13
Paolo, Kolja, ich und …

Am nächsten Morgen sitze ich hinter Beck auf dem Schneemobil und wir fahren hinter Hultmann und Kolja sowie Mieto und Paolo her. Zwei russische Grenzbeamte folgen uns. Es geht über den Fluss. Ich habe wieder den Teint eines Bleichgesichts angenommen, aber davon sieht man eh nichts. Sicherheitshalber hab ich mir den Schal zweimal umgewickelt und die Skibrille auf. Vor und in der Hütte geben wir noch einmal den genauen Ablauf zu Protokoll, abgesehen von der Schutzbehauptung, die Hüttentür sei auf gewesen. Die Jungs demonstrieren, wie sie die Tür verrammelt haben.

»Der Wahnsinnige hat nicht mal versucht, sie aufzukriegen«, sagt Paolo verstört. »Er ist gar nicht abgestiegen, sondern gleich runtergerast zum Fluss.«

»Und da hat’s ihn umgehauen, aber er ist sofort wieder aufgestiegen und weiter über den Fluss«, ergänzt Kolja.

»Der Motor ist immer leiser geworden. Wir haben einen Schrei gehört und dann hat’s gekracht, zweimal hintereinander. Wir haben zwei Schüsse gehört.« Paolo beißt sich auf die Lippen und weicht meinem Blick aus. Es setzt ihm immer noch zu, dass er mich in der Situation alleingelassen hat, genau wie Kolja.

Mieto hat keine weiteren Fragen.

Wir fahren weiter. Der eisige Wind fegt losen Schnee über den zugefrorenen Fluss. Ich verstecke mich hinter Becks Rücken. Wir sehen aus wie total vermummte Eskimos bei der Robbenjagd, als wir vor der Einbruchstelle auf noch festem Eis absteigen.

»Der Kommissar fragt, ob du gewusst hast, dass das Eis hier nicht geschlossen ist?«, übersetzt Hultmann.

»Bei dem Verhör vor drei Tagen hat Riski so was gesagt. Da waren Sie und Mieto doch auch dabei?« Ich sehe ihn fragend an. »Das war, als ich Ihnen auf dem Plan die Hütte gezeigt habe.«

»Und warum bist du dann genau da hingelaufen?«, fragt Hultmann weiter.

»Ich wollte auf die andre Seite rüber, aber man kann das Camp von der Hütte aus nicht sehen. Ich muss im falschen Winkel losgelaufen sein. Ich dachte, ich wäre weiter südlich. Erst als die Leuchtrakete hochgegangen ist, hab ich gesehen, wo ich bin, und sofort die Richtung korrigiert.«

»Aber zuerst bist du flussaufwärts gelaufen?«

»Ja.«

»Worauf wollen Sie bitte hinaus?«, mischt Beck sich ein.

»Lassen Sie mich die Fragen stellen«, sagt Hultmann.

»Das war ein traumatisches Erlebnis für Tilly. Suggerieren Sie bitte nicht, dass sie irgendwas falsch gemacht hat!«

Beck stellt sich entschlossen vor mich. Ich könnte ausflippen, lass mir aber nichts anmerken. »Ich hab gedacht, ich bin auf dem kürzesten Weg rüber auf die andere Seite«, wiederhole ich nur.

»Hast du den Mann erkannt?«, will Hultmann wissen.

Ich zuck mit den Achseln. »Würden Sie mich erkennen? Wie soll man unter den arktischen Winterklamotten jemanden erkennen?«

»Hast du eine Ahnung, wer der Verfolger sein könnte?«

»Absolut keine«, sage ich, und das ist die reine Wahrheit.

»Wissen Sie es?«

Hultmann schüttelt den Kopf.

»Im Camp geht das Gerücht rum, dass es ein Deutscher sein soll. Wie kommen Sie darauf?«, frage ich weiter.

»Wer erzählt das?«, fragt Hultmann verärgert.

Beck schüttelt den Kopf, was so viel heißen soll wie »Ich nicht«.

»Stimmt es denn?«, hake ich nach. Keine Reaktion von Mieto und Hultmann. »Das würde doch heißen, dass uns jemand aus Deutschland bis hierher ans Ende der Welt verfolgt hat?«

»Vielleicht ja auch nur dich?«, sagt Hultmann.

»Vielleicht. Aber müsste ich dann nicht wenigstens den Hauch einer Ahnung haben, wieso?«, frag ich zurück. Meine Verzweiflung ist nicht zu überhören und sie ist echt.

Mieto übersetzt für die russischen Grenzsoldaten. Einer von ihnen starrt mich ununterbrochen an. Also starren nicht nur die Finnen. Ab jetzt starre ich zurück, beschließe ich.

Hultmann gibt seine neugierige Frage an mich weiter. »Er will wissen, seit wann du läufst.«

»Riski trainiert mit mir. Wieso?«

»Er hat dich laufen sehen.«

»Wie denn? Wann denn?«

»Na, mit dem Fernglas. Er hat die zweite Leuchtkugel abgeschossen. Er sagt, deine Leistung wär olympiareif, und der Mann kennt sich aus.«

»Quatsch, ich lauf erst seit ein paar Wochen. Ich hatte einfach nur Todesangst und bin um mein Leben gelaufen.«

Der Russe starrt noch intensiver. Nur Kommissar Mieto toppt ihn. Wenn das so weitergeht, fallen zwei Paar Augäpfel aufs Eis und frieren fest. Er sagt was zu dem Russen.

»Spricht Mieto karelisch?«, fragt Beck leise.

Hultmann, der Übersetzer, nickt. »Ihr sollt heute um 14:30 zu uns ins Lapin poliisilaitos in die Ivalontie  10 kommen.«

»Machen wir«, sagt Beck.

Wir! Wir kommen ihm näher und er uns!

»Was geschieht mit …« Aus dem schwarzen Loch im Eis spritzt Wasser heraus. In der Stille hört man Murmeln und Glucksen, als würde jemand aus dem Loch heraus zu uns sprechen. Ich dreh den Kopf weg.

»Wenn wir Glück haben, hat er sich mit dem Schneemobil verheddert. Falls nicht, wird er unterm Eis abgetrieben. Dann werden wir ihn nie mehr finden.« Hultmann wischt mit einem seiner gefütterten Handschuhe den vollgewehten Sitz frei und schwingt sich auf sein Schneemobil. »Hätte dir auch passieren können. Das war ganz schön gefährlich.«

Jetzt starren mich alle an: Hultmann, Mieto, die Russen, Beck, Paolo und Kolja.

Ist mir aber nicht passiert. Zum Glück, denke ich, kneif die Augen zusammen und ticke aus. »Er hat mich gejagt! Deshalb ist er mit dem Schneemobil da reingerast.« Ich deute auf das Loch. »Seine Mordabsicht hat ihn da reingetrieben. Nicht ich.« Ich fühle mich nicht schuldig. Aber ich bin auch nicht froh. Erleichtert vielleicht.

Wir fahren zurück ins Camp. Kolja, Paolo und ich haben frei. Offiziell frei. Für Gerechtigkeitsfanatiker schwer zu akzeptieren. Nach Sam, Nils und Cem platzt Ben stinksauer bei uns herein: Scheiße, kommt raus, faule Hunde! Paolo schubst und schiebt ihn vor die Tür und schließt ab. Endlich haben wir unsre Ruhe.

»Beck ist auf unsrer Seite«, sag ich, schmeiß mich auf mein Bett und lächle.

»Vielleicht ist deine Idee nicht schlecht«, gibt Kolja aus seiner Koje heraus zu bedenken.

»Welche? Dass wir una famiglia werden?«, fragt Paolo gerade so, als ob das die abwegigste aller kranken Ideen wäre.

»Von Familie sprichst du«, sagt Kolja. »Ich rede von aufs Land ziehen. Zu Beck. Wir drei.«

»Keine schlechte Idee«, stimmt Paolo zu. »Wo aufs Land?«

»Keine Ahnung«, hör ich Kolja sagen.

Ich halte die Luft an. Ich habe keine Ahnung, wo Beck wohnt.

»Ist ja auch egal. Stadt, Land, Fluss. Hauptsache Gefahr, ich liebe den Nervenkitzel«, sagt Paolo und gähnt.

»Was soll ’n das heißen?«, will Kolja wissen.

Ich höre, dass er sich in seiner Koje aufrichtet. Sehen kann ich weder ihn noch Paolo.

»Mit Tilly lebt man gefährlich.«

»Quatsch«, widerspricht Kolja. »Mit Beck sind wir drei Männer. Sie ist das einzige Weib weit und breit.« Paolo lacht leise, und Kolja fährt begeistert fort: »Das heißt, wir haben eine Bedienung. Umsonst!«

»Ich will nicht mehr mit euch zu Beck«, sag ich gleichgültig.

»Lüg nicht.« Ich kann hören, dass Paolo grinst.

Dann wird mein Türvorhang zur Seite gelüpft und die grinsenden Fressen von beiden tauchen auf. Paolos Fresse über Koljas mit breitem Froschgrinsen.

Ohne mein Zutun ziehen sich auch meine Mundwinkel in Richtung Ohrläppchen.

Bei dem Gewehr, das hat die ballistische Untersuchung laut Hultmann bestätigt, handelt es sich um dieselbe Waffe, mit der Sandra erschossen worden ist. Keine Fingerabdrücke, erzählt er bereitwillig weiter. »Hat er Handschuhe getragen?«

Ich antworte nicht, schüttle nur den Kopf. Hab ich mich etwa hingestellt und kühl in den Lauf seines Gewehrs geblickt, um nachzusehen, ob er Handschuhe anhat oder nicht? Ich bin definitiv nicht lebensmüde, das weiß ich jetzt ganz sicher von mir. Ich halte an meinem Leben fest. Ich will leben! Und nicht nur das: Ich will ein besseres und ganz anderes Leben leben als das Hundeleben, das ich in- und auswendig kenne.

Eetu Mieto, der Mann mit den Fischaugen, der niemals blinzelt, Mieto, der penetrant starrende Kommissar der Mordkommission Lappland, redet irgendetwas in seiner finnischen oder karelischen Geheimsprache daher.

Hultmann übersetzt: »Finnische und russische Grenz-Suchtrupps haben mit Echolot das Schneemobil und den Vermissten geortet. Das Schneemobil hängt fest, aber der Körper entfernt sich unterm Eis immer weiter von der Grenze. Die Identifizierung erfolgt, wenn die Strömung einen Tauchgang unterm Eis erlaubt und wir ihn rausholen können.«

Das klingt zuversichtlich. »Erfahren wir dann, wer es ist?«

»Im eigenen Interesse. Wir setzen darauf, dass wir von euch etwas über die Motivation des Täters erfahren«, sagt Hultmann.

Das hoffe ich auch. Aber wie?

Paolo, Kolja und ich verfolgen unser  – nunmehr  – gemeinsames Ziel mit Nachdruck. Wir laden Beck nach dem von Misstrauen geprägten Informationsaustausch oder Verhör oder Gespräch auf dem Kommissariat in Ivalo ins Restaurant des Hotelli Inari in Inari ein. Das liegt am westlichen Ufer des Inarijärvi, knappe vierzig Kilometer weiter in nördlicher Richtung. Nach der schönen Fahrt durch die gleißende Schneelandschaft verspeisen wir einträchtig Inarisee-Maränen mit Blick auf die endlose, vereiste Fläche des Inarisees.

»Ich bin jetzt wieder ruhiger«, sag ich beiläufig und pule die Gräten aus meinem Fisch.

»Kann sein, dass du das so empfindest«, sagt Paolo und schnappt mir meinen Teller weg. »Mich macht es unruhig, was du mit dem Fisch anstellst.« Er zerlegt ihn fachmännisch. »So, da sind keine Gräten mehr drin. Du brauchst den edlen Fisch also nicht mehr zu zermusen.«

»Papa-Paolo«, kiekst Kolja und schiebt ihm seinen Teller zu. »Kannstu bei mir auch?«

Ja, Paolo führt uns in die Anatomie der Fische ein und erklärt dazu geduldig ein paar Benimmregeln bei Tisch.

»Danke, Spießer-Papa-Paolo«, säuselt Kolja.

Beck lacht sich schlapp über die Verbindung von Paolo und Spießer. Er hat seinen Spaß mit uns und keine Ahnung, dass er in die Vorführung des Theaterstücks »Drei herzige Kinderchen suchen ein Zuhause« geraten ist. Unser Werbefeldzug für uns selbst läuft auf Hochtouren. Am Ende wird er uns bei sich aufnehmen, da bin ich mittlerweile ziemlich sicher, doch ansprechen will ich es noch nicht.

»Wir wollen zu dir, wenn das Camp vorbei ist«, sagt Kolja. »Wir alle drei.«

Was labert der Idiot? Ich fass es nicht! Jetzt glotzt er Beck auch noch an wie ein bettelnder Hund! Ein Blick auf Paolo, und es ist klar, er ist genauso überrumpelt wie ich.

»Ah, daher weht der Wind.« Beck ist enttäuscht, das ist ihm anzusehen. »Nee, mein Lieber. Kann sein, dass ich dir hartherzig vorkomme, aber für eine Einladung zum Fischessen ändere ich mein Leben nicht.«

»Entschuldigt uns, ich muss Kolja mal zeigen, was Schnee ist.« Ich zerr den Depp am Arm vor die Tür. »Das war taktisch unklug bis saublöd. Nächstes Mal sprichst du so einen Vorstoß mit Paolo und mir ab. Okay?«

Kolja bibbert, nickt, und wir gehen wieder rein ins Warme.

»Tilly hat gesagt, wir werden dich so lange und beharrlich mit unseren hart erworbenen Schlüsselqualifikationen bearbeiten, bis dein Widerstand dahinschmilzt«, sagt Kolja zu Beck, grinst, und vertilgt eine Röstkartoffel.

Kolja ist der Arsch von einem Spieler, der vor dem Spiel die Karten offen auf den Tisch legt.

»Eure Schlüsselqualifikationen wollt ihr zum Einsatz bringen, soso.« Beck klingt ansatzweise versöhnt. »Vorher schmelzen die Polarkappen, das ist euch klar?«

Paolo vergisst seine guten Manieren: »Ingt, afätten Bier ne Fette am faufn?«

»Hä? Bier saufen?« Spinnen jetzt alle?

Kau. Würg. Schluck. Paolo wieder: »Klingt, als hätten wir ’ne Wette am Laufen.«

Vor dem Fenster färben grüne Polarlichtschleier den Inarisee ein. Ich nehme es als gutes Zeichen, blinzle meine Tränen weg und studiere intensiv das abstrakte Muster aus Fischbratfett und Moltebeerensoße auf meinem Teller.

Die Polarlichter vergehen.

Die Nacht geht vorüber. Die Tage, die folgen, vergehen von Mal zu Mal schneller. Es kommt eine neue Nacht, ein paar Minuten länger, gefolgt von einem Tag, der noch schneller vergeht. Und so weiter. Paolo, Kolja und ich hängen fast immer zusammen. Die Arbeit geht mir in einer Art bewusstlosem Zustand absolut hirnlos von der Hand, also rein körperlich. Denken ist nicht nötig, bloß ackern ist gefragt. Deshalb hab ich viel Energie dafür, mit GROSSER Ungeduld im Camp auf neue Erkenntnisse aus dem Kommissariat zu warten. Und ich warte auf eine Entscheidung von Beck und laufe hinter oder vor Riski her, um mich abzulenken, wann immer es möglich ist.

Alle laufen jetzt.

»Das ist doch Scheiße, wenn nur Tilly Wintersport machen darf! Tilly und ihre Nachmacher, Paolo und Kolja.« Vorgestern hat Jana mit dieser Bemerkung einen Wintersport-Boom ausgelöst.

»Wer von euch will denn auch Wintersport machen?«, hat Riski nachgehakt. Das war beim Frühstück.

Alle Zeigefinger flitzten hoch.

»Und was genau?«

Mit Schneemobilen und Snowboards rumkurven, favorisieren die meisten. Vanessa und Jana wollen auch Langlaufen, so wie ich. Nur Cem, der mit Abstand schwerste Kerl des Camps, will Skispringen. Also leuchten wir jetzt abends mit dem Baustellenlicht den Hang hinterm Camp aus, legen mit den Schneemobilen im Neuschnee eine Piste an und mit der Schaufel eine Schanze und rutschen mit Skiern, Plastikfolien und allem, was geht, auch auf der Schaufel selbst, den Hang hinunter. Das einzige Snowboard geht reihum. Spaß haben wir alle.

Bloß Mieto und Hultmann lassen sich nicht blicken. Der einzige Bote aus der zivilisierten Welt ist ein Lkw, der Eisblöcke anliefert. Skulpturen und Mobiliar sollen daraus gearbeitet werden. Keiner will es zugeben, aber wir sind nicht nur extrem stolz auf die fast fertigen »Gebäude«, Jugendherberge und Disko, die schon jetzt jede Menge hermachen, sondern haben mittlerweile auch Spaß an unserem Arbeitsmaterial gewonnen. Auch wenn die Eisblöcke, die wir künstlerisch verarbeiten sollen, weniger geschmeidig sind als unser zukünftiger, bitte englisch aussprechen, Personal-Pädagoge. Der lässt sich leichter bearbeiten als meine Schnee-Eule. Entgegen meiner künstlerischen Absicht verwandelt die sich unter meiner Hand und der Flamme des Bunsenbrenners in einen verkrüppelten Pinguin.

Gerade will ich Hammer und Meißel in die Ecke pfeffern, als Beck sagt: »Also gut. Es geht klar. Ihr könnt zu mir.«

Um den Hals fallen ist nicht drin, aber ich krächze heiser: »Vielen Dank, Chef.«

Paolo und Kolja sind nicht so zimperlich. Sie kriegen markiges Schulterklopfen und Knuffen in der Art von Mannschaftssportlern hin und drücken ihre Freude mit halben Männerumarmungen aus.

»Es ist amtlich, bleibt aber besser vorerst unter uns.«

»Klar. Ab wann?«

»Ab dem zwanzigsten Dezember?«, schlägt Beck vor. »Dann könnt ihr euer Zeug abholen und eure Zimmer einrichten. Anschließend feiern wir zusammen Weihnachten.«

Kling, Glöckchen, klingelingeling. Wir stehen im Diskoiglu, nur wir vier, aber ich schwör, eben ist ein Engel vorbeigeschwebt. Sandra? Bilde mir ein, meine Schnee-Eule lächelt und zwinkert mir zu.

Au Mann, ich muss raus!!!

»Nicht weinen, Tilly«, hör ich Paolo noch sagen.

Der Schnee knirscht. Ich muss endlos gehen, bis mich niemand mehr sehen kann. Dann lasse ich mich einfach auf den Rücken fallen. Ich bebe, schreie, presse mir die Handschuhe auf den Mund. »Sandra, hörst du mich? … Danke, Sandra. Danke!« Meine gespreizten Arme und Beine bewegen sich automatisch auf und ab und formen einen Weihnachtsengel in den lockeren Schnee. Stopp! Ist meine Engelsfigur voll Blut? Ich springe auf. Nein, kein Blut im Schnee. »Danke! Ich danke dir Sandra! Hörst du mich? Sandra!« Wie kann das gehen? Ein irrer Schmerz und Glück zerreißen mir gleichzeitig das Herz.

Im Zentrum des Camps vor dem Küchencontainer sehe ich, als ich zurückkomme, die unbewegten Visagen von Hultmann und Mieto, dessen Augen allerdings nicht unbewegt sind. Sie bohren sich geradezu in mich hinein.

»Wir haben Sandras Mörder zehn Kilometer von der finnischen Grenze entfernt aus dem Eis geschnitten«, sagt Hultmann. »Das heißt, gesägt.«

Vielleicht, weil ich nicht reagieren kann, sagt er: »Und?«

Da würge ich und kotz ihm direkt vor die Füße in den Schnee.

»Und was?«, fragt Beck wütend. »Soll Tilly nachfragen, warum ihr ihn nicht geföhnt und aufgetaut habt? Oder was meinen Sie mit diesem und

Mieto schüttelt den Kopf. Nicht klar ist, wen er damit rügen will: mich, Beck oder Hultmann.

Ich wische mir das Gesicht mit Schnee ab.

»Wir haben ihn anhand seines Personalausweises identifiziert. Der war im Rucksack. Sein Name war Ingo Feist«, sagt Hultmann, als sei nichts vorgefallen.

Ingo Feist. Sagt mir nichts. Kolja hält mir ein Glas hin. Ich spüle mir den Mund aus und zucke mit den Achseln.

»Er ist 37 und kommt aus Frankfurt.«

»Sandra auch«, sagt Kolja leise.

Nicht nur Sandra – Cem, Nils und Ben ebenfalls. Paolo und Sam stammen aus dem Ruhrpott, Lars aus Freiburg und Kolja, Jana und Vanessa aus Jena und Umgebung. Ich aus Berlin. Besser gesagt, das Heim, in dem ich vor dem Camp lebte, ist in Berlin.

»Zusammenhang oder Zufall, alles ist möglich«, sagt Hultmann. »Ist der Name Ingo Feist mal im Gespräch gefallen?«

Niemand weiß was. Mieto/Hultmann fragen alle im Camp und zeigen eine Kopie des Passbildes herum. Niemand hat ihn gesehen oder kennt ihn oder hat von ihm gehört. Doch alle sind von der Übereinstimmung Frankfurt irritiert.

IIII IIII   IIII  IIII IIII  IIII IIII IIII III

Seit Sandras Tod kratze ich Striche ins Eis der Lokustrennwand. Am Tag, als das Bergfest nicht stattfand, am schrecklichen Tag Nr. 49 im Containercamp, habe ich damit angefangen. I

IIII   IIII   IIII   III Tage liegen noch vor mir. In achtzehn Tagen ist Eröffnung, und bis dahin müssen noch zwei wichtige Sachen erledigt werden. Beide kann ich nicht machen, also müssen meine »Brüder« ran.

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, frag ich Paolo.

»Sicher, wenn ich ’ne reelle Überlebenschance hab.«

»Im Aurora Linna Icehotel liegt das Gästebuch der letzten Saison. Ungefähr am Ende des ersten Drittels ist ein Eintrag mit violetter Tinte, sehr schwungvoll über beide Seiten. Kannst du den möglichst genau so abpinseln?«

»Wieso?«

»Weil ich die Obergestörte bin. Ich bin aus den Latschen gekippt, als ich den Eintrag gesehen habe, und konnte ihn nicht mehr entziffern. Er ist auf Englisch«, sag ich schroffer, als ich will.

»Dich hat’s umgeschmissen, weil du kein Englisch lesen kannst?«

»Nein, es hat mich an etwas erinnert.«

»Muss ja eine schöne Erinnerung gewesen sein.«

Ich hätte die Schnauze halten sollen. »Vergiss es.«

»Was ist gegen Abfotografieren einzuwenden?«

»Du hast doch keine Kamera?«

»Nee, aber ’n Handy.«

Das muss ich erst mal verdauen. Das vereinfacht alles. »Gut. Kannst du rauskriegen, ob diese Nummer«, ich halte ihm den Zettel hin, »Ingo Feist gehört hat?«

Mithilfe seiner Finger kommt Paolo auf »Zwei! Das sind zwei Gefallen, Tilly. Eins  – Gästebuch, zwei  – die Nummer.« Paolo kann einem auf die Nerven gehen. »Zwei Gefallen, das bedeutet, du übernimmst zweimal meinen gesamten Küchendienst.«

»Okay.«

»Wie bist du an die Nummer gekommen? Wo hast du die her?«, fragt Kolja.

Ich sag nur: »Müsst ihr neuerdings immer alles zweimal sagen? Das nervt.« Da er seine Beschaffungsquellen nie preisgibt, kriegt er auch von mir keine Antwort. »Man darf dich nicht zurückverfolgen können.« Das geht an Paolo.

Er, empört: »Bin ich blöd oder was? Feist ist ein Mörder und eine Wasserleiche. Den ruf ich nicht an! Außerdem hat sein Handy ’n Wasserschaden, du Obergestörte.«

Paolo hat das neueste Smartphone von Nokia. Will nicht wissen, wo oder wem er es geklaut hat.

Keine Stunde braucht er, um herauszufinden, dass hinter der Nummer eine gewisse Firma namens GDS steckt. Gesamtdeutsche Security. Ingo Feist wird auf der GDS-Webseite im Zusammenhang mit der Firma nicht erwähnt.

Klingt finster, Gesamtdeutsche Security. Ich bin mir sicher, ich hab noch nie was von denen gehört.

»Die Firma hat ihren Sitz in Berlin und Frankfurt.«

Ich krieg weiche Knie. Keine Ahnung, wieso.

»Läutet da was bei dir?«, will Paolo wissen.

»Nein, nur bei Berlin und Frankfurt läutet es, sonst läutet gar nichts.«

»Warum wirst du dann so käsig?«

»Keinen blassen Schimmer, ehrlich. Wo denn in Berlin?«

»Kirchstraße, in der Nähe vom Innenministerium. Sagt dir das was?«

Ich schüttle den Kopf. »Was für Sachen bewachen die?«

»Geldtransporte, Industriegelände, Gewerbegebäude und private Häuser der nobleren Art, Personen, einfach alles.«

Überhaupt kein Gefühl von Sicherheit weckt die Gesamtdeutsche Security bei mir. GDS, den Namen werde ich nie mehr vergessen. Vielleicht sollte ich sie anheuern, um mich selbst vor ihnen zu beschützen? Wieso wollen die mich umbringen? Oder meine Mutter fragen, wo ich bin? Und nachhaken, ob sie weiß, dass ich tot bin? Kein Mensch außer Ingo Feist kann das angenommen haben. Im Camp und bei der Polizei war bekannt, dass ich lebe. Wieso will die Gesamtdeutsche Security meinen Tod? Und wenn Ingo Feist gescheitert ist, schicken die dann einen Anderen? Was hab ich denen denn getan? Oder umgekehrt: Was haben die davon, wenn es mich nicht mehr gibt? Panik! Hilfe, ich fall in ein Loch ohne Boden. Wie wäre es, wenn es mich nicht gäbe?

»Tilly! Tilly? Hallo?« Kolja nervt.

»Was is? Mann, lass mich in Ruhe! Ich muss hier raus«, rufe ich und stiefle davon.

»Was hat die denn?«, hör ich Kolja fragen.

»Sie ist die Obergestörte. Vergessen?« Und dann brüllt Paolo mir hinterher. »Mach deinen Scheiß allein!«

Er spricht den ganzen Tag nicht mehr mit mir. Das tut weh, aber ich zeig es nicht.

»Was hat denn das Kleeblatt?«, stichelt Vanessa beim Abendessen. »Stress?«

»Nein, drei Blätter.«

Einfach kaputt ist die, nonstop scharf auf Streit. Da blüht sie auf. Ihr blödes Gekicher provoziert Paolo, und er baut sich in voller Länge vor Vanessa auf.

»Was? Willst du etwa ein Mädchen schlagen?«, keift sie.

Lars bringt sich in Position und Cem rutscht startbereit für eine Schlägerei auf seinem Stuhl herum.

»Stop it!« Riski packt Vanessa am Arm und zerrt sie zur Tür. »Du kannst mitessen, wenn du dich bei uns allen dafür entschuldigst, dass du uns mal wieder die Stimmung versaut hast.« Da von ihr nichts kommt, zieht er mit Nachdruck die Tür hinter ihr zu.

Ein paar Minuten später schiebt Jana mit vier Portionen auf einem Teller ab, Vanessa nach. Ich warte darauf, dass sich die Reihe der Einsilbigen lichtet, doch die bleiben, und die Lage entspannt sich.

Beim nächtlichen Wintersport gesellen sich die Beleidigten aus Container  6 wieder dazu. Die kommen, ich gehe. Innerlich habe ich die Zelte eh schon abgebrochen. Nur noch siebzehnmal schlafen, das schaff ich auch noch.

Paolos langer Arm beendet meinen Abgang. Er zieht mich ins Disko-Iglu, packt mich unter den Achseln und stellt mich auf einem Eisblock ab. Aug in Aug versetzt mich sein Blick in Aufruhr. Er legt seine Hände um mein Gesicht und küsst mich. EIN HAMMERKUSS!

Trocken, weich und zärtlich, mit dem exakten Maß an Dringlichkeit und Schmacht, der mich ad hoc in sexuelle Erregung versetzt. Ich dränge mich an ihn, rutsch auf dem Eis aus und krall mich an seinem Overall fest.

»Dass das klar ist: Ich bin nicht dein Bruder«, sagt er und lässt mich wieder auf den Boden rutschen. »Also behandle mich nicht, als wär ich ein Krah. Kapiert?«

Ich bin sprachlos und zittrig, hab aber verstanden, was er damit sagen wollte.

In der Nacht kann ich an Schlaf nicht mal denken! Meine Fantasie, was ich gern mit Paolo, der nicht mein Bruder ist, machen würde, geht mit mir durch. Ich kann ihn hinter den blöden Spinden atmen hören. Meine Sehnsucht nach ihm bringt mich um den Verstand und macht mich so fertig, dass ich nur deshalb irgendwann doch noch einschlafe.

Am nächsten Morgen kümmern sich Paolo und Kolja um den Gästebucheintrag. Zu zweit bearbeiten sie Tonberg.

Paolo: »Ich muss noch mal dringend ins Aurora Linna Icehotel

»Wozu?«, will er wissen.

»Für eine letzte Anregung. Hinten im Schlafsaal fehlt noch was. Mehr Licht oder ’ne Skulptur, ein künstlerisches Element.«

»Keine Zeit. An die Arbeit«, sagt Tonberg.

Kolja will den japanischen Bildhauer auch was fragen. »Nur kurz, bitte.«

»Ich kann euch nicht fahren. Also, geht bitte an eure Arbeit.« Der Ton, schon leicht ungeduldig.

Paolo: »Aber wir können doch selber mit dem Schneemobil fahren?«

»Und wenn ihr mit Santa Claus’ Rentierschlitten mitfahren dürftet. Nein! Es gibt hier auch so noch genug zu tun.«

Auch in der folgenden Woche kommen wir nicht an das Gästebuch ran. Unsre egal wie kreativen Argumente für einen Eishotelbesuch werden abgeschmettert. Und so feilen wir eben fleißig an der eisigen Deko und vergnügen uns mit Wintersport.

Die sogenannten Tage kommen aus ihrem Dämmerzustand nicht mehr heraus. Auch ich fühle mich heruntergedimmt. Oder bin ich echt ruhiger geworden? Vielleicht. Zumindest, wenn ich nicht an Paolo denke.

Wir streiten alle nicht mehr so viel.

»Eigentlich schön, die Stille«, sagt Vanessa.

»Das glaub ich nicht! Du steckst ja voller Poesie«, sag ich baff.

»Tja, nicht nur du bist sensibel. Wir auch! Wir haben alle eine Seele, Schlampe!«, kontert sie erbost.

Paolo wirft sich vor Cem in den Schnee. »Cem, Digger, weißt du, ich muss es dir sagen, bevor unsre Zeit vorbei ist und wir wieder auseinandergerissen werden. Du hast ’ne echt schöne und empfindsame Seele.«

»Alter. Das siehst du richtig.«

Als Paolo mich ansieht, wird sein Blick auf einen Schlag ernst und sehr dunkel. Er liegt auf dem Rücken im Schnee und winkt mich mit einer kleinen Bewegung der rechten Hand zu sich. Mehrere Herzschläge setzen bei mir aus. Ich eiere zu ihm hin.

»Ich will deiner Seele was sagen«, murmelt er. »Treffen wir uns heute Nacht um eins in der Kantine?«

»Will sie hören, was du ihr sagen wirst?«, frag ich zurück. Ich bin vorsichtig geworden, was ihn anbelangt.

»Oh ja«, sagt Paolo.

Und ich glaube ihm.

Er taucht nach dem Abendbrot und dem Rumblödeln im Schnee nicht in unserer Einraumwohnung aus Blech auf. Ich dusche derweil lang und gründlich, rasier mir die Achsel- und Beinbehaarung mit Paolos Rasierer weg und jage mir Koljas Allure-Homme-Sport-Deo von Chanel unter die Arme. Es brennt. Ich auch, vor Ungeduld. Es ist erst zehn. Kolja schläft schon. Um elf hat mich bereits jede Sekunde so durch die Mangel gedreht, dass von mir nichts mehr da ist. Ich bin ein Häufchen Mehl. Mehl denkt nicht. Mehl ist gut, man sieht es nicht im Schnee. Ich schleiche rüber zur Kantine und drücke mit angehaltenem Atem die Klinke runter. Die Tür ist nicht abgeschlossen. Ich verriegle sie hinter mir.

»Endlich. Ich warte schon eine Ewigkeit«, flüstert Paolo.

Ich suche in der Dunkelheit nach ihm. Vorm Heizkörper ist ein Lager auf dem Boden. Da taste ich mich hin.

»Komm unter die Decke«, sagt er mit rauer Stimme.

Eine schöne Überraschung: Er ist nackt. Das erleichtert einiges. Und seine nackte Haut ist eine Sensation, stelle ich bibbernd fest. Sie glüht, ist magisch glatt und duftet. Mir wird heiß, und vier Sekunden später bin ich auch meine blöden Klamotten los. Wir küssen weiter, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben.

Bitte, jetzt kein Seelengespräch, ist mein letzter Gedanke. Meine Lippen erkunden ihn, seine mich. Unsere Körper lassen sich bei ihrer Unterhaltung miteinander nicht mehr unterbrechen. Ich spür seine langen Finger überall und kann nichts machen, ein Schauer nach dem andern durchwandert meinen Körper. Ich bin gespannt wie eine Feder und am Durchdrehen. Er nimmt sich alle Zeit der Welt. Irre! Er drückt nicht meinen Kopf runter, dass ich ihm einen blase, wie die meisten Jungs nach zwei Minuten, was ich verabscheue. Paolo drückt nur da, wo es mich um den Verstand bringt. Kein An-den-Haaren-Ziehen, kein Kneifen, null Akrobatik, nur geil.

Könnte schreien. Stellt alles in den Schatten, was ich bis jetzt erlebt habe. Ich flippe aus, vergehe, schmelze dahin wie Eis unterm Bunsenbrenner.

Restlos.

Stemme die Beine nach oben und schleudre die kratzige Wolldecke weg. Wir dampfen still und zitternd vor uns hin.

»Hast du Kondome?«, flüstere ich.

»Wofür?«

Wir lachen lautlos. Er flüstert mir direkt ins Ohr. Es kitzelt, ich versteh ihn kaum. »Als wir angekommen sind, stand in unsrem Container eine Packung Präser, Stückzahl einhundert.«

»Was?« Krank! Abtörnend. »Im Container 2 auch?«

Er nickt.

»Ist ja das Allerletzte«, flüstere ich empört. »Bei uns nicht!«

»Mein Anteil von vierunddreißig Stück ist noch komplett.«

Das besänftigt mich. »Lass uns welche zum Einsatz bringen. Die Polarnacht ist noch jung«, schlag ich vor.

Wir machen ewig miteinander rum. Als mein Hals so trocken ist, dass ich nur noch krächzen kann, klauen wir einen Liter Milch aus dem Kühlschrank und trinken ihn gierig leer.

Um fünf liegen wir in unsren Betten. Und beim Frühstück, als Beck sagt, »die Milch wird knapp«, blinzeln wir uns einmal unauffällig mit geröteten Augen an. Vom Aurora Linna Icehotel werden Polarschlafsäcke geliefert. Die Abordnung besichtigt die eisigen Schlafräume und die Disko und wirkt sehr zufrieden. Wir alle rufen aufgekratzt durcheinander. Obwohl ich mich noch nicht ansatzweise bei wachem Verstand fühle, packt auch mich die totale Aufregung. Es ist ein besonderer Tag.

IIII IIII   IIII  IIII IIII IIII  IIII   IIII III

Heute Nacht werden wir in der Disko das Abschiedsfest feiern und anschließend alle zusammen in unserer Jugendherberge aus Eis übernachten. Stolze Eisbaumeister sind wir und rechtzeitig fertig geworden.

Ich suche Paolos Blick, aber er sieht nicht zu mir her. Ich hab keine Ahnung, ob er auch bedauert, dass wir keine Chance auf eine weitere Kantinenübernachtung haben. Morgen packen wir unser Zeug zusammen und übergeben alles andere an die Leitung des Eishotels. Der Küchencontainer und Becks Container bleiben auf dem Gelände, alle anderen werden abgeholt. Dann kommen die Gäste. Die zahlenden Gäste. Da kann man schon den Blues kriegen.

Ich schleiche um Paolo rum, suche nach einer Gelegenheit, dass wir uns wenigstens zum Knutschen verdrücken können, aber er verhindert es, indem er mir aus dem Weg geht. Das macht mich ein bisschen ratlos. Wenn ich ehrlich bin, irritiert es mich wahnsinnig. Ich kapier das nicht. Bereut er, dass wir uns so nahgekommen sind?

Ich halte mich an Kolja. Für die anderen verläuft das Fest einträchtig und friedlich. Wir stehen da, hauchen erst mal nur so rum und glotzen unsrem Atem nach. Unsre Betreuer reichen Beerenpunsch mit Alkoholgehalt im homöopathischen Bereich. Paolo legt auf und heizt ein, bis wir alle, trotz massiver Behinderung durch unsre Polarklamotten, rumzappeln wir die Doofen. Mit Ausnahme von Akne-Sam, der uns mit tänzerischer Anmut verzaubert. Wehmut wabert mit unserem Atemhauch durch den Raum. Abschiedsschmerz und Rührung reizen die Augen, wir sehen uns kaum noch an, geschweige denn in die Augen. Ich lass mir von Riski finnisches Tangogehen beibringen, der mit Abstand schrägste Paartanz, um Leidenschaft auszudrücken. Die spinnen, die Finnen. Total.

Paolo sieht mich nicht an.

Um elf reißen wir die Mäuler bis zum Anschlag auf. Der Atem lässt die Gesichter im Nebel verschwinden. Gespenstisch. Mir ist schwindelig vor Müdigkeit, aber ich will mich nicht in meinem Polarsack auf den Eisblock legen. Sobald alles still ist, denke ich an Sandra, spüre ihre Gegenwart. Dann denke ich, dass sie für mich geopfert worden ist, und schäme mich. Ich schäme mich vorm Schnee, vor der Nacht, vor allem. Auch vor Paolo, er verunsichert mich total. Sandra fehlt mir. Sie fehlt mir so brutal, dass ich mich nicht einmal hinsetzen kann. Ich muss in Bewegung bleiben. Kolja geht’s genauso. Ja nicht in seine Richtung gucken und erst recht nicht zu Paolo. Besser, ich geh raus, eine Runde Frischluft ohne Nordlicht schnuppern.

Nur schwarze Nacht, bedeckter Himmel, keine Sterne.

»Komm rein.« Riski will tanzen. »Noch ’n Tango!«

Paolo ist weiter weg von mir als der Polarstern.

Gepackt. Fünf Minuten reichen, um meinen Kram im Rucksack zu versenken. Jetzt noch die Panikbücher, mittlerweile fünf an der Zahl, und die Turnschuhe oben drauf …

»Was hast ’n da?«

Kolja langt über meine Schulter und grapscht nach dem obersten Tagebuch.

»Raus! Klopf gefälligst am Spind, bevor du mir über die Schulter glotzt, du Arsch!« Mit voller Wucht hole ich aus und pfeffre Kolja meinen Turnschuh gegen die Brust. Er stolpert rückwärts und ich stopfe schnell die Schuhe in den Rucksack. Mein Puls rast.

»Du bist total durchgeknallt!«, schreit Kolja. Er ist schockiert.

»Ihr habt sie beide nicht alle! Könnt ihr euren Scheiß nicht in Ruhe packen?«, mischt sich Paolo ein. Und zu mir: »Schmeiß nicht mit Sachen, Obergestörte. Klar?«

Seine Stimme klingt fremd, kühl, distanziert, als würde er mich nicht kennen.

Räuspern an der Tür. Soz. Päd. Beck: »Wollt ihr immer noch zu dritt zu mir ziehen?«

Zweimal ein überzeugtes »Ja!!«

Ich weiß nicht. Ich bin durcheinander.

»Freut mich. Ich soll von Riski ausrichten, dass er noch einen Trainingslauf mit Tilly machen will.«

»Bin fertig!«, ruf ich aus meinem Kabuff. »Warte!« Ich zerre den Rucksack am Riemen zur Tür. Die Langlaufsachen hab ich an. »Kannst du den mitnehmen?«

»Ach, du bist schon fertig. Sehr gut, Riski wartet auf dich.«

Ich renne zum Skiplatz. Nach dem Essen holt uns der Bus ab. Am Nachmittag fliegen wir von Ivalo nach Helsinki, übernachten da, und morgen geht’s dann »heim« ins Heim für vier Tage. Dort hol ich den Rest meiner übersichtlichen Habe ab, und dann ziehe ich mit Paolo und Kolja zu Beck. Ich überleg, was ich ihnen zu Weihnachten schenken könnte. Vielleicht einen Hund, mit dem ich laufen gehen kann? Das wäre ein super Geschenk.

Ich atme tief und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Riski hat ein unheimliches Tempo drauf. Er läuft, als wär der Teufel hinter ihm her. Dabei bin’s bloß ich.

Mit Bedacht hat er eine Strecke ausgewählt, die sowohl von Sandras Schneegrab als auch vom Fluss weit entfernt ist. Alles schimmert blau. Mein Herz schlägt schnell und stark. Ich überhole ihn.

»Tilly!« Riski stemmt die Hände auf die Oberschenkel und lässt die Skier auslaufen. Und dann lädt er mich ein. »Du kannst kommen, wann immer du willst, und mit mir trainieren. Du bist immer willkommen.«

Ich lächle. »Mach ich. Danke für alles.«

Er lacht. »Ich hab zu danken, Tilly.« Riski deutet mit dem Kopf über den Fluss. »Sogar die Russen würden gerne mit dir trainieren.«

»Hä?«

»Ernsthaft. Du hast keine Ahnung, wie gut du bist.«

Wir drehen um und laufen zum Camp zurück.

»Stopp!« Kolja stürzt im Bus nach vorne. »Ich muss kurz raus.«

Der Busfahrer vermutet einen Anfall von Übelkeit, fährt rechts ran und öffnet die Tür.

Kolja flitzt wie ein Schneehase über den Parkplatz und verschwindet in dem angestrahlten Aurora Linna Icehotel. Von meiner Gestörtengruppe regt sich darüber keiner auf. Wir sind emotional mit Abschiednehmen beschäftigt.

Aber die Betreuer machen einen Aufstand.

Tonberg tobt: »Wir fahren weiter! Was soll das denn jetzt?«

Paolo wühlt sich nach vorne und flüstert Beck was ins Ohr. Beck flüstert Tonberg was ins Ohr. Stille Post. Die Proteste verstummen.

Wir fotografieren derweil mit den wieder ausgehändigten Handys das angestrahlte Hotel. »Unser Eispalast sieht besser aus«, so unser einhelliges und objektives Urteil.

»Was hast du Beck gesagt?«, frag ich Paolo, als er sich hinter mir in den Sitz fallen lässt.

Er antwortet mir sogar.

»Dass die neu entwickelten Schlüsselqualifikationen bei Kolja einen Ehrlichkeitsschub ausgelöst hätten und er unbedingt ein im Hotel geklautes Handy zurückgeben muss.«

Da kommt er auch schon zurück, passiert die kopfschüttelnden Sozialpädagogen und schiebt sich zu uns nach hinten durch den Gang.

»Hab’s im Kasten. Jetzt kann’s heimgehen.«

Ich bin froh. Kolja hat doch noch den Eintrag im Gästebuch abfotografiert, der mich aus den Latschen gehauen hat. Später werde ich ihn mir genau ansehen, ausdrucken und in mein Panik-am-Polarkreis-Buch einkleben. Vielleicht krieg ich doch noch heraus, warum er mich so in Panik versetzt hat.

Riski kommt zu uns. »Ich steig in Ivalo aus. Fällt mir nicht leicht, mich von euch zu verabschieden.« Er sieht mich an. »Komm mich besuchen, Tilly, jederzeit. Vergiss das nicht und pass auf dich auf.«

Ich umarme ihn und sage: »Dieses Jahr lauf ich dir nicht mehr nach, Riski. Und obwohl das für mich echt hart ist, freue ich mich trotzdem zum ersten Mal in meinem Leben aufs neue Jahr.«

Er drückt mich, bis meine Rippen krachen, dreht sich abrupt um und stapft wieder nach vorn.

Ich habe gute Vorsätze. Im neuen Jahr werde ich herausfinden, wer ich bin.