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Der Plan
Das Hüttenfilzen können wir knicken. Nach dem Frühstück werden wir zum Aurora Linna Icehotel abtransportiert. Wir sollen uns die Ergebnisse der dortigen Eisbildhauer ansehen und uns beim Innenausbau unserer Baustelle ein Beispiel daran nehmen.
Bei der ersten Gelegenheit hau ich ab, besteche die Bausekretärin mit zwanzig Euro und rufe Daniela, meine älteste Schwester, an. Sie wohnt zwei Käffer von zu Hause entfernt bei Tante Mandy, Luftlinie zwölf Kilometer. Ich biete ihr fünfzig Euro für folgenden Job an: Sie soll das Handy der Alten nach der Nummer eines Anrufers ohne Namenszuordnung durchsuchen. Und zwar in der Zeit vom 10. Oktober bis 3. November. Die soll sie aufschreiben und überprüfen, ob die Nummer danach noch mal auftaucht. Ich muss wissen, wer nach mir gefragt hat!
»Mach’s selber«, sagt sie.
»Kann nicht, bin in Finnland.«
»Scheiße, Tilly! Jahrelang hast du dich nicht gemeldet. Warum grad jetzt?«
»Es ist wichtig! Übrigens, sie wird dir erzählen, dass ich gestorben bin. Bin ich nicht. Aber behalt das für dich. Bitte.«
»Du hast doch mal wieder den totalen Verfolgungswahn, hab ich recht?« Daniela motzt noch weiter, aber dann willigt sie ein. »Wie komm ich an die Kohle?«
Im Umkreis von ein bis zwei Kilometern rund um unser Elternhaus habe ich an strategisch günstigen Stellen Geld gebunkert. Meine Vorbereitung auf … Ich weiß nicht was. Abhauen nach Nirgendwo, Flucht ins Weltall …
»Ich ruf dich an. Heute Abend. Schaffst du das bis dahin?«
Daniela stöhnt: »Hab überhaupt keinen Bock, aber ich mach’s.«
»Super, ich sag dir dann, wo das Geldversteck ist.«
Ich nehme ein paar Hotelbroschüren mit und reihe mich wieder in meine Gruppe ein. Selbst im unfertigen Zustand sieht das Foyer beeindruckend aus. Ein Kristallpalast, in allen Blautönen schimmernd und glänzend. Rechts von mir schabt ein Japaner an einem gewaltigen Eisengel, der seine Flügel weit über den Empfangstresen ausbreitet. Hat der Bildhauer meine Schnee-Eule gesehen? Mir jagt der Engel einen Kälteschauer über den Rücken, der mich zittern lässt. Sandra fehlt mir so, dass es im Herzen schmerzt.
»Du bist so blass. Muss ich den Notarzt rufen?« Beck sieht mich prüfend an.
»Nee, alle Körperfunktionen im grünen Bereich«, sag ich betont munter. »Apropos, kann ich heute Abend mal kurz meine große Schwester anrufen und fragen, wann das mit der Niedersinkerei bei mir angefangen hat?«
Wird abgenickt. Und als ich Riski frage, ob ich Paolo und Kolja Langlaufen beibringen darf, stößt auch das auf Zustimmung.
»Und wo kriegen wir die Skier her?«
»Von mir«, sagt Riski. »Ich hab noch fünf Paar lange Skier, kurze kann ich in Ivalo holen. It’s all up to you.«
Okay, offensichtlich gibt die Organisation nur dann was raus, wenn man nachbohrt. Ich überlege, wonach ich noch nicht gefragt habe. »Kann ich auch ein Schneemobil haben?«
»Nein.«
»Ist Mieto mit seinen Leuten noch in der Hütte? Haben die was rausgefunden?«
»Nein, die sind abgezogen. Aber für euch ist die trotzdem tabu. Das muss ich nicht extra erwähnen, oder?«
»Nee, schon gut.«
»Tilly???«
Räusper. »Riski!« Entrüstet: »Das versteht sich doch wohl von selbst.«
»Warum glaube ich dir nicht?«
»Weil du ein misstrauischer Finne bist.«
Bis zum Abend bin ich in der hysterischen oder aufgekratzten Stimmung einer Superagentin kurz vorm Supercoup und gehe erfolgreich und mit geschärften Sinnen Container 2 und 6 aus dem Weg. Erst als ich mit meiner Schwester telefoniere, ist Schluss mit lustig, denn Danielas Bericht lautet so:
Eine mitgebrachte Flasche Korn hat die Sache vereinfacht. Sie konnte das Handy der Alten an sich nehmen und hat eine Nummer für mich. Am 25. Oktober wurde der Anruf getätigt. Aber gerade als sie die Nummer aufgeschrieben hat, klingelte das Handy. Einer mit genau dieser Nummer hat angerufen und sie gefragt, ob sie wisse, dass Tilly in Finnland ums Leben gekommen sei?
»Krass. Nee, Alter«, zitiert sie sich selbst und lacht sich am Telefon schlapp. »Also erstens is Tilly nich tot. Und zweitens hat sie mich grad heut nach deiner Nummer gefragt, du makabrer Spinner. Da hat er aufgelegt.«
Sie diktiert mir die Nummer. Und ich verrate ihr mein Geldversteck.
»Wehe, die Kohle is nich da, crazy Tilly.« Sie legt auf.
Am liebsten würde ich sie schütteln und schlagen, so wütend bin ich, aber sie kann ja nichts dafür. Es ist meine eigene Schuld, dass sie dem Anrufer die Wahrheit gesteckt hat! »Sag, ich bin tot, wenn einer nach mir fragt«, hätte ich ihr sagen sollen.
»Und, was meint deine Schwester?« Beck hat mich allein telefonieren lassen.
»Sie ist schwanger«, sag ich, um meine unnatürliche Blässe zu erklären. »Und anscheinend hab ich schon als kleines Kind beim kleinsten Klaps mit Todesstarre reagiert. Scheint ’ne Stressreaktion zu sein.«
Bibber, Angst, Panik! Vermasselt, alles umsonst. Ich sitze auf der Schneekanone, zittere und bin absolut ratlos, nein, verzweifelt! Was soll ich denn machen? Geh ich zu den Bullen und sag: Überprüfen Sie diese Nummer. Der Mann, dem sie gehört, hat nicht Sandra, sondern mich töten wollen. Dann fragen die: WIESO? WESHALB? WARUM?, und alles geht von vorn los. Ich hab nicht die geringste Chance. Dann wäre endgültig alles vorbei. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, bis die Jungs mich aus meinem elenden Zustand reißen.
Paolo: »Komm runter! Du frierst fest!«
Kolja: »Was sagt Riski? Kriegen wir Skier?«
Paolo: »Kommt er mit?«
Ich schüttle den Kopf.
Sam: »Was wollt ihr denn mit Skiern?«
Paolo: »Skifahren, Alter.«
»Skifahren? Seid ihr irre?«
»Skaten is nich, Alter. Hab’s probiert. Aussichtslos im Schnee.«
Sam wirft Paolo einen Schneeball an den Kopf. Das ist der Startschuss. Sofort bricht eine Schneeballschlacht los. Mich verschonen sie schon mal per se nicht.
Als ich davonlaufe, jagt Paolo mir hinterher. Ich bin so verpeilt, dass er mich tatsächlich kriegt. Er packt mich von hinten und hebt mich hoch. Mir bleibt die Luft weg. Ich kann es nicht ab, von hinten gepackt zu werden. Und als ob er es spüren würde, stellt Paolo mich unerwartet sanft wieder ab. Er dreht mich an den Schultern um und stupst mit seinem Handschuh auf meine Nase. Dann dreht er sich um und stapft weg. Was war das denn???