich Sorgen, das ist unübersehbar.
Wahrscheinlich sehe ich gespenstisch aus, blutleer. Ich fühle mich auch so. »Ich kipp nicht aus den Latschen«, behaupte ich trotzdem. Tatsächlich beruhigt mich seine Anwesenheit.
Er nickt und sagt zögerlich: »Deine Mutter sagt, sie hat keine Ahnung, ob du früher auch schon mal in Ohnmacht gefallen bist.«
»War sie etwa nüchtern? Richtig ansprechbar?« Das wäre mal was Neues. Fast schon ein Wunder.
»Nein.« Beck lächelt unsicher. »Sie hat gesagt, du wärst nicht ihr Kind.«
»Sie verliert leicht mal den Überblick bei ihrer großen Kinderschar. Ich hab jahrelang bei Tante Mandy gewohnt, ihrer Schwester. Fast bis zur Einschulung. Früher hab ich immer geglaubt, dass Tante Mandy meine Mutter ist. Auf jeden Fall hab ich es lange gehofft.«
»Aha. Sie hat, äh, sich beschwert, ich hätte sie doch erst vor Kurzem nach dir gelöchert. Und da hätte sie mir doch schon gesagt, wo du steckst und dass du nicht ihrs wärst.«
»Du hast sie zweimal angerufen?«
»Nein, sie hat mich mit jemand verwechselt, der sie nach dir gefragt hat, und dem hat sie wohl gesagt, wo du bist. Und dass du nicht ihr Kind bist«, erklärt mir Beck geduldig.
Verwechselt? Vor meinen Augen verschwimmt alles und ich stammle: »Aber wer hat sie nach mir gefragt?«
»Das hat sie nicht gesagt.«
»Du sagst, sie hat sich beschwert? Sie hat bestimmt getobt, gekeift und unverständliches Zeug geschrien.« Da bin ich mir absolut sicher. »Wann war das?«
»Vorgestern hab ich sie endlich erreicht.« Beck seufzt. »Und ja, stimmt, es war eine unerfreuliche Unterhaltung.«
Vorgestern hat Sandra noch gelebt. Vorgestern ist lange her. Ein Menschenleben ist seither vergangen.
»Jetzt komm rüber, Essen ist fertig. Du musst bei Kräften bleiben.«
Beck wendet sich zur Tür. Ich will nicht, aber ich folge ihm und rede einfach weiter: »Meine großen Geschwister sind weg und die kleinen im Heim. Meine Alten sagen jedem, dass wir nicht ihre Kinder seien. Sie saufen und sind wütend, weil sie nicht mehr auf uns einschlagen können.«
»Ich kenn den Bericht der Jugendhilfe.«
Selbst wenn, weiß er gar nichts. »Sam hat gesagt, Sandra ist erschossen worden.«
»Ja. Sie war … sofort tot. Das sagt der Kommissar.«
»Keiner von uns würde so was machen.«
Beck dreht sich um und guckt mich lange an. »Ich kann’s mir auch nicht vorstellen.«
Im Küchencontainer gibt es kein anderes Thema. Nur Kolja sagt kein Wort. Und bei mir kreisen Gedanken ohne Anfang und Ende im Kopf.
»Was, wenn jemand uns alle abknallt? Einen nach dem andern!«, kreischt Vanessa. »Ich fühl mich hier nicht mehr sicher.«
Sie ist am Durchdrehen, was ich verstehen kann.
»Zunächst verlässt bitte keiner allein das Camp«, sagt Tonberg ruhig. »Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, steht es jedem frei abzureisen.«
»Hier kann uns doch niemand helfen!« Vanessa ist nicht zu bremsen. »Wieso kriegen wir keinen Polizeischutz?«
»Bist du dumm oder was?«, fragt Cem aggressiv.
Vanessa hat mehr als seine Wehrhaftigkeit infrage gestellt. Auch die anderen sehen Vanessa an, als hätten sie die gleiche Frage an sie. Eigentlich sind sich immer alle darüber einig gewesen, dass man Schutz vor der Polizei braucht, nicht von ihr.
»Alles hier ist voller Bullen. Du hast Polizeischutz. Du hast die volle Aufmerksamkeit der Polizei. Wir stehen nämlich alle unter Verdacht«, haut Cem verächtlich raus.
Vanessa hat ihn einmal zu oft verarscht, denke ich.
»Das ist doch totaler Quatsch!«, keift Vanessa. »Woher sollten wir denn eine Pistole oder ein Gewehr haben?«
»Wie seid ihr denn an den Alkohol gekommen? Woher hatte Sandra das Handy? Wieso sagen die Ladenbesitzer in Ivalo zu Riski, ihnen wäre es lieber, wenn er ohne euch käme?«, fragt Beck scharf.
Niemand antwortet. Ich halte die Luft an.
»Ihr klaut. Und zwar alle und alles. So sieht das aus. Das weiß jeder«, sagt Beck. »Außerdem will ich speziell von dir, Vanessa, dass du die Kriminalbeamten, von denen du beschützt werden willst, nicht anlügst. Kapiert?«
Großes Schauspiel: Vanessa wird rot, schluchzt, wirft die Arme auf den Tisch, lässt den Kopf daraufsinken und stößt lautes Geheul aus. Sam tätschelt ihr den Rücken.
Unerträglich. Selbst Jana wendet sich ab. Mir raubt die Gruppendynamik den letzten Nerv. Container 4 ist mit dem Küchendienst dran, also fange ich an abzuräumen.
Wer hat Sandra erschossen? Mein Hirn rotiert. Wieso, weshalb, warum?
Kolja ist mir in die Küchenecke gefolgt, ich kriege es erst mit, als er mich anstößt. Was er murmelt, kann ich kaum verstehen: »Der Plan steckt in deinem Kopfkissen. Pass auf, dass Sam nichts mitkriegt.«
»Was?«
»Dein Messtischblatt.«
»Ach ja. Wie hast du es …«
»Frag nicht. Oder du kannst dir deinen Scheiß selbst beschaffen.«
»Okay.« So viel zum Thema Klauen. Aber eine Pistole oder ein Gewehr klaut keiner von uns. Niemals! Zumindest sehr unwahrscheinlich, denke ich.
»Also ich hab für niemand ’ne Knarre besorgt«, sagt Kolja, ohne mich anzusehen, als könnte er meine Gedanken lesen. »Und du übernimmst meinen Abwasch.«
»Klar.«
Im funzeligen Licht der Containerbeleuchtung kann ich die Details nicht erkennen. Außerdem müsste ich den Plan ausbreiten, um einen Überblick zu kriegen. Aber die Jungs schlafen noch zu unruhig, sie grunzen und schmatzen. Es ist kurz nach zehn. Ich warte, bis ich mich aufs Klo verziehen kann, und konzentriere mich solange auf die ganz große Frage: Wer hat die Alte nach mir gefragt? Wer will wissen, wo ich bin? Irgendwer hat sie mit konkreten Fragen nach mir gelöchert und genervt. Ein Mann, klar, sonst hätte sie nicht Beck für den Anrufer gehalten. Möglich, dass der andere einen ähnlichen Ton hatte, nach amtlicher, autoritärer Behördenstimme geklungen hat, sonst hätte sie nicht sofort losgekeift. Wahrscheinlich hat der erste Anrufer Druck gemacht. Wann hat er angerufen?
Sie hat ihm erzählt, dass ich hier bin. Ist er mir gefolgt? Bilde ich mir nicht nur ein, dass ich beobachtet werde? Stimmt es vielleicht? Verfolgt mich jemand, wenn ich laufe?
Quatsch! Wahnhafte Störung, paranoide Psychose, ich hab’s schriftlich. Unwillkürlich halte ich mich am Bettrahmen fest, um nicht in die Nacht hinauszulaufen. Ich will weg. Weit weg. Er ist hier, und er ist hinter mir her, denke ich zwanghaft und kann es nicht abstellen. Hat er Sandra mit mir verwechselt? Denkt er jetzt, ich wäre tot? Aber wer? Der Teufel? Das hat mich ein bescheuerter Psychiater gefragt. Meine Alten haben uns nichts über Gott oder den Teufel erzählt oder uns gar Märchen vorgelesen. Und meine Alten sind auch nicht mehr hinter mir her. Das ist vorbei. Wer soll es also sein? Ich schluchze los. Presse mir die Hand auf den Mund. Krümme mich. Beiß mir in die Hand. Plötzlich durchzuckt mich der Gedanke, dass man die Alten informieren würde, wenn ich tot wäre. Natürlich! Dann würde die Organisation den Eltern Bescheid geben. Mir wird schlecht, mir wird kalt und eine neue Kette von Überlegungen setzt sich in Gang.
Die Kälte zieht durch den Trainingsanzug in die Knochen. Ausgebreitet liegt die Umgebungskarte vor mir auf dem Badezimmerfußboden, und ich starre seit fünf Minuten darauf, ohne dass mir wieder einfällt, was ich darauf Merkwürdiges gesehen habe. Doch als ich sie wieder zusammenfalten will, fällt es mir ins Auge. Da! Am äußeren, rechten Rand ist eine Hütte eingezeichnet.
Die Hütte! Das ist es! Habe ich nicht jemand dort gesehen? Und das Licht? Ich habe es nicht ernst genommen, es für unmöglich gehalten, weil ich immer gedacht habe, dass die Grenze genau da verläuft. Aber das stimmt gar nicht. Auf der Karte wird es klar: Das ist nicht Russland, noch nicht. Russland fängt weiter oben am Fluss an. Die rot umrandete Staatsgrenze liegt eindeutig einen knappen Kilometer weiter nordöstlich.
Ich muss mit Riski reden. So leise wie möglich verstecke ich den Plan unter Sams Spind und suche nach Riski. Es ist kurz vor halb elf.
Beck ist im Küchencontainer. Allein.
»Ich muss mit Riski reden.«
»Auf Englisch oder vielleicht sogar Finnisch?« Becks Augen sind wach.
Riski muss ihm erzählt haben, dass ich ihn sehr gut verstehe.
»Beck, der Mörder kommt nicht aus dem Camp. Mieto …«
»… der Kommissar untersucht gerade Voito Riskis Kleinkalibergewehre.«
»Das sind Sportwaffen und Riski bewahrt sie zu Hause auf!«, sage ich ungläubig. »Wann hätte er die holen sollen? Und wieso? Das ist doch Quatsch!«
»Sprich nicht jeden Erwachsenen mit seinem Nachnamen an.«
»Ist respektvoller als mit dem Vornamen«, widerspreche ich. »Mieto hat mir einen Plan gezeigt. Darauf hab ich was gesehen.«
Beck sieht mich fragend an.
»Am anderen Flussufer ist eine Hütte. Beim Laufen hab ich da mal Licht gesehen. Das ist einen Kilometer Luftlinie von der Stelle entfernt, wo Sandra lag. Die Eisdecke ist seit einer Woche geschlossen. Was, wenn der Mörder Sandra von da aus gefolgt ist?«
Erst am nächsten Morgen hört Mieto mir unwillig zu. Hultmann studiert den Plan und wendet ein, dass samische Rentierhirten die alte Hütte nutzen. Sie liegt etwa einen knappen Kilometer vor der Grenze zur Republik Karelien.
»Es sind aber keine Rentiere getrieben worden«, sage ich.
Hultmann pocht auf die Stelle, wo der Fluss etwa zwei Kilometer breit wird. »In der Mitte ist die Strömung sehr stark. Hier friert er selten ganz zu.«
»Und was ist mit hier?« Ich zeige auf die direkte Verbindungslinie zwischen der Hütte und der Stelle, wo Sandra unterm Schnee lag. »Hier ist die Eisdecke geschlossen. Da könnte jemand an die andere Uferseite kommen.«
Debatten, Argumente hin und her. Nach einer endlosen Zeit verblassen die Rücklichter der Schneemobile, und Mieto, Hultmann und Riski entschwinden endlich über den Fluss.
Es vergeht eine Ewigkeit, ohne dass sie zurückkommen. Ein Hubschrauber landet da drüben, und ich soll aus dem Küchencontainer verschwinden, in dem Tonberg hektisch telefoniert.
Paolo, Kolja und Sam beballern mit der Schneekanone die Dächer der beiden Gebäude. Ich verteile die Baustellenlampen und warte ungeduldig auf Riskis Rückkehr.